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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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H.I'S mille?ins -- ^rs triiimpI,AUS?

Klärung und freudige Erhebung eines Schriftstellers dieser Richtung stattfände,
möglich wäre, so würde ihm in dem Augenblicke, wo er dazu gelangte, der
Boden unter deu Füßen weggeschwemmt sein. Die wissenschaftliche Tages-
strvmung, der er sich anvertraut, würde gewechselt haben, die moderne An¬
schauung, der zuliebe er deu Erscheinungen Gewalt angethan hat, dem, was
für den Künstler, den Dichter Naturwahrheit ist und bleibt, würde von einer noch
moderneren abgelöst worden sein. Ans alle Fälle sind auf den Einklang zwischen
naturwissenschaftlichen Theorien und darstellender Kunst Hoffnungen gebaut
worden, die sich als thöricht erweisen müssen, und die Jagd nach dem wissen¬
schaftlich echten Menschen führt immer weiter von der realistischen, das heißt
überzeugenden Menschendnrstellung ab.

Dennoch scheint uns die Gefahr, die einer gesunden Weiterentwicklung
der deutschen Litteratur von dieser Seite her droht, sehr untergeordnet im Ver¬
gleich mit der bedrohlicheren Gefahr, die aus der willkürlichen und fratzenhaft
einseitigen Auffassung der Begriffe "Leben" und "Wirklichkeit" durch die
"streitende" Kunst erwächst. Das Leben und die Welt siud von einer unab¬
sehbaren Weite, und die Überfülle der Erscheinungen zwingt auch den größten
Dichter, sich Schranken zu setzen, oder vielmehr die Schranken ergeben sich daraus,
daß nur eine bevorzugte, wenn auch noch so große Zahl von Erscheinungen,
Handlungen und Gestalten in die Phantasie und die Mitempfindung des einzelnen
Dichters fallen. In diesem Sinne läßt sich mit keinem Dichter rechten, der
nach Maßgabe seiner ursprünglichen Antriebe, seiner Lebenseindrücke, seiner
Bildung ehrlich an die Wirklichkeit hinantritt, in der Welt sich umschaut, vieles
sieht und noch mehr nicht sieht. So wenig man in Zeiten, wo die Phantasie
ihre eignen wunderlichen Wege einschlug, die Romantiker ihre Schäferinnen mit
Vorliebe an die Ufer der Durance oder in die Berge von Leon schickten, Freilig-
rath seufzte: "Wär ich im Bann von Mekkas Thoren," ohne weiteres von Un¬
wahrheit reden durfte, da wenigstens die Stimmung, die sich dieser fremd¬
artigen Bilder bediente, echt und wahrhaft war, so wenig würde es sich
ziemen, die besondre Neigung zahlreicher Schriftsteller unsrer Tage für die Dar¬
stellung öden und bedrängten Alltags- und Kleinlebens, die Vorliebe für
Spelunken und Winkel schlechthin für unnatürlich und unwirklich zu erklären.
Aber es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem natürlichen und instinktiven
Zuge zu der bezeichneten Art der Darstellung und zwischen der reflektirten,
shstematischen, künstlich gezüchteten, ganz und gar unwahren Wirklichkeits-
schildernug, in der sich eine Gruppe neuester deutscher Schriftsteller, uicht sowohl
aus einem Drange nach Natur, als vielmehr mit bewußter Unnatur, aus einer
wunderlich gemischten Philosophie der Sozialpolitik und Philosophie der Kunst
heraus gefällt und genugthnt. Angesichts der Auffassung und Wiedergabe des
deutschen Lebens der Gegenwart, die wir in einer ganzen Reihe vou Dramen,
Romanen und Erzählungen finden, müssen wir wiederholt sagen: frevelhafter


H.I'S mille?ins — ^rs triiimpI,AUS?

Klärung und freudige Erhebung eines Schriftstellers dieser Richtung stattfände,
möglich wäre, so würde ihm in dem Augenblicke, wo er dazu gelangte, der
Boden unter deu Füßen weggeschwemmt sein. Die wissenschaftliche Tages-
strvmung, der er sich anvertraut, würde gewechselt haben, die moderne An¬
schauung, der zuliebe er deu Erscheinungen Gewalt angethan hat, dem, was
für den Künstler, den Dichter Naturwahrheit ist und bleibt, würde von einer noch
moderneren abgelöst worden sein. Ans alle Fälle sind auf den Einklang zwischen
naturwissenschaftlichen Theorien und darstellender Kunst Hoffnungen gebaut
worden, die sich als thöricht erweisen müssen, und die Jagd nach dem wissen¬
schaftlich echten Menschen führt immer weiter von der realistischen, das heißt
überzeugenden Menschendnrstellung ab.

