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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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aus verändert worden ist/' nicht durch die Lehren von der Erhaltung der
Kraft, von der Spektralanalyse, von der Grundverwaudtschaft der chemischen
Elemente, nicht von der Theorie, sondern von der Technik, der ungeahnten
technischen Vervollkommnung einzelner Zweige der Naturwissenschaft herbei¬
geführt worden sind. Schon hieran könnte die Betrachtung gereiht werden, daß
sich die Litteratur die Wiedergabe dieser veränderten äußern Physiognomie des
zivilisirten Lebens keineswegs hat entgehen lassen, am Ende aber doch gefühlt
hat, daß sie damit für die Darstellung der Menschennatur lind die Ergründung
der Menschenseele wenig genug gewonnen hat. Wichtiger aber ist, was Schiff
gegen das mechanische Weitertragen von Schlagwörtern und Gemeinplätzen, die
den ^Naturwissenschaften entstammen, erinnert. "Ich halte es für bedauerlich,
wenn Begriffe wie der der Vererbung, der natürlichen Zuchtwahl und An¬
passung, von modernen Schriftstellern zum Gegenstande litterarischer Behandlung,
unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Äußerlichkeiten, genommen werden. Dem
einzelnen litterarischen Werke soll dadurch ein modernes Gepräge aufgedrückt
werden; aber die Autoren, welche mit derlei Entlehnungen zu wirke" hoffen,
bedenken nicht, daß sie in den Augen des Unterrichteten, der weiß, daß es sich,
wie z. B. bei der Vererbungsfrage, um eine wissenschaftliche Tngesstrvmuug
handelt, deren Berechtigung gerade von den neuesten Forschnuge" wieder in
Frage gestellt wird, sich nur bloßstellen, während sie den Unkundigen lediglich
ein falsches Bild geben. Ein andrer Zug dieser Art ist die Behandlung soge¬
nannter Grenzgebiete zwischen dem normalen und dem krankhaften Seelenleben.
Es wirkt meines Erachtens nur verwirrend und im Sinne einer äußerlichen
Kunstpflege, wenn die dem Dichterauge sich erschließenden dunkeln Tiefen des
menschlichen Gemütes mit einem falschen und nur scheinbar von der Wissen¬
schaft der körperlichen Thatsachen erborgten: Lichte beleuchtet werden." Der Ver¬
sasser empfindet, was denkende und in der Kunst die künstlerische Wahrheit
suchende Menschen längst empfunden haben, daß drei Viertel der naturwissen¬
schaftlichen Phrasen in der jüngsten Litteratur Aufputz, angeklebtes Ornament
sind, daß ihr Zweck nicht Vertiefung in ungekannte oder dunkle Seite" des
Lebens, sondern roher oder raffinirter litterarischer Effekt ist, und so darf er
denn auch schlicht daran erinnern, daß Shakespeare und Cervantes "keine
Naturforscher und doch große Seelenkenner und Seelenmaler" waren."

Wenn die Aufnahme des oben erwähnten Artikels in die "Freie Bühne
nicht ein zufälliges Zugeständnis ist, dürften wir ja der frohen Hoffnung leben,
daß die Herrschaft der naturwissenschaftlichen Phrase, selbst da, wo man ihr
zur Zeit noch huldigt, bald ihr Ende erreiche" wird. Wenn dies nicht ge¬
schieht, wenn man fortfährt, wie seither, ""erwiesene Hypothesen als Gähruugs-
mittel und als Elemente für neue und unerhörte Effektsitnationen in moderne
Lebensdarstellungen hineinzuwerfen, so wird sich zeigen, daß diese Art streitender
Kunst keine triumphirende werden kann. Denn wenn wirklich eine innere


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aus verändert worden ist/' nicht durch die Lehren von der Erhaltung der
Kraft, von der Spektralanalyse, von der Grundverwaudtschaft der chemischen
Elemente, nicht von der Theorie, sondern von der Technik, der ungeahnten
technischen Vervollkommnung einzelner Zweige der Naturwissenschaft herbei¬
geführt worden sind. Schon hieran könnte die Betrachtung gereiht werden, daß
sich die Litteratur die Wiedergabe dieser veränderten äußern Physiognomie des
zivilisirten Lebens keineswegs hat entgehen lassen, am Ende aber doch gefühlt
hat, daß sie damit für die Darstellung der Menschennatur lind die Ergründung
der Menschenseele wenig genug gewonnen hat. Wichtiger aber ist, was Schiff
gegen das mechanische Weitertragen von Schlagwörtern und Gemeinplätzen, die
den ^Naturwissenschaften entstammen, erinnert. „Ich halte es für bedauerlich,
wenn Begriffe wie der der Vererbung, der natürlichen Zuchtwahl und An¬
passung, von modernen Schriftstellern zum Gegenstande litterarischer Behandlung,
unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Äußerlichkeiten, genommen werden. Dem
einzelnen litterarischen Werke soll dadurch ein modernes Gepräge aufgedrückt
werden; aber die Autoren, welche mit derlei Entlehnungen zu wirke» hoffen,
bedenken nicht, daß sie in den Augen des Unterrichteten, der weiß, daß es sich,
wie z. B. bei der Vererbungsfrage, um eine wissenschaftliche Tngesstrvmuug
handelt, deren Berechtigung gerade von den neuesten Forschnuge» wieder in
Frage gestellt wird, sich nur bloßstellen, während sie den Unkundigen lediglich
ein falsches Bild geben. Ein andrer Zug dieser Art ist die Behandlung soge¬
nannter Grenzgebiete zwischen dem normalen und dem krankhaften Seelenleben.
Es wirkt meines Erachtens nur verwirrend und im Sinne einer äußerlichen
Kunstpflege, wenn die dem Dichterauge sich erschließenden dunkeln Tiefen des
menschlichen Gemütes mit einem falschen und nur scheinbar von der Wissen¬
schaft der körperlichen Thatsachen erborgten: Lichte beleuchtet werden." Der Ver¬
sasser empfindet, was denkende und in der Kunst die künstlerische Wahrheit
suchende Menschen längst empfunden haben, daß drei Viertel der naturwissen¬
schaftlichen Phrasen in der jüngsten Litteratur Aufputz, angeklebtes Ornament
sind, daß ihr Zweck nicht Vertiefung in ungekannte oder dunkle Seite» des
Lebens, sondern roher oder raffinirter litterarischer Effekt ist, und so darf er
denn auch schlicht daran erinnern, daß Shakespeare und Cervantes „keine
Naturforscher und doch große Seelenkenner und Seelenmaler" waren."

