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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Dedenkeu über die Sprach^erdesscrung

Unterricht erzeugt. Bestenfalls wird sie an Kraft, Gelenkigkeit und Frische
einbüßen, was sie etwa an Korrektheit gewinnt. Und wer oder was ist korrekt?
Die Regeln sind doch nur von den Schriftwerken abgezogen, diese veralten
aber nach einiger Zeit, und weder Goethe noch Lessing kann dem Schicksal
entgehen, dein Ulfilci und Luther verfallen sind. Gewiß müssen die Verände¬
rungen einer lebenden Sprache deren innerem Bildungsgesetz entsprechen, wenn
sie gesund sein sollen, aber ebenso gewiß waltet dieses Gesetz am reinsten und
ungestörtesten, so lange noch niemand daran denkt. "Wenn nnr das Volk
nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal eine
Dummheit fertig!" ruft der Verfasser der "Sprachdummheiten." Sehr richtig!
Aber ich glaube, das gilt nicht bloß vou dem Volle, sondern mich von den
Gelehrten. Die Sprache ist ein Kunstwerk; ihre Schöpfungen beruhen auf
Eingebung. So wenig der Kritiker, wenn er nicht zufällig von Natur zugleich
Dichter ist, die von ihm mit Recht getadelten Gedichte oder Dramen durch
bessere zu ersetzen vermag, so wenig vermag der Sprachkritiker die herrschende
schlechte Prosa durch eine gute zu verdrängen, oder als Lehrer seine Schüler
zu guten Prosaisten zu erziehen. Was er kann, das ist: Fehler rügen und
schlechte Gewöhnungen verhüten. Darum soll allerdings der Lehrer höherer
Schulen selbst einen gründlichen Unterricht in der Grammatik empfangen haben,
aber erst auf der Universität, d. h. in einem Alter, wo er schon fest und ge¬
wandt im Schreiben war und durch die Theorie uicht mehr so leicht an seiner
Praxis irre werden konnte. Wie schön ist die natürliche Beredsamkeit der
Südländer; mit welchem Ausdruck, welcher Empfindung, welchem Wohllaut,
welcher Deutlichkeit und welcher Gewandtheit spricht in Italien der Gassen¬
junge und die Frau aus dem Volke! Laßt diese Analphabeten acht bis zehn
Jahre in der Schule dritte", und sie werden stammeln, stottern und sich
dreimal in jedem Satze verbessern wie unsre deutschen Toastredner. Schreiben
werden sie dann freilich auch, was sie jetzt uicht können, aber ihr Geschriebenes
wird schwerlich schöner ausfalle" als das Gesprvchne. Es ist wahr, sagt
Lotze, "unser Volk liest, und es schreibt; aber wohl dem, der sein Geschriebenes
nicht zu lesen, und sein Gelesenes nicht zu hören braucht!" Jedes Ding hat
eben seine zwei, meistens sogar vier und mehr Seiten, und die Schattenseiten
der allgemeinen und langen Schulung verdienten wohl öfter und mehr erwogen
zu werden, als es gewöhnlich geschieht.

Mit dein übrigen, was a. a. O. über den deutschen Unterricht gesagt
wird, bin ich von ganzem Herzen einverstanden. Nur um Gottes willen nicht
aus der deutscheu Stunde einen ästhetischen Thee machen! Der gehört in die
Erholungs-, nicht in die Arbeitszeit. Und keine philologisch-kritische Behand¬
lung unsrer Klassiker! die nur den Erfolg hat, den Schülern unsre vater¬
ländischen Dichterwerke ebenso zu verleiden, wie es bekanntlich mit den grie¬
chischen und lateinischen geschieht. Dagegen mehr gute Prosa lesen, und mehr


Dedenkeu über die Sprach^erdesscrung

Unterricht erzeugt. Bestenfalls wird sie an Kraft, Gelenkigkeit und Frische
einbüßen, was sie etwa an Korrektheit gewinnt. Und wer oder was ist korrekt?
Die Regeln sind doch nur von den Schriftwerken abgezogen, diese veralten
aber nach einiger Zeit, und weder Goethe noch Lessing kann dem Schicksal
entgehen, dein Ulfilci und Luther verfallen sind. Gewiß müssen die Verände¬
rungen einer lebenden Sprache deren innerem Bildungsgesetz entsprechen, wenn
sie gesund sein sollen, aber ebenso gewiß waltet dieses Gesetz am reinsten und
ungestörtesten, so lange noch niemand daran denkt. „Wenn nnr das Volk
nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal eine
Dummheit fertig!" ruft der Verfasser der „Sprachdummheiten." Sehr richtig!
Aber ich glaube, das gilt nicht bloß vou dem Volle, sondern mich von den
Gelehrten. Die Sprache ist ein Kunstwerk; ihre Schöpfungen beruhen auf
Eingebung. So wenig der Kritiker, wenn er nicht zufällig von Natur zugleich
Dichter ist, die von ihm mit Recht getadelten Gedichte oder Dramen durch
bessere zu ersetzen vermag, so wenig vermag der Sprachkritiker die herrschende
schlechte Prosa durch eine gute zu verdrängen, oder als Lehrer seine Schüler
zu guten Prosaisten zu erziehen. Was er kann, das ist: Fehler rügen und
schlechte Gewöhnungen verhüten. Darum soll allerdings der Lehrer höherer
Schulen selbst einen gründlichen Unterricht in der Grammatik empfangen haben,
aber erst auf der Universität, d. h. in einem Alter, wo er schon fest und ge¬
wandt im Schreiben war und durch die Theorie uicht mehr so leicht an seiner
Praxis irre werden konnte. Wie schön ist die natürliche Beredsamkeit der
Südländer; mit welchem Ausdruck, welcher Empfindung, welchem Wohllaut,
welcher Deutlichkeit und welcher Gewandtheit spricht in Italien der Gassen¬
junge und die Frau aus dem Volke! Laßt diese Analphabeten acht bis zehn
Jahre in der Schule dritte», und sie werden stammeln, stottern und sich
dreimal in jedem Satze verbessern wie unsre deutschen Toastredner. Schreiben
werden sie dann freilich auch, was sie jetzt uicht können, aber ihr Geschriebenes
wird schwerlich schöner ausfalle» als das Gesprvchne. Es ist wahr, sagt
Lotze, „unser Volk liest, und es schreibt; aber wohl dem, der sein Geschriebenes
nicht zu lesen, und sein Gelesenes nicht zu hören braucht!" Jedes Ding hat
eben seine zwei, meistens sogar vier und mehr Seiten, und die Schattenseiten
der allgemeinen und langen Schulung verdienten wohl öfter und mehr erwogen
zu werden, als es gewöhnlich geschieht.

