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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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voll erhalten aller haben sie sich in der Wortzusammensetzung eben unter dem
Schütze der Zusammensetzung. Man denke an Sonnenschein, Frauenkirche
öd. i, die Kirche der Jungfrau Maria), Erdenrund, Lindenblatt, Aschen¬
becher, Taschentuch, Gassenjunge, Kohleuzeichnuug, Leichenpredigt,
Gnadengesuch, Breitengrad, Muldenthal. Sogar Lehn- und Fremd¬
wörter haben sich in der Zusammensetzung diesem guten, alten schwachen Genetiv
angeschlossen, wie in Straszenpflaster, Tintenfaß, Kirchendiener, Visiten¬
karte, Toilettentisch, Promenadenfücher. Da haben sich nun neuer¬
dings offenbar kluge Leute die Frage vorgelegt: Was soll das n in diesen
Wörter"? ein n bezeichnet ja die Mehrzahl, und die hat hier gar keinen Sinn,
also hinaus damit! Und so schreibt und drückt man jetzt wahrhaftig: Asche¬
becher, Aschegrube, Tintesaß, Sahnekäse, Stellegesnch, Muldethnl,
Visitekarte, Toiletteseife, Promenadeplatz, Chokoladefabrik ". s. w.
In allen Banzeitnngen muß man von Lageplau lesen -- so haben die Herren
Architekten, die ja erfreulicherweise eifrige Sprachreiniger geworden sind, Situa¬
tionsplan übersetzt --, in alle" Kunftzeitschriften von Kohlezeichnungen.
Wer nicht fühlt, daß das das reine Gestammel ist, der thut mir aufrichtig leid.
Es klingt so, als ob kleine Kinder dahlten, die erst reden lernen und noch nicht
alle Konsonanten bewältigen können. Man setze sich auch das nur weiter im
Geiste fort. Was wird die Folge sein? Daß wir in Zukunft auch lallen:
Svnneschein, Taschetnch, Roseduft, Geigespieler u. s. w. Nein, wenn
der alte schwache Genetiv durchaus nicht mehr benntzt werden soll, dann bleibt
mir eine Möglichkeit der Zusammensetzung, die, daß man das e abwirft und
nur den reinen Stamm beibehält. So haben Nur neben Kirchenbuch und
Kirchendiener Kirchspiel und Kirchvater, neben Mühlenstraße Mühl¬
gasse, neben Muldenthal und Muldenbett Elbthal, Elbufer und Elb-
brücke. Aber eine so klägliche Leimerei wie Saalezeitung ist über die Maßen
scheußlich.

Und doch wird namentlich bei der Taufe neuer Straße" oder Gebäude
nur noch in dieser Weise geleimt, von organischer Verbindung ist keine Rede
mehr. Wer wäre vor hundert Jahren imstande gewesen, eine Straße
Augustastraße, ein Haus Marthahaus zu nennen? Da bildete man
Annenkirche, Katharinenstra ße, und es fiel doch auch niemand ein, dabei
an eine Mehrzahl von Anne" oder Katharine" zu denke".

Da haben also Wohl die Schenkwirte, die statt der früher allgemein
üblichen Speisekarte eine Speisenkarte eingeführt haben, etwas sehr Welses
gethan? Haben sie nicht den guten, alten Genetiv wieder hergestellt? Nein,
daran haben sie nicht gedacht, sie haben die Mehrzahl ausdrücken wollen, denn
sie haben sich gesagt: auf meiner Karte steht doch nicht bloß eine Speise.
Damit sind sie aber nun auch wieder gründlich hineingefallen. Wenn nur
das Volk nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal


voll erhalten aller haben sie sich in der Wortzusammensetzung eben unter dem
Schütze der Zusammensetzung. Man denke an Sonnenschein, Frauenkirche
öd. i, die Kirche der Jungfrau Maria), Erdenrund, Lindenblatt, Aschen¬
becher, Taschentuch, Gassenjunge, Kohleuzeichnuug, Leichenpredigt,
Gnadengesuch, Breitengrad, Muldenthal. Sogar Lehn- und Fremd¬
wörter haben sich in der Zusammensetzung diesem guten, alten schwachen Genetiv
angeschlossen, wie in Straszenpflaster, Tintenfaß, Kirchendiener, Visiten¬
karte, Toilettentisch, Promenadenfücher. Da haben sich nun neuer¬
dings offenbar kluge Leute die Frage vorgelegt: Was soll das n in diesen
Wörter»? ein n bezeichnet ja die Mehrzahl, und die hat hier gar keinen Sinn,
also hinaus damit! Und so schreibt und drückt man jetzt wahrhaftig: Asche¬
becher, Aschegrube, Tintesaß, Sahnekäse, Stellegesnch, Muldethnl,
Visitekarte, Toiletteseife, Promenadeplatz, Chokoladefabrik ». s. w.
In allen Banzeitnngen muß man von Lageplau lesen — so haben die Herren
Architekten, die ja erfreulicherweise eifrige Sprachreiniger geworden sind, Situa¬
tionsplan übersetzt —, in alle» Kunftzeitschriften von Kohlezeichnungen.
Wer nicht fühlt, daß das das reine Gestammel ist, der thut mir aufrichtig leid.
Es klingt so, als ob kleine Kinder dahlten, die erst reden lernen und noch nicht
alle Konsonanten bewältigen können. Man setze sich auch das nur weiter im
Geiste fort. Was wird die Folge sein? Daß wir in Zukunft auch lallen:
Svnneschein, Taschetnch, Roseduft, Geigespieler u. s. w. Nein, wenn
der alte schwache Genetiv durchaus nicht mehr benntzt werden soll, dann bleibt
mir eine Möglichkeit der Zusammensetzung, die, daß man das e abwirft und
nur den reinen Stamm beibehält. So haben Nur neben Kirchenbuch und
Kirchendiener Kirchspiel und Kirchvater, neben Mühlenstraße Mühl¬
gasse, neben Muldenthal und Muldenbett Elbthal, Elbufer und Elb-
brücke. Aber eine so klägliche Leimerei wie Saalezeitung ist über die Maßen
scheußlich.

