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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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an Büchern und Mustern, als am Leben genährt werde, durch das Leben mit
tausend Wirklichkeiten längst überholt worden sei. Da es also ein Versäumtes
einzubringen gelte, so müsse der welsche Weisheitsspruch Lus piano, sg.no
über Bord geworfen werden. Hört man die erhitztesten Vorkämpfer in den
Reihen der streitenden Kunst, so frommt es nicht einmal mehr, Siebenmeilen¬
stiefel anzuziehen, sondern die genialen Stürmer bedürfen dazu eherner Flügel.
In düsterer Erinnerung an die wächsernen Flügel des Ikaros und in begreif¬
licher Vorliebe fiir Gestalten der nordischen Mythologie ziehen die Herren den
wnffenkundigen Schmied Wilcmd dem verunglückten Sohne des Dädalos vor.
Bis jetzt freilich haben die ehernen Flügel , mit denen der Geist des Jahr¬
hunderts eingeholt werden soll, der allmächtig wie die Natur selbst sein wird,
ihre Besitzer zwar davor geschützt, ins Meer, aber nicht davor, in unterschied¬
liche Pfützen auf dem Wege zu fallen. Gleichviel, sagt man, wenn nnr das
Ziel erreicht wird, das Ziel endlichen Einklangs der Litteratur mit der Wissen¬
schaft (sprich Naturwissenschaft) und dein Leben, dem "modernen" Leben.

Die Grenzboten haben schon früher in einigen Artikeln die erste der
"großen Zeitfragen" erörtert. Sie haben ausdrücklich betont, daß die Grenze,
bis wohin der moderne Dichter Erkenntnisse der Wissenschaft in den Bereich
seiner Menschendarstellung hineinziehen kann, keineswegs eng gezogen werden
darf, aber nach zwei Seiten hin unabänderlich bleibt: erstens insofern keine
noch so neue wissenschaftliche Erklärung der Naturerscheinungen die Erschei¬
nungen selbst aufhebt oder wesentlich verändert, zweitens insofern die Dichtung
an die Ganzheit des Lebens gebunden bleibt, und es zu keiner Zeit und nnter
keinen Bedingungen die Aufgabe der poetischen Litteratur werden kann, lediglich
die Krankheitsprozesse der menschlichen Natur und Kultur darzustellen und ans
ihre Gründe hin zu untersuche". Der Wirklichkeit, nur die es sich in der
Poesie handelt, ist mit einer Reihe von Experimenten eben nicht beizukommen.
Die poetische Litteratur, wenn überhaupt noch von einer solchen die Rede sein
!oll, kann im Zeitalter der Naturwissenschaften so wenig eine Naturwissenschaft
werden, als die poetische Litteratur im Zeitalter der Klöster und der Kreuz¬
ige eine Religion geworden ist. Zahlreiche Apostel der Modernität, deren
Unterscheidungsvermögen nicht eben scharf ist, verwechseln den Wiederschein
herrschender Anschauungen, der im Leben vorhanden ist und also auch in die
Poesie gehört, mit der unmittelbaren poetischen Verwertung naturwissenschaft¬
licher Gesetze oder gar wissenschaftlicher Hypothesen, die man pathetisch Gesetze
nennt. Selbst in der "Freien Bühne" des Herrn Otto Brahm, die für den
"Naturalismus" kämpft, entschlage man sich dieser Einsicht nicht ganz. In
wiem beachtenswerten Artikel von Emil Schiff: "Die naturwissenschaftliche
Phrase" finden Nur Sätze, die wir ohne weiteres unterschreiben können. Ver¬
ständigerweise erkennt der Verfasser, daß die Fortschritte, wodurch "die gesamte
äußere Physiognomie der zivilisirten Welt seit etwa sechzig Jahren von Grund


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an Büchern und Mustern, als am Leben genährt werde, durch das Leben mit
tausend Wirklichkeiten längst überholt worden sei. Da es also ein Versäumtes
einzubringen gelte, so müsse der welsche Weisheitsspruch Lus piano, sg.no
über Bord geworfen werden. Hört man die erhitztesten Vorkämpfer in den
Reihen der streitenden Kunst, so frommt es nicht einmal mehr, Siebenmeilen¬
stiefel anzuziehen, sondern die genialen Stürmer bedürfen dazu eherner Flügel.
In düsterer Erinnerung an die wächsernen Flügel des Ikaros und in begreif¬
licher Vorliebe fiir Gestalten der nordischen Mythologie ziehen die Herren den
wnffenkundigen Schmied Wilcmd dem verunglückten Sohne des Dädalos vor.
Bis jetzt freilich haben die ehernen Flügel , mit denen der Geist des Jahr¬
hunderts eingeholt werden soll, der allmächtig wie die Natur selbst sein wird,
ihre Besitzer zwar davor geschützt, ins Meer, aber nicht davor, in unterschied¬
liche Pfützen auf dem Wege zu fallen. Gleichviel, sagt man, wenn nnr das
Ziel erreicht wird, das Ziel endlichen Einklangs der Litteratur mit der Wissen¬
schaft (sprich Naturwissenschaft) und dein Leben, dem „modernen" Leben.

