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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Sprachdummheiten

eine Dummheit fertig! In Speisekarte ist die erste Hälfte nicht durch das
Substantivum Speise gebildet, sondern durch den Verbalstamm. Die Speise¬
karte ist die Karte, nach der man speist, wie die Tanzkarte die Karte, nach
der man tanzt, die Spielregel die Regel, nach der man spielt, die Bau¬
ordnung die Ordnung, nach der man baut, die Singweise die Weise, nach
der man singt, das Stickmuster das Muster, nach dem man stickt, die Zähl¬
methode die Methode, nach der man zählt u. s. w. Hätten die Schenkwirte
mit ihrer Speiseukarte Recht, dann müßte man ja auch Tänzekarte sagen.
Ähnlich verhält sichs mit dem neuen Modewort Anhaltspilnkt. Früher sagte
man: ich habe dafür keinen Anhaltepunkt, d. h. keine Stelle, wo ich mich
anhalten kann; der erste Teil der Zusammensetzung war wieder der Verbal¬
stamm, wie in Speisekarte. Daneben hatte man noch in demselben Sinne
das Substantiv Anhalt; man sagte: dafür fehlt es mir an jedem Anhalt.
Aber Anhaltspunkt, so beliebt es auch neuerdings zu werden anfängt
wahrscheinlich glaubt man damit einen feinen Unterschied geschaffen zu
haben von den Anhaltepunkten auf deu Eisenbahnen, als ob Anhalte-
Punkt nicht ebensogut den Ort bezeichnen konnte, wo man sich anhält, wie
den, wo man anhält! -- Anhaltspunkt ist Unsinn.

Auch unter deu sonstigen Zusammensetzungen, deren Bestimmungswort ein
Verbum ist, sind einige, die man fortwährend falsch gebildet findet, nämlich:
Zeichnenbuch, Zeichnenheft, Zeichnensaal, Rechnenheft. Eine dunkle
Kunde davon, daß diese Formen falsch find, und warum sie es sind, ist zwar
neuerdings selbst bis in die Kreise der Volksschule gedrungen; dennoch muß
man die falschen Formen noch täglich neben den richtigen lesen. Es kommt
hier folgende Regel in Betracht. Das Verbum kann in der ersten Hälfte von
Zusammensetzungen nnr in der Form des Verbalstammes erscheinen; es
heißt: Sprichwort, Schreibfeder, Stehpult, Rauchzimmer, Sing¬
stunde. Nun giebt es einige Verbalstümme, die auf n ausgehen, nämlich
zeichen --, rechen --, trocken --, Waffen --, turn --, wovon die In¬
finitive rechnen (eigentlich rechenen), zeichnen, trocknen, waffnen,
turnen heißen. Werden diese zusammengesetzt, so können natürlich nur Formen
entstehen wie Rechenstunde, Zeichensaal, Trockenplatz, Waffenrock,
Turnhalle. Wäre Nechnenbuch richtig, dann müßte man auch sagen:
Waffueurvck, Turuenhalle, Schrcibeufeder, Neißenzeug, Singeu-
stunde. Bei der Entstehung der falschen Formen mag wohl wieder ein ge¬
wisses Uuterscheiduugsbedürfuis im Spiele gewesen sein: man wollte den
Gleichklang mit den Substantiven Zeichen und Rechen vermeiden. Aber diese
Besorgnis vor Mißverständnissen ist doch wahrhaftig überflüssig.

Mau schwelgt aber jetzt auch in Zusammensetzungen oder vielmehr Zu-
sammenschiebungen, die man überhaupt uicht bilden, sondern durch Genetive
oder Adjektiv" ersetzen sollte. Goethehaus, Goethebildnis, Goethe-


Grenzbowi 1389 IV 72
Allerhand Sprachdummheiten

eine Dummheit fertig! In Speisekarte ist die erste Hälfte nicht durch das
Substantivum Speise gebildet, sondern durch den Verbalstamm. Die Speise¬
karte ist die Karte, nach der man speist, wie die Tanzkarte die Karte, nach
der man tanzt, die Spielregel die Regel, nach der man spielt, die Bau¬
ordnung die Ordnung, nach der man baut, die Singweise die Weise, nach
der man singt, das Stickmuster das Muster, nach dem man stickt, die Zähl¬
methode die Methode, nach der man zählt u. s. w. Hätten die Schenkwirte
mit ihrer Speiseukarte Recht, dann müßte man ja auch Tänzekarte sagen.
Ähnlich verhält sichs mit dem neuen Modewort Anhaltspilnkt. Früher sagte
man: ich habe dafür keinen Anhaltepunkt, d. h. keine Stelle, wo ich mich
anhalten kann; der erste Teil der Zusammensetzung war wieder der Verbal¬
stamm, wie in Speisekarte. Daneben hatte man noch in demselben Sinne
das Substantiv Anhalt; man sagte: dafür fehlt es mir an jedem Anhalt.
Aber Anhaltspunkt, so beliebt es auch neuerdings zu werden anfängt
wahrscheinlich glaubt man damit einen feinen Unterschied geschaffen zu
haben von den Anhaltepunkten auf deu Eisenbahnen, als ob Anhalte-
Punkt nicht ebensogut den Ort bezeichnen konnte, wo man sich anhält, wie
den, wo man anhält! — Anhaltspunkt ist Unsinn.

