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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche

Zunächst fällt in Kaemmels Buch die Fülle des Stoffes auf, deu der
Verfasser nicht nur beherrscht, sondern auch auf verhältnismäßig knappen
Raume zur Anschauung bringt. Neben den allgemeinen Schicksalen des deutschen
Volkes ist, der föderalistischen Anlage unsrer Nation entsprechend, auch der
Sondcrgeschichte der einzelnen Landschaften und Fürstentümer, sogar der wich¬
tigern Städte (wie Köln, Straßburg, Lübeck, Nürnberg u, s, w.) ein so breiter
Raum verstattet worden, daß in dem Buche der Württembergs fo gut wie
der Sachse genügende Belehrung über die Schicksale der Heimat finden wird.
In der besondern Berücksichtigung der deutschen Kolonisation in Österreich er¬
kennt man den Verfasser der "Geschichte des Deutschtums in Österreich,"
ebenso ist die Kolonisation der Slawenlande des deutschen Reiches durchaus
selbständig nud meines Wissens noch nie so im Zusammenhange geschildert
worden. Neben der Politischen Geschichte ist mit Recht die Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte in allen ihren Zweigen, sowie die Geschichte der Litteratur,
der Künste, des religiösen Lebens u. s. w. so ausführlich behandelt worden,
wie in keinem andern Geschichtswerke ähnlichen Umfangs. Diese Reichhaltig¬
keit ans verhältnismäßig engem Raume ist erreicht worden dnrch markige
und gedrungene Darstellung, dann aber auch durch rücksichtsloses Wegschneiden
des Entbehrlichen.

So sind z. B. die üblichen kriegsgeschichtlichen Schilderungen und ewig
sich gleichenden Schlachtberichte, die für den Fachmann zu wenig, für den
Laien, weil unverständlich, gar nichts bieten, weggelassen zu Gunsten weniger
wirklich eingehenden, lebensvollen, sogar das Wetter genau berücksichtigenden
Darstellungen der wichtigen und typischen Schlachten, z. V. im Teutoburger
Walde, bei Fehrbellin, der Entsetzung Wiens, bei Höchftädt, Austerlitz, Leipzig,
Königgrntz, Metz, Sedan, Eigentlich hätte diese weise Beschmnknng auch dazu
führen sollen, die spätern Kämpfe der Römer und Germanen zwischen 100
und Z75 n. Chr. noch kürzer zu fassen und namentlich in den ersten Abschnitten
des Mittelalters z. B. in der Erzählung vom Untergange des weströmischen
Reiches manchen überflüssigen Namen wegzulassen. Doch wird sich die an
wenigen Stellen hervortretende Überfülle an Namen leicht beseitigen lassen;
im allgemeinen ist trotz der Vielfältigkeit des Stoffes die Einheit der Hand¬
lung trefflich gewahrt, alle Einzelheiten gruppiren sich harmonisch um den
Hauptgedanken: die Entwicklung des deutschen Volkstnmes, die Entstehung der
nationalen Einheit.

Die Herrschaft dieses Gedankens über alle andern zeigt klar und deutlich
die eigenartige, durchaus neue Gliederung. Von dem Gedanken aus, daß die
wichtigste Angelegenheit der deutschen Geschichte die Bildung der nationalen
Einheit sei, kommt Kaemmel dazu, die althergebrachten Perioden über
den Haufen zu werfen und von der Entstehung des Frankenreiches an bis zur
Gegenwart nur zwei Hauptteile in der Geschichte des Deutschen zu erkennen:


Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche

Zunächst fällt in Kaemmels Buch die Fülle des Stoffes auf, deu der
Verfasser nicht nur beherrscht, sondern auch auf verhältnismäßig knappen
Raume zur Anschauung bringt. Neben den allgemeinen Schicksalen des deutschen
Volkes ist, der föderalistischen Anlage unsrer Nation entsprechend, auch der
Sondcrgeschichte der einzelnen Landschaften und Fürstentümer, sogar der wich¬
tigern Städte (wie Köln, Straßburg, Lübeck, Nürnberg u, s, w.) ein so breiter
Raum verstattet worden, daß in dem Buche der Württembergs fo gut wie
der Sachse genügende Belehrung über die Schicksale der Heimat finden wird.
In der besondern Berücksichtigung der deutschen Kolonisation in Österreich er¬
kennt man den Verfasser der „Geschichte des Deutschtums in Österreich,"
ebenso ist die Kolonisation der Slawenlande des deutschen Reiches durchaus
selbständig nud meines Wissens noch nie so im Zusammenhange geschildert
worden. Neben der Politischen Geschichte ist mit Recht die Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte in allen ihren Zweigen, sowie die Geschichte der Litteratur,
der Künste, des religiösen Lebens u. s. w. so ausführlich behandelt worden,
wie in keinem andern Geschichtswerke ähnlichen Umfangs. Diese Reichhaltig¬
keit ans verhältnismäßig engem Raume ist erreicht worden dnrch markige
und gedrungene Darstellung, dann aber auch durch rücksichtsloses Wegschneiden
des Entbehrlichen.