Mit dein übrigen, was a. a. O. über den deutschen Unterricht gesagt
wird, bin ich von ganzem Herzen einverstanden. Nur um Gottes willen nicht
aus der deutscheu Stunde einen ästhetischen Thee machen! Der gehört in die
Erholungs-, nicht in die Arbeitszeit. Und keine philologisch-kritische Behand¬
lung unsrer Klassiker! die nur den Erfolg hat, den Schülern unsre vater¬
ländischen Dichterwerke ebenso zu verleiden, wie es bekanntlich mit den grie¬
chischen und lateinischen geschieht. Dagegen mehr gute Prosa lesen, und mehr


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[0288] Dedenkeu über die Sprach^erdesscrung Unterricht erzeugt. Bestenfalls wird sie an Kraft, Gelenkigkeit und Frische einbüßen, was sie etwa an Korrektheit gewinnt. Und wer oder was ist korrekt? Die Regeln sind doch nur von den Schriftwerken abgezogen, diese veralten aber nach einiger Zeit, und weder Goethe noch Lessing kann dem Schicksal entgehen, dein Ulfilci und Luther verfallen sind. Gewiß müssen die Verände¬ rungen einer lebenden Sprache deren innerem Bildungsgesetz entsprechen, wenn sie gesund sein sollen, aber ebenso gewiß waltet dieses Gesetz am reinsten und ungestörtesten, so lange noch niemand daran denkt. „Wenn nnr das Volk nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal eine Dummheit fertig!" ruft der Verfasser der „Sprachdummheiten." Sehr richtig! Aber ich glaube, das gilt nicht bloß vou dem Volle, sondern mich von den Gelehrten. Die Sprache ist ein Kunstwerk; ihre Schöpfungen beruhen auf Eingebung. So wenig der Kritiker, wenn er nicht zufällig von Natur zugleich Dichter ist, die von ihm mit Recht getadelten Gedichte oder Dramen durch bessere zu ersetzen vermag, so wenig vermag der Sprachkritiker die herrschende schlechte Prosa durch eine gute zu verdrängen, oder als Lehrer seine Schüler zu guten Prosaisten zu erziehen. Was er kann, das ist: Fehler rügen und schlechte Gewöhnungen verhüten. Darum soll allerdings der Lehrer höherer Schulen selbst einen gründlichen Unterricht in der Grammatik empfangen haben, aber erst auf der Universität, d. h. in einem Alter, wo er schon fest und ge¬ wandt im Schreiben war und durch die Theorie uicht mehr so leicht an seiner Praxis irre werden konnte. Wie schön ist die natürliche Beredsamkeit der Südländer; mit welchem Ausdruck, welcher Empfindung, welchem Wohllaut, welcher Deutlichkeit und welcher Gewandtheit spricht in Italien der Gassen¬ junge und die Frau aus dem Volke! Laßt diese Analphabeten acht bis zehn Jahre in der Schule dritte», und sie werden stammeln, stottern und sich dreimal in jedem Satze verbessern wie unsre deutschen Toastredner. Schreiben werden sie dann freilich auch, was sie jetzt uicht können, aber ihr Geschriebenes wird schwerlich schöner ausfalle» als das Gesprvchne. Es ist wahr, sagt Lotze, „unser Volk liest, und es schreibt; aber wohl dem, der sein Geschriebenes nicht zu lesen, und sein Gelesenes nicht zu hören braucht!" Jedes Ding hat eben seine zwei, meistens sogar vier und mehr Seiten, und die Schattenseiten der allgemeinen und langen Schulung verdienten wohl öfter und mehr erwogen zu werden, als es gewöhnlich geschieht. Mit dein übrigen, was a. a. O. über den deutschen Unterricht gesagt wird, bin ich von ganzem Herzen einverstanden. Nur um Gottes willen nicht aus der deutscheu Stunde einen ästhetischen Thee machen! Der gehört in die Erholungs-, nicht in die Arbeitszeit. Und keine philologisch-kritische Behand¬ lung unsrer Klassiker! die nur den Erfolg hat, den Schülern unsre vater¬ ländischen Dichterwerke ebenso zu verleiden, wie es bekanntlich mit den grie¬ chischen und lateinischen geschieht. Dagegen mehr gute Prosa lesen, und mehr

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/288>, abgerufen am 03.07.2024.