Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Dante Bedenken, ob er es ohne Gefährdung seines Gelehrtenansehens wagen
dürfe, sein großes Gedicht, "an dem Erd und Himmel gearbeitet" hatten, in
der liugu" volsaro, der Banernsprache, zu schreiben. Zur Glück für sein
Vaterland und für die Welt überwand er seine Bedenken und schuf mit dem
Weltgedicht zugleich auch die italienische Schriftsprache. Wer immer Shake¬
speares Werke geschrieben bilden mag, hat er überhaupt Grammatik gelernt,
dann ganz bestimmt keine englische. Ulfila, Heliand, Nibelungen, die
Minnesänger und -- Grammatik! Der Gedanke ist spaßhaft. Als Luther um
seine Bibelübersetzung ging, da begann er nicht mit Ausarbeitung einer
Grammatik, sondern er horchte, wie das Volk auf den Gassen und die Mutter
mit den Kindern sprach. (Nebenbei bemerkt, man könnte Luther für sich allein
eine klassische Periode bilden lassen; Nur hüllen dann bereits die dritte hinter
uns.) Lessing, Herder, Goethe und Schiller haben in der Jugend wohl
lateinische, aber keine deutsche Grammatik gelernt. Dasselbe gilt von allen
Schriftstellern der Zeit bis 1830, die nach dem Urteile des Verfassers der
'lSprachdnmmheiten" durchschnittlich ein besseres Deutsch geschrieben haben als
wir Heutigen. Ich selbst habe auch keinen Unterricht in dem fraglichen Gegen¬
stande empfangen, weder in der Volksschule noch auf dem Gymnasium. Ju
der Volksschule fand ich im Anfange der sechziger Jahre einen methodischen
Sprachunterricht vor.

Ein solcher kann auf zweierlei Weise betrieben werden. Man kann die
Regeln einlernen lassen, z. B. die Verhältniswörter, die den dritten und vierten
Fall regieren, und jede Regel durch einige Beispiele einüben; oder man kann
steh auf die Beispiele beschränken- z. B. je ein Dutzend Sätze aufschreiben
lassen, in denen auf oder an vorkommt, ohne daß man die Präpositionen
der verschiednen Klassen auswendig lernen läßt. Nach der zweiten Methode
erteilt, muß der Sprachunterricht sehr heilsam wirken; die erste ist es, die ich
für schädlich halte. Denn selbst angenommen, was für gewöhnlich wohl kaum
erreicht wird, daß alle Schüler die gelernten Regeln und Wörter vollständig
im Gedächtnis behielten, würden sie doch beim Sprechen wie beim Schreiben
für längere Zeit unsicher und ängstlich werden, sich oft selbst mit der in¬
wendigen Frage unterbrechen: Ist das auch richtig? und dann in der Ver¬
wirrung -- ans Pnrer Gewissenhaftigkeit -- die falsche Form sprechen oder
hinschreiben, wie es ja auch dem besten Schülern im lateinischen und griechischen
Spezimen so häufig ergeht. Wer von Grammatik keine Ahnung hat, der wird
wenigstens nicht irre an dem Vielen oder Wenigen, was er kann. Wie ers
von der Mutter und im Umgange gelernt hat, richtig oder falsch, so bringt
heraus, ohne Zögern, Stocken und Disteln. Das ist eben der Unterschied
SwisclM der Muttersprache und der auf grammatischem Wege erlernten, und
^' kann der erster" nicht zum Vorteil gereichen, wenn man den Schüler bei
"drein Gebrauch in jene Gewissensängste verwickelt, die jeder grammatische


Dante Bedenken, ob er es ohne Gefährdung seines Gelehrtenansehens wagen
dürfe, sein großes Gedicht, „an dem Erd und Himmel gearbeitet" hatten, in
der liugu» volsaro, der Banernsprache, zu schreiben. Zur Glück für sein
Vaterland und für die Welt überwand er seine Bedenken und schuf mit dem
Weltgedicht zugleich auch die italienische Schriftsprache. Wer immer Shake¬
speares Werke geschrieben bilden mag, hat er überhaupt Grammatik gelernt,
dann ganz bestimmt keine englische. Ulfila, Heliand, Nibelungen, die
Minnesänger und — Grammatik! Der Gedanke ist spaßhaft. Als Luther um
seine Bibelübersetzung ging, da begann er nicht mit Ausarbeitung einer
Grammatik, sondern er horchte, wie das Volk auf den Gassen und die Mutter
mit den Kindern sprach. (Nebenbei bemerkt, man könnte Luther für sich allein
eine klassische Periode bilden lassen; Nur hüllen dann bereits die dritte hinter
uns.) Lessing, Herder, Goethe und Schiller haben in der Jugend wohl
lateinische, aber keine deutsche Grammatik gelernt. Dasselbe gilt von allen
Schriftstellern der Zeit bis 1830, die nach dem Urteile des Verfassers der
'lSprachdnmmheiten" durchschnittlich ein besseres Deutsch geschrieben haben als
wir Heutigen. Ich selbst habe auch keinen Unterricht in dem fraglichen Gegen¬
stande empfangen, weder in der Volksschule noch auf dem Gymnasium. Ju
der Volksschule fand ich im Anfange der sechziger Jahre einen methodischen
Sprachunterricht vor.

