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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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militiws -- U'iuiiijckiuis?

und wildem Siunenrailsch ohne Genuß, von Krankheit, Elend und Schmutz
der Boden sei, auf dem sich die "neue große Kunst" üppig entfalten müsse.
Es sind das freilich dieselben Philister, die sich 1830 beweisen ließen, daß in
Gutzkows Vorrede zu Schleiermachers Briefen über Schlegels Lucinde, in
Theodor Mundes "Spaziergängen und Weltfahrten," in Laubes Reisenovellen
Offenbarungen eines neuen deutschen Geistes und Prolegomena zu einer ge¬
waltigen modernen Litteratur erschienen wären, die dein tausendjährigen Reiche
voranleuchte, wenn sie nicht das tausendjährige Reich in Person sei; dieselben
Philister, die sich um 1845 erzählen ließen, daß Hoffmanns von Fallersleben
"Unpolitische Lieder" und Freiligraths "Glaubensbekenntnis" religiös seien
(weil erfüllt vom heiligen Zeitgeist) und Eduard Mörikes Gedichte irreligiös,
weil ans einem Privatleben und Privatglück entsprungen; dieselben Philister,
von denen schon Lessing gewußt hat, daß ihnen schale und platte Wäscher die
unglaublichsten Dinge "unansgepfiffen" vordoziren dürfen. Doch da es neben
dem Vildungsphilister auch noch wirklich gebildete Menschen und vor allem
eine gute Zahl natürlich empfindender Menschen giebt, so ist es vielleicht nicht
unnütz, der Frage näher zu treten, warum die streitende Kunst von heute, die
Litteratur, die sich, mit unberechtigter Anmaßung, vorzugsweise die neue oder
die junge nennt, unter keinen Umständen die triumphirende Kunst werden kann.
Es ist falsche Vornehmheit, solchen Fragen ans dein Wege zu gehen und sich
darauf zu verlassen, daß am letzten Ende kein Publikum der Welt das Wühlen
in krankem Blut und ekelen Kot als Darstellung des Lebens ertragen werde,
daß es also der Mühe nicht lohne, gegen Windmühlen zu fechten. Am letzten
Ende wohl, aber da sich nicht voraus bestimmen läßt, wenn dies Ende erreicht
sein wird, kann es nichts schaden, wenn man es zu beschleunigen sucht. Das
unbefangene Publikum, das zur Zeit noch in der Mehrzahl ist, verspürt bei
der unablässig wiederholten Versicherung, daß die streitende Kunst die wahre
sei und darum die siegende sein werde, keinen Glauben, aber eine Art hypno¬
tischen Dusels. Es gehört zu den Hauptkunststücken der Hhpnvtiker, den Leuten
rohe Kartoffeln und schlechte Krautstrünke für Äpfel und Birnen aufzureden-
Natürlich werden Kartoffeln und Strünke dabei in alle Ewigkeit keine Früchte;
dennoch ist es auch wünschenswert, den Zustand zu erhalten, in dem die
Genießenden besagte Naturprodukte von Früchten unterscheiden können.

Wenn man in dem allerdings sehr unumsikalischen theoretischen und pseudo¬
kritischen Getöse, mit dem sich die neue streitende Kunst ankündigt, die Grund¬
töne oder die "Leitmotive" zu unterscheiden sucht, so klingen immer und immer
wieder zwei hindurch, die ein aufmerksames Ohr verdienen. Das eine dieser Motive
sagt, daß die Litteratur deu Wissenschaften, namentlich den Naturwissenschaften,
einen viel zu gewaltigen Vorsprung in der Erkenntnis des Lebens und der
Welt gelassen habe und eilen müsse, mit ihrer Darstellung der Erkenntnis nach¬
zukommen, das andre, daß die poetische Phantasie, die gewohnheitsmäßig mehr


militiws — U'iuiiijckiuis?

und wildem Siunenrailsch ohne Genuß, von Krankheit, Elend und Schmutz
der Boden sei, auf dem sich die „neue große Kunst" üppig entfalten müsse.
Es sind das freilich dieselben Philister, die sich 1830 beweisen ließen, daß in
Gutzkows Vorrede zu Schleiermachers Briefen über Schlegels Lucinde, in
Theodor Mundes „Spaziergängen und Weltfahrten," in Laubes Reisenovellen
Offenbarungen eines neuen deutschen Geistes und Prolegomena zu einer ge¬
waltigen modernen Litteratur erschienen wären, die dein tausendjährigen Reiche
voranleuchte, wenn sie nicht das tausendjährige Reich in Person sei; dieselben
Philister, die sich um 1845 erzählen ließen, daß Hoffmanns von Fallersleben
„Unpolitische Lieder" und Freiligraths „Glaubensbekenntnis" religiös seien
(weil erfüllt vom heiligen Zeitgeist) und Eduard Mörikes Gedichte irreligiös,
weil ans einem Privatleben und Privatglück entsprungen; dieselben Philister,
von denen schon Lessing gewußt hat, daß ihnen schale und platte Wäscher die
unglaublichsten Dinge „unansgepfiffen" vordoziren dürfen. Doch da es neben
dem Vildungsphilister auch noch wirklich gebildete Menschen und vor allem
eine gute Zahl natürlich empfindender Menschen giebt, so ist es vielleicht nicht
unnütz, der Frage näher zu treten, warum die streitende Kunst von heute, die
Litteratur, die sich, mit unberechtigter Anmaßung, vorzugsweise die neue oder
die junge nennt, unter keinen Umständen die triumphirende Kunst werden kann.
Es ist falsche Vornehmheit, solchen Fragen ans dein Wege zu gehen und sich
darauf zu verlassen, daß am letzten Ende kein Publikum der Welt das Wühlen
in krankem Blut und ekelen Kot als Darstellung des Lebens ertragen werde,
daß es also der Mühe nicht lohne, gegen Windmühlen zu fechten. Am letzten
Ende wohl, aber da sich nicht voraus bestimmen läßt, wenn dies Ende erreicht
sein wird, kann es nichts schaden, wenn man es zu beschleunigen sucht. Das
unbefangene Publikum, das zur Zeit noch in der Mehrzahl ist, verspürt bei
der unablässig wiederholten Versicherung, daß die streitende Kunst die wahre
sei und darum die siegende sein werde, keinen Glauben, aber eine Art hypno¬
tischen Dusels. Es gehört zu den Hauptkunststücken der Hhpnvtiker, den Leuten
rohe Kartoffeln und schlechte Krautstrünke für Äpfel und Birnen aufzureden-
Natürlich werden Kartoffeln und Strünke dabei in alle Ewigkeit keine Früchte;
dennoch ist es auch wünschenswert, den Zustand zu erhalten, in dem die
Genießenden besagte Naturprodukte von Früchten unterscheiden können.

