Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line deutsche Geschichte aus dem "enen Reiche

Nicht minder wandelten sich die althergebrachten Urteile über Männer und
Verhältnisse der neuern Geschichte, indem einzelne unsrer großen Historiker nach
eingehenden archivalischen Forschungen große Persönlichkeiten oder einzelne
Geschichtsperioden der gelehrten Welt in ganz neuem Gewände und in neuer
Beleuchtung vorstellte". Zur bessern Erkenntnis aber der Geschichte unsers
Jahrhunderts schrieb eine größere Anzahl von Staatsmännern ihre Memoiren,
und sogar Fürsten ließen durch derartige Veröffentlichungen Blicke in sonst sorg¬
fältig gehütete Geheimnisse thun. Endlich ist in diesen Tagen von dem Alt¬
meister H. von Sybel eine aktenmäßige Darstellung der Begründung des deutschen
Reiches erschienen, zu der nicht nur die preußischen Staatsarchive, sondern selbst
die Registratur des Auswärtigen Amtes den Stoff geliefert haben.

Wer liest nun alle diese umfänglichen Werke oder einige von ihnen?
Wenn man von den Memvirenwerken und ähnlichen absieht, die ein persönliches
Interesse bieten, so sind es eben immer wieder nur die Fachleute, die Geschichts¬
forscher und Geschichtskundigen im engern Sinne des Wortes, oder die mit
verwandten Wissenschaften beschäftigten, die Zeit und Neigung haben, sich in
solchen Lesestoff zu vertiefen. Aber so selbstverständlich dies ans der einen
Seite erscheint, so sehr ist es auf der andern Seite zu bedauern, daß ueuer-
tauute geschichtliche Wahrheiten so schwer und so langsam den Weg zu den
breitern Schichten der Gebildeten finden; denn eine gründlichere Kenntnis der
Entwicklung unsers Volkes würde manchen häßlichen politischen Zank zum
Schweigen bringen, von manchem Abwege zurückrufen. Aber nicht bloß von
diesen: praktischen Gesichtspunkt aus, sondern anch um der idealeren Forderung
willen, daß jeder Mensch, um seines Daseins Rätsel leichter zu verstehen, we¬
nigstens die Geschichte seines Volkes gründlich kennen sollte, ist die Forderung
zu erheben, daß geschichtliche Kenntnisse und geschichtliche Anschnnungen in den
breitesten Kreisen der Gebildeten immer mehr heimisch werden.") Der Er¬
füllung dieser Forderung dient eine andre Art der Geschichtsschreibung als die
eben genannte gelehrte. Ich möchte diese Art über auch uicht schlechthin eine
populäre oder volkstümliche nennen, weil wir mit diesem Worte oft einen
andern Begriff verbinden als den, der hier das Richtige bezeichnet. Die soge¬
nannten populären Geschichtswerke kranken in der Regel an zwei Schwächen,
einmal an dein Streben nach Kürze um jeden Preis, das andremal an dem
Streben nach Verständlichkeit ohne Bemühung des Lesers. In dem erster"
Bestreben wird oft der Stoff, ohne Berücksichtigung des ttmstandes, daß zu



Unser Kaiser sprach im September dieses Jahres in Göttingen die Worte: "Ich
glaube, das; gerade durch das Studium der Geschichte das Volt eingeführt werden kann in
die Elemente, ans denen seine Entstehung, seine Kraft sich aufgebaut hat. Je eifriger und
eingehender die Geschichte dem Bolle eingeprägt wird, desto sicherer wird es das Verständnis
für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und
Denken erzogen werden."
Line deutsche Geschichte aus dem »enen Reiche

Nicht minder wandelten sich die althergebrachten Urteile über Männer und
Verhältnisse der neuern Geschichte, indem einzelne unsrer großen Historiker nach
eingehenden archivalischen Forschungen große Persönlichkeiten oder einzelne
Geschichtsperioden der gelehrten Welt in ganz neuem Gewände und in neuer
Beleuchtung vorstellte». Zur bessern Erkenntnis aber der Geschichte unsers
Jahrhunderts schrieb eine größere Anzahl von Staatsmännern ihre Memoiren,
und sogar Fürsten ließen durch derartige Veröffentlichungen Blicke in sonst sorg¬
fältig gehütete Geheimnisse thun. Endlich ist in diesen Tagen von dem Alt¬
meister H. von Sybel eine aktenmäßige Darstellung der Begründung des deutschen
Reiches erschienen, zu der nicht nur die preußischen Staatsarchive, sondern selbst
die Registratur des Auswärtigen Amtes den Stoff geliefert haben.

