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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

lich ein Gewicht, dann eine Geldsumme bedeutete, bei den christlichen Völkern
zu der Bedeutung "Geistesanlage" gekommen. Um an Darwins Lehre ist die
Verbindung dieser Bestandteile zu einem Ganzen, und gerade die Art, wie er
diese Verbindung herstellt, enthält viel Anfechtbares.

Die wichtigste und wohlthätigste Wirkung, die der Darwinismus bei uns
in Deutschland geübt hat, dürfte darin bestehen, daß er die beginnende Reaktion
gegen einen zügellosen, selbstsüchtigen Individualismus verstärkte, indem er die
Abhängigkeit des Individuums von der Gattung lind den höhern Wert der
Gemeinschaft im Vergleich zum Werte der Einzelnen wieder allgemein zum
Bewußtsein brachte. Aber nachdem diese Bewegung längst über ihr Ziel hinaus¬
geschossen hat, sollte jetzt die entgegengesetzte, ergänzende Wahrheit wieder mehr
beachtet werden, und als deren Vertreter mochte ich Buckle empfehlen. Wenn
es einerseits richtig ist, daß der Einzelne nicht vorhanden wäre ohne die Gattung
und daß er sich nur in Wechselwirkung mit seinesgleichen entfaltet, so kann doch
anderseits nicht geleugnet werde", daß ohne die Einzelnen auch keine Gattung
vorhanden wäre, die ja weiter nichts ist, als die Gesamtheit gleichartiger Einzel-
wesen. Und wenn es Pflicht ist, das eigne Wohl dem Gemeinwohl unter¬
zuordnen, so hat diese Pflicht doch nur so lange einen Sinn, als man unter
dein Gemeinwohl das Wohl aller einzelnen Personen versteht, die die Gemein¬
schaft ausmachen. Im politischen Leben wie in der Wissenschaft wird diese
einfache Wahrheit nur allzuoft und allzuleicht aus den Augen verloren, und
man mutet deu Menschen zu, sich für ein Allgemeines zu opfern, das keine
Gemeinschaft lebendiger Menschen mehr ist, sondern nnr ein Staats-, Kirchen¬
oder Gesellschaftsbegriff, ein Abstraktum. Hierdurch verliert das Wort Gemein¬
wohl allen Sinn, denn Abstrakt" befinden sich weder wohl noch übel. Und die
Verehrung leerer Begriffe fälscht zu guter letzt die einfachsten Empfindungen,
wie denn Mazzini z. B. gestand, daß er die Menschheit zwar liebe, aber jedem
einzelnen Menschen gram sei.

Auch daß der Darwinismus dem Menschen die leibliche Seite seines Da¬
seins und deren Wichtigkeit zum lebendigen Bewußtsein brachte, war von großem
Nutzen gegenüber einer Staatskunst, Philosophie, Pflichtenlehre und Pädagogik,
die den Menschen als reinen Geist, den Leib entweder als Hindernis der Voll¬
kommenheit oder als (irmutitv uegliZizablo auffaßte und so die einfachen Gemüter
verwirrte und stets über Mißerfolge klagen mußte. Aber der Darwinismus
geht anch hierin zu weit. Buckle weist ebenfalls, von einer andern Seite her,
die Abhängigkeit des Geistes von der Natur nach, zugleich aber auch, daß der
Fortschritt der Zivilisation diese Abhängigkeit vermindert dnrch die Denk¬
thätigkeit des Einzelgeistes, der nicht den Naturgesetzen, sondern seinen eignen
Gesetzen folgt. Buckle läßt den Geist zwar stets an die Natur gebunden bleiben,
aber nicht in ihr untergehen. Die Darwinianer vermögen den Geist ans dem
chemischen Brei, in den sie ihn aufgelöst haben, nicht mehr zurückzugewinnen;


Buckle und Darwin

lich ein Gewicht, dann eine Geldsumme bedeutete, bei den christlichen Völkern
zu der Bedeutung „Geistesanlage" gekommen. Um an Darwins Lehre ist die
Verbindung dieser Bestandteile zu einem Ganzen, und gerade die Art, wie er
diese Verbindung herstellt, enthält viel Anfechtbares.

Die wichtigste und wohlthätigste Wirkung, die der Darwinismus bei uns
in Deutschland geübt hat, dürfte darin bestehen, daß er die beginnende Reaktion
gegen einen zügellosen, selbstsüchtigen Individualismus verstärkte, indem er die
Abhängigkeit des Individuums von der Gattung lind den höhern Wert der
Gemeinschaft im Vergleich zum Werte der Einzelnen wieder allgemein zum
Bewußtsein brachte. Aber nachdem diese Bewegung längst über ihr Ziel hinaus¬
geschossen hat, sollte jetzt die entgegengesetzte, ergänzende Wahrheit wieder mehr
beachtet werden, und als deren Vertreter mochte ich Buckle empfehlen. Wenn
es einerseits richtig ist, daß der Einzelne nicht vorhanden wäre ohne die Gattung
und daß er sich nur in Wechselwirkung mit seinesgleichen entfaltet, so kann doch
anderseits nicht geleugnet werde», daß ohne die Einzelnen auch keine Gattung
vorhanden wäre, die ja weiter nichts ist, als die Gesamtheit gleichartiger Einzel-
wesen. Und wenn es Pflicht ist, das eigne Wohl dem Gemeinwohl unter¬
zuordnen, so hat diese Pflicht doch nur so lange einen Sinn, als man unter
dein Gemeinwohl das Wohl aller einzelnen Personen versteht, die die Gemein¬
schaft ausmachen. Im politischen Leben wie in der Wissenschaft wird diese
einfache Wahrheit nur allzuoft und allzuleicht aus den Augen verloren, und
man mutet deu Menschen zu, sich für ein Allgemeines zu opfern, das keine
Gemeinschaft lebendiger Menschen mehr ist, sondern nnr ein Staats-, Kirchen¬
oder Gesellschaftsbegriff, ein Abstraktum. Hierdurch verliert das Wort Gemein¬
wohl allen Sinn, denn Abstrakt« befinden sich weder wohl noch übel. Und die
Verehrung leerer Begriffe fälscht zu guter letzt die einfachsten Empfindungen,
wie denn Mazzini z. B. gestand, daß er die Menschheit zwar liebe, aber jedem
einzelnen Menschen gram sei.

