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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.

Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.

Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.


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geschichtlichen Anschauungen eine große Menge von Einzelheiten erforderlich ist,
so stark beschnitten, daß nicht etwa ein gedrängteres, sondern überhaupt gar
kein klares Bild entsteht; das andre Bestreben führt manchmal zu einer Ver¬
äußerung des Echten und Wahren, mit der niemand gedient ist. Beide Be¬
strebungen berücksichtigen im Grunde genommen nur die Bequemlichkeit und
Gedankenlosigkeit des Lesers. Von einem jeden Geschichtswerke sür das gebildete
Volk ist allerdings zu verlangen, daß es knapp und verständlich sei, aber nicht
in dem Sinne, daß es sich zur Einleitung des Mittagsschlnfes eigne. Ein
gutes geschichtliches Volksbuch muß die Gedankenarbeit des Lesers ganz in
Anspruch nehmen, und es schadet gar nichts, wenn er sich am Schlüsse einer
Seite veranlaßt fühlt, sie noch einmal zu lesen; denn nur was sich der Mensch
mit geistiger Anstrengung erarbeitet, wird sein Besitz. Wer an ein Geschichts¬
buch herantritt, um es durchzujagen wie einen Unterhaltuugsrvman, der ist
schlecht vorbereitet, vom Wohl und Wehe seiner Väter zu vernehmen. Ernst¬
hafte geistige Arbeit wird den: Leser aber niemals ein Buch abnötigen, das
selbst ohne ernsthafte geistige, selbstschvpferische Bemühung geschrieben ist. Mag
ein Mosaikbild aus den Werken andrer noch so geschickt zusammengesetzt sein,
es übt auf den denkenden Leser, auch wenn er kein Fachmann ist, doch niemals
den Reiz und Zauber aus wie eine unmittelbare, ursprüugliche Schöpfung.
Deshalb bin ich der Meinung, daß anch eine Geschichte für das Volk nicht
nur künstlerische Darstellung, sondern anch selbsterarbeiteten Inhalt bieten
muß. Der Verfasser muß selbst inmitten des lebendigen Stromes der Forschung
stehen, ihn selbst bereichern und doch auch wieder die Gabe besitzen, die
Leistungen andrer im größten Umfang in sich aufzunehmen, nicht um sie
mechanisch zu verwerten, sondern um sie bei sich herumzutragen, unter einander
auszugleichen, durch innere Erfahrung zu läutern und dann erst wieder in
künstlerischer Form aus sich heraus zu gestalten.

Es giebt gewiß nicht viele Menschen, die das vermögen; und so war
denn eine wirklich gute deutsche Geschichte für das Volk, die den durch Er¬
richtung des neuen Reiches gewonnenen Gesichtspunkten gerecht würde, bis
jetzt eiir unerfüllter Wunsch der Gebildeten geblieben.

Den Versuch, diese Lücke auszufüllen, hat nun neuerdings mit der ganzen
Kraft eines reichbegabten und auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung vielfach
bewährten Geistes Otto Kaemmel in seiner Deutschen Geschichte unter¬
nommen. Es muß billigerweise dem Urteile der historischen Fachzeitschriften
überlassen bleiben, festzustellen, inwieweit auch die historische Wissenschaft als
solche durch das Werk bereichert worden ist; wie weit aber dieses Buch den
oben ausgeführten Anforderungen, die an eine deutsche Geschichte für das ge¬
bildete Volk zu stellen sind, entspreche oder nicht entspreche, darüber möge
einem, der sich an Kaemmels Geschichte warm gelesen hat, ein Wort verstattet
sein, das vielleicht den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/615>, abgerufen am 30.06.2024.