So sind z. B. die üblichen kriegsgeschichtlichen Schilderungen und ewig
sich gleichenden Schlachtberichte, die für den Fachmann zu wenig, für den
Laien, weil unverständlich, gar nichts bieten, weggelassen zu Gunsten weniger
wirklich eingehenden, lebensvollen, sogar das Wetter genau berücksichtigenden
Darstellungen der wichtigen und typischen Schlachten, z. V. im Teutoburger
Walde, bei Fehrbellin, der Entsetzung Wiens, bei Höchftädt, Austerlitz, Leipzig,
Königgrntz, Metz, Sedan, Eigentlich hätte diese weise Beschmnknng auch dazu
führen sollen, die spätern Kämpfe der Römer und Germanen zwischen 100
und Z75 n. Chr. noch kürzer zu fassen und namentlich in den ersten Abschnitten
des Mittelalters z. B. in der Erzählung vom Untergange des weströmischen
Reiches manchen überflüssigen Namen wegzulassen. Doch wird sich die an
wenigen Stellen hervortretende Überfülle an Namen leicht beseitigen lassen;
im allgemeinen ist trotz der Vielfältigkeit des Stoffes die Einheit der Hand¬
lung trefflich gewahrt, alle Einzelheiten gruppiren sich harmonisch um den
Hauptgedanken: die Entwicklung des deutschen Volkstnmes, die Entstehung der
nationalen Einheit.

Die Herrschaft dieses Gedankens über alle andern zeigt klar und deutlich
die eigenartige, durchaus neue Gliederung. Von dem Gedanken aus, daß die
wichtigste Angelegenheit der deutschen Geschichte die Bildung der nationalen
Einheit sei, kommt Kaemmel dazu, die althergebrachten Perioden über
den Haufen zu werfen und von der Entstehung des Frankenreiches an bis zur
Gegenwart nur zwei Hauptteile in der Geschichte des Deutschen zu erkennen:


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[0616] Eine deutsche Geschichte aus dem neuen Reiche Zunächst fällt in Kaemmels Buch die Fülle des Stoffes auf, deu der Verfasser nicht nur beherrscht, sondern auch auf verhältnismäßig knappen Raume zur Anschauung bringt. Neben den allgemeinen Schicksalen des deutschen Volkes ist, der föderalistischen Anlage unsrer Nation entsprechend, auch der Sondcrgeschichte der einzelnen Landschaften und Fürstentümer, sogar der wich¬ tigern Städte (wie Köln, Straßburg, Lübeck, Nürnberg u, s, w.) ein so breiter Raum verstattet worden, daß in dem Buche der Württembergs fo gut wie der Sachse genügende Belehrung über die Schicksale der Heimat finden wird. In der besondern Berücksichtigung der deutschen Kolonisation in Österreich er¬ kennt man den Verfasser der „Geschichte des Deutschtums in Österreich," ebenso ist die Kolonisation der Slawenlande des deutschen Reiches durchaus selbständig nud meines Wissens noch nie so im Zusammenhange geschildert worden. Neben der Politischen Geschichte ist mit Recht die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in allen ihren Zweigen, sowie die Geschichte der Litteratur, der Künste, des religiösen Lebens u. s. w. so ausführlich behandelt worden, wie in keinem andern Geschichtswerke ähnlichen Umfangs. Diese Reichhaltig¬ keit ans verhältnismäßig engem Raume ist erreicht worden dnrch markige und gedrungene Darstellung, dann aber auch durch rücksichtsloses Wegschneiden des Entbehrlichen. So sind z. B. die üblichen kriegsgeschichtlichen Schilderungen und ewig sich gleichenden Schlachtberichte, die für den Fachmann zu wenig, für den Laien, weil unverständlich, gar nichts bieten, weggelassen zu Gunsten weniger wirklich eingehenden, lebensvollen, sogar das Wetter genau berücksichtigenden Darstellungen der wichtigen und typischen Schlachten, z. V. im Teutoburger Walde, bei Fehrbellin, der Entsetzung Wiens, bei Höchftädt, Austerlitz, Leipzig, Königgrntz, Metz, Sedan, Eigentlich hätte diese weise Beschmnknng auch dazu führen sollen, die spätern Kämpfe der Römer und Germanen zwischen 100 und Z75 n. Chr. noch kürzer zu fassen und namentlich in den ersten Abschnitten des Mittelalters z. B. in der Erzählung vom Untergange des weströmischen Reiches manchen überflüssigen Namen wegzulassen. Doch wird sich die an wenigen Stellen hervortretende Überfülle an Namen leicht beseitigen lassen; im allgemeinen ist trotz der Vielfältigkeit des Stoffes die Einheit der Hand¬ lung trefflich gewahrt, alle Einzelheiten gruppiren sich harmonisch um den Hauptgedanken: die Entwicklung des deutschen Volkstnmes, die Entstehung der nationalen Einheit. Die Herrschaft dieses Gedankens über alle andern zeigt klar und deutlich die eigenartige, durchaus neue Gliederung. Von dem Gedanken aus, daß die wichtigste Angelegenheit der deutschen Geschichte die Bildung der nationalen Einheit sei, kommt Kaemmel dazu, die althergebrachten Perioden über den Haufen zu werfen und von der Entstehung des Frankenreiches an bis zur Gegenwart nur zwei Hauptteile in der Geschichte des Deutschen zu erkennen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/616>, abgerufen am 30.06.2024.