Ein solcher kann auf zweierlei Weise betrieben werden. Man kann die
Regeln einlernen lassen, z. B. die Verhältniswörter, die den dritten und vierten
Fall regieren, und jede Regel durch einige Beispiele einüben; oder man kann
steh auf die Beispiele beschränken- z. B. je ein Dutzend Sätze aufschreiben
lassen, in denen auf oder an vorkommt, ohne daß man die Präpositionen
der verschiednen Klassen auswendig lernen läßt. Nach der zweiten Methode
erteilt, muß der Sprachunterricht sehr heilsam wirken; die erste ist es, die ich
für schädlich halte. Denn selbst angenommen, was für gewöhnlich wohl kaum
erreicht wird, daß alle Schüler die gelernten Regeln und Wörter vollständig
im Gedächtnis behielten, würden sie doch beim Sprechen wie beim Schreiben
für längere Zeit unsicher und ängstlich werden, sich oft selbst mit der in¬
wendigen Frage unterbrechen: Ist das auch richtig? und dann in der Ver¬
wirrung — ans Pnrer Gewissenhaftigkeit — die falsche Form sprechen oder
hinschreiben, wie es ja auch dem besten Schülern im lateinischen und griechischen
Spezimen so häufig ergeht. Wer von Grammatik keine Ahnung hat, der wird
wenigstens nicht irre an dem Vielen oder Wenigen, was er kann. Wie ers
von der Mutter und im Umgange gelernt hat, richtig oder falsch, so bringt
heraus, ohne Zögern, Stocken und Disteln. Das ist eben der Unterschied
SwisclM der Muttersprache und der auf grammatischem Wege erlernten, und
^' kann der erster» nicht zum Vorteil gereichen, wenn man den Schüler bei
"drein Gebrauch in jene Gewissensängste verwickelt, die jeder grammatische