Wer liest nun alle diese umfänglichen Werke oder einige von ihnen?
Wenn man von den Memvirenwerken und ähnlichen absieht, die ein persönliches
Interesse bieten, so sind es eben immer wieder nur die Fachleute, die Geschichts¬
forscher und Geschichtskundigen im engern Sinne des Wortes, oder die mit
verwandten Wissenschaften beschäftigten, die Zeit und Neigung haben, sich in
solchen Lesestoff zu vertiefen. Aber so selbstverständlich dies ans der einen
Seite erscheint, so sehr ist es auf der andern Seite zu bedauern, daß ueuer-
tauute geschichtliche Wahrheiten so schwer und so langsam den Weg zu den
breitern Schichten der Gebildeten finden; denn eine gründlichere Kenntnis der
Entwicklung unsers Volkes würde manchen häßlichen politischen Zank zum
Schweigen bringen, von manchem Abwege zurückrufen. Aber nicht bloß von
diesen: praktischen Gesichtspunkt aus, sondern anch um der idealeren Forderung
willen, daß jeder Mensch, um seines Daseins Rätsel leichter zu verstehen, we¬
nigstens die Geschichte seines Volkes gründlich kennen sollte, ist die Forderung
zu erheben, daß geschichtliche Kenntnisse und geschichtliche Anschnnungen in den
breitesten Kreisen der Gebildeten immer mehr heimisch werden.") Der Er¬
füllung dieser Forderung dient eine andre Art der Geschichtsschreibung als die
eben genannte gelehrte. Ich möchte diese Art über auch uicht schlechthin eine
populäre oder volkstümliche nennen, weil wir mit diesem Worte oft einen
andern Begriff verbinden als den, der hier das Richtige bezeichnet. Die soge¬
nannten populären Geschichtswerke kranken in der Regel an zwei Schwächen,
einmal an dein Streben nach Kürze um jeden Preis, das andremal an dem
Streben nach Verständlichkeit ohne Bemühung des Lesers. In dem erster»
Bestreben wird oft der Stoff, ohne Berücksichtigung des ttmstandes, daß zu