Die Grenzboten haben schon früher in einigen Artikeln die erste der
„großen Zeitfragen" erörtert. Sie haben ausdrücklich betont, daß die Grenze,
bis wohin der moderne Dichter Erkenntnisse der Wissenschaft in den Bereich
seiner Menschendarstellung hineinziehen kann, keineswegs eng gezogen werden
darf, aber nach zwei Seiten hin unabänderlich bleibt: erstens insofern keine
noch so neue wissenschaftliche Erklärung der Naturerscheinungen die Erschei¬
nungen selbst aufhebt oder wesentlich verändert, zweitens insofern die Dichtung
an die Ganzheit des Lebens gebunden bleibt, und es zu keiner Zeit und nnter
keinen Bedingungen die Aufgabe der poetischen Litteratur werden kann, lediglich
die Krankheitsprozesse der menschlichen Natur und Kultur darzustellen und ans
ihre Gründe hin zu untersuche». Der Wirklichkeit, nur die es sich in der
Poesie handelt, ist mit einer Reihe von Experimenten eben nicht beizukommen.
Die poetische Litteratur, wenn überhaupt noch von einer solchen die Rede sein
!oll, kann im Zeitalter der Naturwissenschaften so wenig eine Naturwissenschaft
werden, als die poetische Litteratur im Zeitalter der Klöster und der Kreuz¬
ige eine Religion geworden ist. Zahlreiche Apostel der Modernität, deren
Unterscheidungsvermögen nicht eben scharf ist, verwechseln den Wiederschein
herrschender Anschauungen, der im Leben vorhanden ist und also auch in die
Poesie gehört, mit der unmittelbaren poetischen Verwertung naturwissenschaft¬
licher Gesetze oder gar wissenschaftlicher Hypothesen, die man pathetisch Gesetze
nennt. Selbst in der „Freien Bühne" des Herrn Otto Brahm, die für den
"Naturalismus" kämpft, entschlage man sich dieser Einsicht nicht ganz. In
wiem beachtenswerten Artikel von Emil Schiff: „Die naturwissenschaftliche
Phrase" finden Nur Sätze, die wir ohne weiteres unterschreiben können. Ver¬
ständigerweise erkennt der Verfasser, daß die Fortschritte, wodurch „die gesamte
äußere Physiognomie der zivilisirten Welt seit etwa sechzig Jahren von Grund


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[0537] A,rs inilitkms — ^.rs trinmp^-iQs? an Büchern und Mustern, als am Leben genährt werde, durch das Leben mit tausend Wirklichkeiten längst überholt worden sei. Da es also ein Versäumtes einzubringen gelte, so müsse der welsche Weisheitsspruch Lus piano, sg.no über Bord geworfen werden. Hört man die erhitztesten Vorkämpfer in den Reihen der streitenden Kunst, so frommt es nicht einmal mehr, Siebenmeilen¬ stiefel anzuziehen, sondern die genialen Stürmer bedürfen dazu eherner Flügel. In düsterer Erinnerung an die wächsernen Flügel des Ikaros und in begreif¬ licher Vorliebe fiir Gestalten der nordischen Mythologie ziehen die Herren den wnffenkundigen Schmied Wilcmd dem verunglückten Sohne des Dädalos vor. Bis jetzt freilich haben die ehernen Flügel , mit denen der Geist des Jahr¬ hunderts eingeholt werden soll, der allmächtig wie die Natur selbst sein wird, ihre Besitzer zwar davor geschützt, ins Meer, aber nicht davor, in unterschied¬ liche Pfützen auf dem Wege zu fallen. Gleichviel, sagt man, wenn nnr das Ziel erreicht wird, das Ziel endlichen Einklangs der Litteratur mit der Wissen¬ schaft (sprich Naturwissenschaft) und dein Leben, dem „modernen" Leben. Die Grenzboten haben schon früher in einigen Artikeln die erste der „großen Zeitfragen" erörtert. Sie haben ausdrücklich betont, daß die Grenze, bis wohin der moderne Dichter Erkenntnisse der Wissenschaft in den Bereich seiner Menschendarstellung hineinziehen kann, keineswegs eng gezogen werden darf, aber nach zwei Seiten hin unabänderlich bleibt: erstens insofern keine noch so neue wissenschaftliche Erklärung der Naturerscheinungen die Erschei¬ nungen selbst aufhebt oder wesentlich verändert, zweitens insofern die Dichtung an die Ganzheit des Lebens gebunden bleibt, und es zu keiner Zeit und nnter keinen Bedingungen die Aufgabe der poetischen Litteratur werden kann, lediglich die Krankheitsprozesse der menschlichen Natur und Kultur darzustellen und ans ihre Gründe hin zu untersuche». Der Wirklichkeit, nur die es sich in der Poesie handelt, ist mit einer Reihe von Experimenten eben nicht beizukommen. Die poetische Litteratur, wenn überhaupt noch von einer solchen die Rede sein !oll, kann im Zeitalter der Naturwissenschaften so wenig eine Naturwissenschaft werden, als die poetische Litteratur im Zeitalter der Klöster und der Kreuz¬ ige eine Religion geworden ist. Zahlreiche Apostel der Modernität, deren Unterscheidungsvermögen nicht eben scharf ist, verwechseln den Wiederschein herrschender Anschauungen, der im Leben vorhanden ist und also auch in die Poesie gehört, mit der unmittelbaren poetischen Verwertung naturwissenschaft¬ licher Gesetze oder gar wissenschaftlicher Hypothesen, die man pathetisch Gesetze nennt. Selbst in der „Freien Bühne" des Herrn Otto Brahm, die für den "Naturalismus" kämpft, entschlage man sich dieser Einsicht nicht ganz. In wiem beachtenswerten Artikel von Emil Schiff: „Die naturwissenschaftliche Phrase" finden Nur Sätze, die wir ohne weiteres unterschreiben können. Ver¬ ständigerweise erkennt der Verfasser, daß die Fortschritte, wodurch „die gesamte äußere Physiognomie der zivilisirten Welt seit etwa sechzig Jahren von Grund Äreuzdvw, 1 1»90 07

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/537>, abgerufen am 23.07.2024.