Dennoch scheint uns die Gefahr, die einer gesunden Weiterentwicklung
der deutschen Litteratur von dieser Seite her droht, sehr untergeordnet im Ver¬
gleich mit der bedrohlicheren Gefahr, die aus der willkürlichen und fratzenhaft
einseitigen Auffassung der Begriffe „Leben" und „Wirklichkeit" durch die
„streitende" Kunst erwächst. Das Leben und die Welt siud von einer unab¬
sehbaren Weite, und die Überfülle der Erscheinungen zwingt auch den größten
Dichter, sich Schranken zu setzen, oder vielmehr die Schranken ergeben sich daraus,
daß nur eine bevorzugte, wenn auch noch so große Zahl von Erscheinungen,
Handlungen und Gestalten in die Phantasie und die Mitempfindung des einzelnen
Dichters fallen. In diesem Sinne läßt sich mit keinem Dichter rechten, der
nach Maßgabe seiner ursprünglichen Antriebe, seiner Lebenseindrücke, seiner
Bildung ehrlich an die Wirklichkeit hinantritt, in der Welt sich umschaut, vieles
sieht und noch mehr nicht sieht. So wenig man in Zeiten, wo die Phantasie
ihre eignen wunderlichen Wege einschlug, die Romantiker ihre Schäferinnen mit
Vorliebe an die Ufer der Durance oder in die Berge von Leon schickten, Freilig-
rath seufzte: „Wär ich im Bann von Mekkas Thoren," ohne weiteres von Un¬
wahrheit reden durfte, da wenigstens die Stimmung, die sich dieser fremd¬
artigen Bilder bediente, echt und wahrhaft war, so wenig würde es sich
ziemen, die besondre Neigung zahlreicher Schriftsteller unsrer Tage für die Dar¬
stellung öden und bedrängten Alltags- und Kleinlebens, die Vorliebe für
Spelunken und Winkel schlechthin für unnatürlich und unwirklich zu erklären.
Aber es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem natürlichen und instinktiven
Zuge zu der bezeichneten Art der Darstellung und zwischen der reflektirten,
shstematischen, künstlich gezüchteten, ganz und gar unwahren Wirklichkeits-
schildernug, in der sich eine Gruppe neuester deutscher Schriftsteller, uicht sowohl
aus einem Drange nach Natur, als vielmehr mit bewußter Unnatur, aus einer
wunderlich gemischten Philosophie der Sozialpolitik und Philosophie der Kunst
heraus gefällt und genugthnt. Angesichts der Auffassung und Wiedergabe des
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Romanen und Erzählungen finden, müssen wir wiederholt sagen: frevelhafter


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[0539] H.I'S mille?ins — ^rs triiimpI,AUS? Klärung und freudige Erhebung eines Schriftstellers dieser Richtung stattfände, möglich wäre, so würde ihm in dem Augenblicke, wo er dazu gelangte, der Boden unter deu Füßen weggeschwemmt sein. Die wissenschaftliche Tages- strvmung, der er sich anvertraut, würde gewechselt haben, die moderne An¬ schauung, der zuliebe er deu Erscheinungen Gewalt angethan hat, dem, was für den Künstler, den Dichter Naturwahrheit ist und bleibt, würde von einer noch moderneren abgelöst worden sein. Ans alle Fälle sind auf den Einklang zwischen naturwissenschaftlichen Theorien und darstellender Kunst Hoffnungen gebaut worden, die sich als thöricht erweisen müssen, und die Jagd nach dem wissen¬ schaftlich echten Menschen führt immer weiter von der realistischen, das heißt überzeugenden Menschendnrstellung ab. Dennoch scheint uns die Gefahr, die einer gesunden Weiterentwicklung der deutschen Litteratur von dieser Seite her droht, sehr untergeordnet im Ver¬ gleich mit der bedrohlicheren Gefahr, die aus der willkürlichen und fratzenhaft einseitigen Auffassung der Begriffe „Leben" und „Wirklichkeit" durch die „streitende" Kunst erwächst. Das Leben und die Welt siud von einer unab¬ sehbaren Weite, und die Überfülle der Erscheinungen zwingt auch den größten Dichter, sich Schranken zu setzen, oder vielmehr die Schranken ergeben sich daraus, daß nur eine bevorzugte, wenn auch noch so große Zahl von Erscheinungen, Handlungen und Gestalten in die Phantasie und die Mitempfindung des einzelnen Dichters fallen. In diesem Sinne läßt sich mit keinem Dichter rechten, der nach Maßgabe seiner ursprünglichen Antriebe, seiner Lebenseindrücke, seiner Bildung ehrlich an die Wirklichkeit hinantritt, in der Welt sich umschaut, vieles sieht und noch mehr nicht sieht. So wenig man in Zeiten, wo die Phantasie ihre eignen wunderlichen Wege einschlug, die Romantiker ihre Schäferinnen mit Vorliebe an die Ufer der Durance oder in die Berge von Leon schickten, Freilig- rath seufzte: „Wär ich im Bann von Mekkas Thoren," ohne weiteres von Un¬ wahrheit reden durfte, da wenigstens die Stimmung, die sich dieser fremd¬ artigen Bilder bediente, echt und wahrhaft war, so wenig würde es sich ziemen, die besondre Neigung zahlreicher Schriftsteller unsrer Tage für die Dar¬ stellung öden und bedrängten Alltags- und Kleinlebens, die Vorliebe für Spelunken und Winkel schlechthin für unnatürlich und unwirklich zu erklären. Aber es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem natürlichen und instinktiven Zuge zu der bezeichneten Art der Darstellung und zwischen der reflektirten, shstematischen, künstlich gezüchteten, ganz und gar unwahren Wirklichkeits- schildernug, in der sich eine Gruppe neuester deutscher Schriftsteller, uicht sowohl aus einem Drange nach Natur, als vielmehr mit bewußter Unnatur, aus einer wunderlich gemischten Philosophie der Sozialpolitik und Philosophie der Kunst heraus gefällt und genugthnt. Angesichts der Auffassung und Wiedergabe des deutschen Lebens der Gegenwart, die wir in einer ganzen Reihe vou Dramen, Romanen und Erzählungen finden, müssen wir wiederholt sagen: frevelhafter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/539>, abgerufen am 23.07.2024.