Und doch wird namentlich bei der Taufe neuer Straße» oder Gebäude
nur noch in dieser Weise geleimt, von organischer Verbindung ist keine Rede
mehr. Wer wäre vor hundert Jahren imstande gewesen, eine Straße
Augustastraße, ein Haus Marthahaus zu nennen? Da bildete man
Annenkirche, Katharinenstra ße, und es fiel doch auch niemand ein, dabei
an eine Mehrzahl von Anne» oder Katharine» zu denke».

Da haben also Wohl die Schenkwirte, die statt der früher allgemein
üblichen Speisekarte eine Speisenkarte eingeführt haben, etwas sehr Welses
gethan? Haben sie nicht den guten, alten Genetiv wieder hergestellt? Nein,
daran haben sie nicht gedacht, sie haben die Mehrzahl ausdrücken wollen, denn
sie haben sich gesagt: auf meiner Karte steht doch nicht bloß eine Speise.
Damit sind sie aber nun auch wieder gründlich hineingefallen. Wenn nur
das Volk nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal


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[0576] voll erhalten aller haben sie sich in der Wortzusammensetzung eben unter dem Schütze der Zusammensetzung. Man denke an Sonnenschein, Frauenkirche öd. i, die Kirche der Jungfrau Maria), Erdenrund, Lindenblatt, Aschen¬ becher, Taschentuch, Gassenjunge, Kohleuzeichnuug, Leichenpredigt, Gnadengesuch, Breitengrad, Muldenthal. Sogar Lehn- und Fremd¬ wörter haben sich in der Zusammensetzung diesem guten, alten schwachen Genetiv angeschlossen, wie in Straszenpflaster, Tintenfaß, Kirchendiener, Visiten¬ karte, Toilettentisch, Promenadenfücher. Da haben sich nun neuer¬ dings offenbar kluge Leute die Frage vorgelegt: Was soll das n in diesen Wörter»? ein n bezeichnet ja die Mehrzahl, und die hat hier gar keinen Sinn, also hinaus damit! Und so schreibt und drückt man jetzt wahrhaftig: Asche¬ becher, Aschegrube, Tintesaß, Sahnekäse, Stellegesnch, Muldethnl, Visitekarte, Toiletteseife, Promenadeplatz, Chokoladefabrik ». s. w. In allen Banzeitnngen muß man von Lageplau lesen — so haben die Herren Architekten, die ja erfreulicherweise eifrige Sprachreiniger geworden sind, Situa¬ tionsplan übersetzt —, in alle» Kunftzeitschriften von Kohlezeichnungen. Wer nicht fühlt, daß das das reine Gestammel ist, der thut mir aufrichtig leid. Es klingt so, als ob kleine Kinder dahlten, die erst reden lernen und noch nicht alle Konsonanten bewältigen können. Man setze sich auch das nur weiter im Geiste fort. Was wird die Folge sein? Daß wir in Zukunft auch lallen: Svnneschein, Taschetnch, Roseduft, Geigespieler u. s. w. Nein, wenn der alte schwache Genetiv durchaus nicht mehr benntzt werden soll, dann bleibt mir eine Möglichkeit der Zusammensetzung, die, daß man das e abwirft und nur den reinen Stamm beibehält. So haben Nur neben Kirchenbuch und Kirchendiener Kirchspiel und Kirchvater, neben Mühlenstraße Mühl¬ gasse, neben Muldenthal und Muldenbett Elbthal, Elbufer und Elb- brücke. Aber eine so klägliche Leimerei wie Saalezeitung ist über die Maßen scheußlich. Und doch wird namentlich bei der Taufe neuer Straße» oder Gebäude nur noch in dieser Weise geleimt, von organischer Verbindung ist keine Rede mehr. Wer wäre vor hundert Jahren imstande gewesen, eine Straße Augustastraße, ein Haus Marthahaus zu nennen? Da bildete man Annenkirche, Katharinenstra ße, und es fiel doch auch niemand ein, dabei an eine Mehrzahl von Anne» oder Katharine» zu denke». Da haben also Wohl die Schenkwirte, die statt der früher allgemein üblichen Speisekarte eine Speisenkarte eingeführt haben, etwas sehr Welses gethan? Haben sie nicht den guten, alten Genetiv wieder hergestellt? Nein, daran haben sie nicht gedacht, sie haben die Mehrzahl ausdrücken wollen, denn sie haben sich gesagt: auf meiner Karte steht doch nicht bloß eine Speise. Damit sind sie aber nun auch wieder gründlich hineingefallen. Wenn nur das Volk nicht mit Überlegung an der Sprache ändern wollte, es wird allemal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/576>, abgerufen am 22.12.2024.