Wenn die Aufnahme des oben erwähnten Artikels in die „Freie Bühne
nicht ein zufälliges Zugeständnis ist, dürften wir ja der frohen Hoffnung leben,
daß die Herrschaft der naturwissenschaftlichen Phrase, selbst da, wo man ihr
zur Zeit noch huldigt, bald ihr Ende erreiche» wird. Wenn dies nicht ge¬
schieht, wenn man fortfährt, wie seither, »»erwiesene Hypothesen als Gähruugs-
mittel und als Elemente für neue und unerhörte Effektsitnationen in moderne
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[0538] Xrs mi1it-M5 — ^rs trinmpIiMS? aus verändert worden ist/' nicht durch die Lehren von der Erhaltung der Kraft, von der Spektralanalyse, von der Grundverwaudtschaft der chemischen Elemente, nicht von der Theorie, sondern von der Technik, der ungeahnten technischen Vervollkommnung einzelner Zweige der Naturwissenschaft herbei¬ geführt worden sind. Schon hieran könnte die Betrachtung gereiht werden, daß sich die Litteratur die Wiedergabe dieser veränderten äußern Physiognomie des zivilisirten Lebens keineswegs hat entgehen lassen, am Ende aber doch gefühlt hat, daß sie damit für die Darstellung der Menschennatur lind die Ergründung der Menschenseele wenig genug gewonnen hat. Wichtiger aber ist, was Schiff gegen das mechanische Weitertragen von Schlagwörtern und Gemeinplätzen, die den ^Naturwissenschaften entstammen, erinnert. „Ich halte es für bedauerlich, wenn Begriffe wie der der Vererbung, der natürlichen Zuchtwahl und An¬ passung, von modernen Schriftstellern zum Gegenstande litterarischer Behandlung, unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Äußerlichkeiten, genommen werden. Dem einzelnen litterarischen Werke soll dadurch ein modernes Gepräge aufgedrückt werden; aber die Autoren, welche mit derlei Entlehnungen zu wirke» hoffen, bedenken nicht, daß sie in den Augen des Unterrichteten, der weiß, daß es sich, wie z. B. bei der Vererbungsfrage, um eine wissenschaftliche Tngesstrvmuug handelt, deren Berechtigung gerade von den neuesten Forschnuge» wieder in Frage gestellt wird, sich nur bloßstellen, während sie den Unkundigen lediglich ein falsches Bild geben. Ein andrer Zug dieser Art ist die Behandlung soge¬ nannter Grenzgebiete zwischen dem normalen und dem krankhaften Seelenleben. Es wirkt meines Erachtens nur verwirrend und im Sinne einer äußerlichen Kunstpflege, wenn die dem Dichterauge sich erschließenden dunkeln Tiefen des menschlichen Gemütes mit einem falschen und nur scheinbar von der Wissen¬ schaft der körperlichen Thatsachen erborgten: Lichte beleuchtet werden." Der Ver¬ sasser empfindet, was denkende und in der Kunst die künstlerische Wahrheit suchende Menschen längst empfunden haben, daß drei Viertel der naturwissen¬ schaftlichen Phrasen in der jüngsten Litteratur Aufputz, angeklebtes Ornament sind, daß ihr Zweck nicht Vertiefung in ungekannte oder dunkle Seite» des Lebens, sondern roher oder raffinirter litterarischer Effekt ist, und so darf er denn auch schlicht daran erinnern, daß Shakespeare und Cervantes „keine Naturforscher und doch große Seelenkenner und Seelenmaler" waren." Wenn die Aufnahme des oben erwähnten Artikels in die „Freie Bühne nicht ein zufälliges Zugeständnis ist, dürften wir ja der frohen Hoffnung leben, daß die Herrschaft der naturwissenschaftlichen Phrase, selbst da, wo man ihr zur Zeit noch huldigt, bald ihr Ende erreiche» wird. Wenn dies nicht ge¬ schieht, wenn man fortfährt, wie seither, »»erwiesene Hypothesen als Gähruugs- mittel und als Elemente für neue und unerhörte Effektsitnationen in moderne Lebensdarstellungen hineinzuwerfen, so wird sich zeigen, daß diese Art streitender Kunst keine triumphirende werden kann. Denn wenn wirklich eine innere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/538>, abgerufen am 23.07.2024.