Auch daß der Darwinismus dem Menschen die leibliche Seite seines Da¬
seins und deren Wichtigkeit zum lebendigen Bewußtsein brachte, war von großem
Nutzen gegenüber einer Staatskunst, Philosophie, Pflichtenlehre und Pädagogik,
die den Menschen als reinen Geist, den Leib entweder als Hindernis der Voll¬
kommenheit oder als (irmutitv uegliZizablo auffaßte und so die einfachen Gemüter
verwirrte und stets über Mißerfolge klagen mußte. Aber der Darwinismus
geht anch hierin zu weit. Buckle weist ebenfalls, von einer andern Seite her,
die Abhängigkeit des Geistes von der Natur nach, zugleich aber auch, daß der
Fortschritt der Zivilisation diese Abhängigkeit vermindert dnrch die Denk¬
thätigkeit des Einzelgeistes, der nicht den Naturgesetzen, sondern seinen eignen
Gesetzen folgt. Buckle läßt den Geist zwar stets an die Natur gebunden bleiben,
aber nicht in ihr untergehen. Die Darwinianer vermögen den Geist ans dem
chemischen Brei, in den sie ihn aufgelöst haben, nicht mehr zurückzugewinnen;


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[0604] Buckle und Darwin lich ein Gewicht, dann eine Geldsumme bedeutete, bei den christlichen Völkern zu der Bedeutung „Geistesanlage" gekommen. Um an Darwins Lehre ist die Verbindung dieser Bestandteile zu einem Ganzen, und gerade die Art, wie er diese Verbindung herstellt, enthält viel Anfechtbares. Die wichtigste und wohlthätigste Wirkung, die der Darwinismus bei uns in Deutschland geübt hat, dürfte darin bestehen, daß er die beginnende Reaktion gegen einen zügellosen, selbstsüchtigen Individualismus verstärkte, indem er die Abhängigkeit des Individuums von der Gattung lind den höhern Wert der Gemeinschaft im Vergleich zum Werte der Einzelnen wieder allgemein zum Bewußtsein brachte. Aber nachdem diese Bewegung längst über ihr Ziel hinaus¬ geschossen hat, sollte jetzt die entgegengesetzte, ergänzende Wahrheit wieder mehr beachtet werden, und als deren Vertreter mochte ich Buckle empfehlen. Wenn es einerseits richtig ist, daß der Einzelne nicht vorhanden wäre ohne die Gattung und daß er sich nur in Wechselwirkung mit seinesgleichen entfaltet, so kann doch anderseits nicht geleugnet werde», daß ohne die Einzelnen auch keine Gattung vorhanden wäre, die ja weiter nichts ist, als die Gesamtheit gleichartiger Einzel- wesen. Und wenn es Pflicht ist, das eigne Wohl dem Gemeinwohl unter¬ zuordnen, so hat diese Pflicht doch nur so lange einen Sinn, als man unter dein Gemeinwohl das Wohl aller einzelnen Personen versteht, die die Gemein¬ schaft ausmachen. Im politischen Leben wie in der Wissenschaft wird diese einfache Wahrheit nur allzuoft und allzuleicht aus den Augen verloren, und man mutet deu Menschen zu, sich für ein Allgemeines zu opfern, das keine Gemeinschaft lebendiger Menschen mehr ist, sondern nnr ein Staats-, Kirchen¬ oder Gesellschaftsbegriff, ein Abstraktum. Hierdurch verliert das Wort Gemein¬ wohl allen Sinn, denn Abstrakt« befinden sich weder wohl noch übel. Und die Verehrung leerer Begriffe fälscht zu guter letzt die einfachsten Empfindungen, wie denn Mazzini z. B. gestand, daß er die Menschheit zwar liebe, aber jedem einzelnen Menschen gram sei. Auch daß der Darwinismus dem Menschen die leibliche Seite seines Da¬ seins und deren Wichtigkeit zum lebendigen Bewußtsein brachte, war von großem Nutzen gegenüber einer Staatskunst, Philosophie, Pflichtenlehre und Pädagogik, die den Menschen als reinen Geist, den Leib entweder als Hindernis der Voll¬ kommenheit oder als (irmutitv uegliZizablo auffaßte und so die einfachen Gemüter verwirrte und stets über Mißerfolge klagen mußte. Aber der Darwinismus geht anch hierin zu weit. Buckle weist ebenfalls, von einer andern Seite her, die Abhängigkeit des Geistes von der Natur nach, zugleich aber auch, daß der Fortschritt der Zivilisation diese Abhängigkeit vermindert dnrch die Denk¬ thätigkeit des Einzelgeistes, der nicht den Naturgesetzen, sondern seinen eignen Gesetzen folgt. Buckle läßt den Geist zwar stets an die Natur gebunden bleiben, aber nicht in ihr untergehen. Die Darwinianer vermögen den Geist ans dem chemischen Brei, in den sie ihn aufgelöst haben, nicht mehr zurückzugewinnen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/604>, abgerufen am 22.12.2024.