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206932"/>
            <p xml:id="ID_769" prev="#ID_768"> Dante Bedenken, ob er es ohne Gefährdung seines Gelehrtenansehens wagen<lb/>
dürfe, sein großes Gedicht, &#x201E;an dem Erd und Himmel gearbeitet" hatten, in<lb/>
der liugu» volsaro, der Banernsprache, zu schreiben. Zur Glück für sein<lb/>
Vaterland und für die Welt überwand er seine Bedenken und schuf mit dem<lb/>
Weltgedicht zugleich auch die italienische Schriftsprache. Wer immer Shake¬<lb/>
speares Werke geschrieben bilden mag, hat er überhaupt Grammatik gelernt,<lb/>
dann ganz bestimmt keine englische. Ulfila, Heliand, Nibelungen, die<lb/>
Minnesänger und &#x2014; Grammatik! Der Gedanke ist spaßhaft. Als Luther um<lb/>
seine Bibelübersetzung ging, da begann er nicht mit Ausarbeitung einer<lb/>
Grammatik, sondern er horchte, wie das Volk auf den Gassen und die Mutter<lb/>
mit den Kindern sprach. (Nebenbei bemerkt, man könnte Luther für sich allein<lb/>
eine klassische Periode bilden lassen; Nur hüllen dann bereits die dritte hinter<lb/>
uns.) Lessing, Herder, Goethe und Schiller haben in der Jugend wohl<lb/>
lateinische, aber keine deutsche Grammatik gelernt. Dasselbe gilt von allen<lb/>
Schriftstellern der Zeit bis 1830, die nach dem Urteile des Verfassers der<lb/>
'lSprachdnmmheiten" durchschnittlich ein besseres Deutsch geschrieben haben als<lb/>
wir Heutigen. Ich selbst habe auch keinen Unterricht in dem fraglichen Gegen¬<lb/>
stande empfangen, weder in der Volksschule noch auf dem Gymnasium. Ju<lb/>
der Volksschule fand ich im Anfange der sechziger Jahre einen methodischen<lb/>
Sprachunterricht vor.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_770" next="#ID_771"> Ein solcher kann auf zweierlei Weise betrieben werden. Man kann die<lb/>
Regeln einlernen lassen, z. B. die Verhältniswörter, die den dritten und vierten<lb/>
Fall regieren, und jede Regel durch einige Beispiele einüben; oder man kann<lb/>
steh auf die Beispiele beschränken- z. B. je ein Dutzend Sätze aufschreiben<lb/>
lassen, in denen auf oder an vorkommt, ohne daß man die Präpositionen<lb/>
der verschiednen Klassen auswendig lernen läßt. Nach der zweiten Methode<lb/>
erteilt, muß der Sprachunterricht sehr heilsam wirken; die erste ist es, die ich<lb/>
für schädlich halte. Denn selbst angenommen, was für gewöhnlich wohl kaum<lb/>
erreicht wird, daß alle Schüler die gelernten Regeln und Wörter vollständig<lb/>
im Gedächtnis behielten, würden sie doch beim Sprechen wie beim Schreiben<lb/>
für längere Zeit unsicher und ängstlich werden, sich oft selbst mit der in¬<lb/>
wendigen Frage unterbrechen: Ist das auch richtig? und dann in der Ver¬<lb/>
wirrung &#x2014; ans Pnrer Gewissenhaftigkeit &#x2014; die falsche Form sprechen oder<lb/>
hinschreiben, wie es ja auch dem besten Schülern im lateinischen und griechischen<lb/>
Spezimen so häufig ergeht. Wer von Grammatik keine Ahnung hat, der wird<lb/>
wenigstens nicht irre an dem Vielen oder Wenigen, was er kann. Wie ers<lb/>
von der Mutter und im Umgange gelernt hat, richtig oder falsch, so bringt<lb/>
heraus, ohne Zögern, Stocken und Disteln. Das ist eben der Unterschied<lb/>
SwisclM der Muttersprache und der auf grammatischem Wege erlernten, und<lb/>
^' kann der erster» nicht zum Vorteil gereichen, wenn man den Schüler bei<lb/>
"drein Gebrauch in jene Gewissensängste verwickelt, die jeder grammatische</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Dante Bedenken, ob er es ohne Gefährdung seines Gelehrtenansehens wagen dürfe, sein großes Gedicht, „an dem Erd und Himmel gearbeitet" hatten, in der liugu» volsaro, der Banernsprache, zu schreiben. Zur Glück für sein Vaterland und für die Welt überwand er seine Bedenken und schuf mit dem Weltgedicht zugleich auch die italienische Schriftsprache. Wer immer Shake¬ speares Werke geschrieben bilden mag, hat er überhaupt Grammatik gelernt, dann ganz bestimmt keine englische. Ulfila, Heliand, Nibelungen, die Minnesänger und — Grammatik! Der Gedanke ist spaßhaft. Als Luther um seine Bibelübersetzung ging, da begann er nicht mit Ausarbeitung einer Grammatik, sondern er horchte, wie das Volk auf den Gassen und die Mutter mit den Kindern sprach. (Nebenbei bemerkt, man könnte Luther für sich allein eine klassische Periode bilden lassen; Nur hüllen dann bereits die dritte hinter uns.) Lessing, Herder, Goethe und Schiller haben in der Jugend wohl lateinische, aber keine deutsche Grammatik gelernt. Dasselbe gilt von allen Schriftstellern der Zeit bis 1830, die nach dem Urteile des Verfassers der 'lSprachdnmmheiten" durchschnittlich ein besseres Deutsch geschrieben haben als wir Heutigen. Ich selbst habe auch keinen Unterricht in dem fraglichen Gegen¬ stande empfangen, weder in der Volksschule noch auf dem Gymnasium. Ju der Volksschule fand ich im Anfange der sechziger Jahre einen methodischen Sprachunterricht vor. Ein solcher kann auf zweierlei Weise betrieben werden. Man kann die Regeln einlernen lassen, z. B. die Verhältniswörter, die den dritten und vierten Fall regieren, und jede Regel durch einige Beispiele einüben; oder man kann steh auf die Beispiele beschränken- z. B. je ein Dutzend Sätze aufschreiben lassen, in denen auf oder an vorkommt, ohne daß man die Präpositionen der verschiednen Klassen auswendig lernen läßt. Nach der zweiten Methode erteilt, muß der Sprachunterricht sehr heilsam wirken; die erste ist es, die ich für schädlich halte. Denn selbst angenommen, was für gewöhnlich wohl kaum erreicht wird, daß alle Schüler die gelernten Regeln und Wörter vollständig im Gedächtnis behielten, würden sie doch beim Sprechen wie beim Schreiben für längere Zeit unsicher und ängstlich werden, sich oft selbst mit der in¬ wendigen Frage unterbrechen: Ist das auch richtig? und dann in der Ver¬ wirrung — ans Pnrer Gewissenhaftigkeit — die falsche Form sprechen oder hinschreiben, wie es ja auch dem besten Schülern im lateinischen und griechischen Spezimen so häufig ergeht. Wer von Grammatik keine Ahnung hat, der wird wenigstens nicht irre an dem Vielen oder Wenigen, was er kann. Wie ers von der Mutter und im Umgange gelernt hat, richtig oder falsch, so bringt heraus, ohne Zögern, Stocken und Disteln. Das ist eben der Unterschied SwisclM der Muttersprache und der auf grammatischem Wege erlernten, und ^' kann der erster» nicht zum Vorteil gereichen, wenn man den Schüler bei "drein Gebrauch in jene Gewissensängste verwickelt, die jeder grammatische

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/287>, abgerufen am 03.07.2024.