Unser Kaiser sprach im September dieses Jahres in Göttingen die Worte: „Ich
glaube, das; gerade durch das Studium der Geschichte das Volt eingeführt werden kann in
die Elemente, ans denen seine Entstehung, seine Kraft sich aufgebaut hat. Je eifriger und
eingehender die Geschichte dem Bolle eingeprägt wird, desto sicherer wird es das Verständnis
für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und
Denken erzogen werden."
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0614" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206613"/>
          <fw type="header" place="top"> Line deutsche Geschichte aus dem »enen Reiche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2016" prev="#ID_2015"> Nicht minder wandelten sich die althergebrachten Urteile über Männer und<lb/>
Verhältnisse der neuern Geschichte, indem einzelne unsrer großen Historiker nach<lb/>
eingehenden archivalischen Forschungen große Persönlichkeiten oder einzelne<lb/>
Geschichtsperioden der gelehrten Welt in ganz neuem Gewände und in neuer<lb/>
Beleuchtung vorstellte». Zur bessern Erkenntnis aber der Geschichte unsers<lb/>
Jahrhunderts schrieb eine größere Anzahl von Staatsmännern ihre Memoiren,<lb/>
und sogar Fürsten ließen durch derartige Veröffentlichungen Blicke in sonst sorg¬<lb/>
fältig gehütete Geheimnisse thun. Endlich ist in diesen Tagen von dem Alt¬<lb/>
meister H. von Sybel eine aktenmäßige Darstellung der Begründung des deutschen<lb/>
Reiches erschienen, zu der nicht nur die preußischen Staatsarchive, sondern selbst<lb/>
die Registratur des Auswärtigen Amtes den Stoff geliefert haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2017" next="#ID_2018"> Wer liest nun alle diese umfänglichen Werke oder einige von ihnen?<lb/>
Wenn man von den Memvirenwerken und ähnlichen absieht, die ein persönliches<lb/>
Interesse bieten, so sind es eben immer wieder nur die Fachleute, die Geschichts¬<lb/>
forscher und Geschichtskundigen im engern Sinne des Wortes, oder die mit<lb/>
verwandten Wissenschaften beschäftigten, die Zeit und Neigung haben, sich in<lb/>
solchen Lesestoff zu vertiefen. Aber so selbstverständlich dies ans der einen<lb/>
Seite erscheint, so sehr ist es auf der andern Seite zu bedauern, daß ueuer-<lb/>
tauute geschichtliche Wahrheiten so schwer und so langsam den Weg zu den<lb/>
breitern Schichten der Gebildeten finden; denn eine gründlichere Kenntnis der<lb/>
Entwicklung unsers Volkes würde manchen häßlichen politischen Zank zum<lb/>
Schweigen bringen, von manchem Abwege zurückrufen. Aber nicht bloß von<lb/>
diesen: praktischen Gesichtspunkt aus, sondern anch um der idealeren Forderung<lb/>
willen, daß jeder Mensch, um seines Daseins Rätsel leichter zu verstehen, we¬<lb/>
nigstens die Geschichte seines Volkes gründlich kennen sollte, ist die Forderung<lb/>
zu erheben, daß geschichtliche Kenntnisse und geschichtliche Anschnnungen in den<lb/>
breitesten Kreisen der Gebildeten immer mehr heimisch werden.") Der Er¬<lb/>
füllung dieser Forderung dient eine andre Art der Geschichtsschreibung als die<lb/>
eben genannte gelehrte. Ich möchte diese Art über auch uicht schlechthin eine<lb/>
populäre oder volkstümliche nennen, weil wir mit diesem Worte oft einen<lb/>
andern Begriff verbinden als den, der hier das Richtige bezeichnet. Die soge¬<lb/>
nannten populären Geschichtswerke kranken in der Regel an zwei Schwächen,<lb/>
einmal an dein Streben nach Kürze um jeden Preis, das andremal an dem<lb/>
Streben nach Verständlichkeit ohne Bemühung des Lesers. In dem erster»<lb/>
Bestreben wird oft der Stoff, ohne Berücksichtigung des ttmstandes, daß zu</p><lb/>
          <note xml:id="FID_52" place="foot"> Unser Kaiser sprach im September dieses Jahres in Göttingen die Worte: &#x201E;Ich<lb/>
glaube, das; gerade durch das Studium der Geschichte das Volt eingeführt werden kann in<lb/>
die Elemente, ans denen seine Entstehung, seine Kraft sich aufgebaut hat. Je eifriger und<lb/>
eingehender die Geschichte dem Bolle eingeprägt wird, desto sicherer wird es das Verständnis<lb/>
für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und<lb/>
Denken erzogen werden."</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0614] Line deutsche Geschichte aus dem »enen Reiche Nicht minder wandelten sich die althergebrachten Urteile über Männer und Verhältnisse der neuern Geschichte, indem einzelne unsrer großen Historiker nach eingehenden archivalischen Forschungen große Persönlichkeiten oder einzelne Geschichtsperioden der gelehrten Welt in ganz neuem Gewände und in neuer Beleuchtung vorstellte». Zur bessern Erkenntnis aber der Geschichte unsers Jahrhunderts schrieb eine größere Anzahl von Staatsmännern ihre Memoiren, und sogar Fürsten ließen durch derartige Veröffentlichungen Blicke in sonst sorg¬ fältig gehütete Geheimnisse thun. Endlich ist in diesen Tagen von dem Alt¬ meister H. von Sybel eine aktenmäßige Darstellung der Begründung des deutschen Reiches erschienen, zu der nicht nur die preußischen Staatsarchive, sondern selbst die Registratur des Auswärtigen Amtes den Stoff geliefert haben. Wer liest nun alle diese umfänglichen Werke oder einige von ihnen? Wenn man von den Memvirenwerken und ähnlichen absieht, die ein persönliches Interesse bieten, so sind es eben immer wieder nur die Fachleute, die Geschichts¬ forscher und Geschichtskundigen im engern Sinne des Wortes, oder die mit verwandten Wissenschaften beschäftigten, die Zeit und Neigung haben, sich in solchen Lesestoff zu vertiefen. Aber so selbstverständlich dies ans der einen Seite erscheint, so sehr ist es auf der andern Seite zu bedauern, daß ueuer- tauute geschichtliche Wahrheiten so schwer und so langsam den Weg zu den breitern Schichten der Gebildeten finden; denn eine gründlichere Kenntnis der Entwicklung unsers Volkes würde manchen häßlichen politischen Zank zum Schweigen bringen, von manchem Abwege zurückrufen. Aber nicht bloß von diesen: praktischen Gesichtspunkt aus, sondern anch um der idealeren Forderung willen, daß jeder Mensch, um seines Daseins Rätsel leichter zu verstehen, we¬ nigstens die Geschichte seines Volkes gründlich kennen sollte, ist die Forderung zu erheben, daß geschichtliche Kenntnisse und geschichtliche Anschnnungen in den breitesten Kreisen der Gebildeten immer mehr heimisch werden.") Der Er¬ füllung dieser Forderung dient eine andre Art der Geschichtsschreibung als die eben genannte gelehrte. Ich möchte diese Art über auch uicht schlechthin eine populäre oder volkstümliche nennen, weil wir mit diesem Worte oft einen andern Begriff verbinden als den, der hier das Richtige bezeichnet. Die soge¬ nannten populären Geschichtswerke kranken in der Regel an zwei Schwächen, einmal an dein Streben nach Kürze um jeden Preis, das andremal an dem Streben nach Verständlichkeit ohne Bemühung des Lesers. In dem erster» Bestreben wird oft der Stoff, ohne Berücksichtigung des ttmstandes, daß zu Unser Kaiser sprach im September dieses Jahres in Göttingen die Worte: „Ich glaube, das; gerade durch das Studium der Geschichte das Volt eingeführt werden kann in die Elemente, ans denen seine Entstehung, seine Kraft sich aufgebaut hat. Je eifriger und eingehender die Geschichte dem Bolle eingeprägt wird, desto sicherer wird es das Verständnis für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und Denken erzogen werden."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/614
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/614>, abgerufen am 30.06.2024.