Wenn man in dem allerdings sehr unumsikalischen theoretischen und pseudo¬
kritischen Getöse, mit dem sich die neue streitende Kunst ankündigt, die Grund¬
töne oder die „Leitmotive" zu unterscheiden sucht, so klingen immer und immer
wieder zwei hindurch, die ein aufmerksames Ohr verdienen. Das eine dieser Motive
sagt, daß die Litteratur deu Wissenschaften, namentlich den Naturwissenschaften,
einen viel zu gewaltigen Vorsprung in der Erkenntnis des Lebens und der
Welt gelassen habe und eilen müsse, mit ihrer Darstellung der Erkenntnis nach¬
zukommen, das andre, daß die poetische Phantasie, die gewohnheitsmäßig mehr


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[0536] militiws — U'iuiiijckiuis? und wildem Siunenrailsch ohne Genuß, von Krankheit, Elend und Schmutz der Boden sei, auf dem sich die „neue große Kunst" üppig entfalten müsse. Es sind das freilich dieselben Philister, die sich 1830 beweisen ließen, daß in Gutzkows Vorrede zu Schleiermachers Briefen über Schlegels Lucinde, in Theodor Mundes „Spaziergängen und Weltfahrten," in Laubes Reisenovellen Offenbarungen eines neuen deutschen Geistes und Prolegomena zu einer ge¬ waltigen modernen Litteratur erschienen wären, die dein tausendjährigen Reiche voranleuchte, wenn sie nicht das tausendjährige Reich in Person sei; dieselben Philister, die sich um 1845 erzählen ließen, daß Hoffmanns von Fallersleben „Unpolitische Lieder" und Freiligraths „Glaubensbekenntnis" religiös seien (weil erfüllt vom heiligen Zeitgeist) und Eduard Mörikes Gedichte irreligiös, weil ans einem Privatleben und Privatglück entsprungen; dieselben Philister, von denen schon Lessing gewußt hat, daß ihnen schale und platte Wäscher die unglaublichsten Dinge „unansgepfiffen" vordoziren dürfen. Doch da es neben dem Vildungsphilister auch noch wirklich gebildete Menschen und vor allem eine gute Zahl natürlich empfindender Menschen giebt, so ist es vielleicht nicht unnütz, der Frage näher zu treten, warum die streitende Kunst von heute, die Litteratur, die sich, mit unberechtigter Anmaßung, vorzugsweise die neue oder die junge nennt, unter keinen Umständen die triumphirende Kunst werden kann. Es ist falsche Vornehmheit, solchen Fragen ans dein Wege zu gehen und sich darauf zu verlassen, daß am letzten Ende kein Publikum der Welt das Wühlen in krankem Blut und ekelen Kot als Darstellung des Lebens ertragen werde, daß es also der Mühe nicht lohne, gegen Windmühlen zu fechten. Am letzten Ende wohl, aber da sich nicht voraus bestimmen läßt, wenn dies Ende erreicht sein wird, kann es nichts schaden, wenn man es zu beschleunigen sucht. Das unbefangene Publikum, das zur Zeit noch in der Mehrzahl ist, verspürt bei der unablässig wiederholten Versicherung, daß die streitende Kunst die wahre sei und darum die siegende sein werde, keinen Glauben, aber eine Art hypno¬ tischen Dusels. Es gehört zu den Hauptkunststücken der Hhpnvtiker, den Leuten rohe Kartoffeln und schlechte Krautstrünke für Äpfel und Birnen aufzureden- Natürlich werden Kartoffeln und Strünke dabei in alle Ewigkeit keine Früchte; dennoch ist es auch wünschenswert, den Zustand zu erhalten, in dem die Genießenden besagte Naturprodukte von Früchten unterscheiden können. Wenn man in dem allerdings sehr unumsikalischen theoretischen und pseudo¬ kritischen Getöse, mit dem sich die neue streitende Kunst ankündigt, die Grund¬ töne oder die „Leitmotive" zu unterscheiden sucht, so klingen immer und immer wieder zwei hindurch, die ein aufmerksames Ohr verdienen. Das eine dieser Motive sagt, daß die Litteratur deu Wissenschaften, namentlich den Naturwissenschaften, einen viel zu gewaltigen Vorsprung in der Erkenntnis des Lebens und der Welt gelassen habe und eilen müsse, mit ihrer Darstellung der Erkenntnis nach¬ zukommen, das andre, daß die poetische Phantasie, die gewohnheitsmäßig mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/536>, abgerufen am 23.07.2024.