Auch unter deu sonstigen Zusammensetzungen, deren Bestimmungswort ein
Verbum ist, sind einige, die man fortwährend falsch gebildet findet, nämlich:
Zeichnenbuch, Zeichnenheft, Zeichnensaal, Rechnenheft. Eine dunkle
Kunde davon, daß diese Formen falsch find, und warum sie es sind, ist zwar
neuerdings selbst bis in die Kreise der Volksschule gedrungen; dennoch muß
man die falschen Formen noch täglich neben den richtigen lesen. Es kommt
hier folgende Regel in Betracht. Das Verbum kann in der ersten Hälfte von
Zusammensetzungen nnr in der Form des Verbalstammes erscheinen; es
heißt: Sprichwort, Schreibfeder, Stehpult, Rauchzimmer, Sing¬
stunde. Nun giebt es einige Verbalstümme, die auf n ausgehen, nämlich
zeichen —, rechen —, trocken —, Waffen —, turn —, wovon die In¬
finitive rechnen (eigentlich rechenen), zeichnen, trocknen, waffnen,
turnen heißen. Werden diese zusammengesetzt, so können natürlich nur Formen
entstehen wie Rechenstunde, Zeichensaal, Trockenplatz, Waffenrock,
Turnhalle. Wäre Nechnenbuch richtig, dann müßte man auch sagen:
Waffueurvck, Turuenhalle, Schrcibeufeder, Neißenzeug, Singeu-
stunde. Bei der Entstehung der falschen Formen mag wohl wieder ein ge¬
wisses Uuterscheiduugsbedürfuis im Spiele gewesen sein: man wollte den
Gleichklang mit den Substantiven Zeichen und Rechen vermeiden. Aber diese
Besorgnis vor Mißverständnissen ist doch wahrhaftig überflüssig.

Mau schwelgt aber jetzt auch in Zusammensetzungen oder vielmehr Zu-
sammenschiebungen, die man überhaupt uicht bilden, sondern durch Genetive
oder Adjektiv« ersetzen sollte. Goethehaus, Goethebildnis, Goethe-


Grenzbowi 1389 IV 72
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[0577] Allerhand Sprachdummheiten eine Dummheit fertig! In Speisekarte ist die erste Hälfte nicht durch das Substantivum Speise gebildet, sondern durch den Verbalstamm. Die Speise¬ karte ist die Karte, nach der man speist, wie die Tanzkarte die Karte, nach der man tanzt, die Spielregel die Regel, nach der man spielt, die Bau¬ ordnung die Ordnung, nach der man baut, die Singweise die Weise, nach der man singt, das Stickmuster das Muster, nach dem man stickt, die Zähl¬ methode die Methode, nach der man zählt u. s. w. Hätten die Schenkwirte mit ihrer Speiseukarte Recht, dann müßte man ja auch Tänzekarte sagen. Ähnlich verhält sichs mit dem neuen Modewort Anhaltspilnkt. Früher sagte man: ich habe dafür keinen Anhaltepunkt, d. h. keine Stelle, wo ich mich anhalten kann; der erste Teil der Zusammensetzung war wieder der Verbal¬ stamm, wie in Speisekarte. Daneben hatte man noch in demselben Sinne das Substantiv Anhalt; man sagte: dafür fehlt es mir an jedem Anhalt. Aber Anhaltspunkt, so beliebt es auch neuerdings zu werden anfängt wahrscheinlich glaubt man damit einen feinen Unterschied geschaffen zu haben von den Anhaltepunkten auf deu Eisenbahnen, als ob Anhalte- Punkt nicht ebensogut den Ort bezeichnen konnte, wo man sich anhält, wie den, wo man anhält! — Anhaltspunkt ist Unsinn. Auch unter deu sonstigen Zusammensetzungen, deren Bestimmungswort ein Verbum ist, sind einige, die man fortwährend falsch gebildet findet, nämlich: Zeichnenbuch, Zeichnenheft, Zeichnensaal, Rechnenheft. Eine dunkle Kunde davon, daß diese Formen falsch find, und warum sie es sind, ist zwar neuerdings selbst bis in die Kreise der Volksschule gedrungen; dennoch muß man die falschen Formen noch täglich neben den richtigen lesen. Es kommt hier folgende Regel in Betracht. Das Verbum kann in der ersten Hälfte von Zusammensetzungen nnr in der Form des Verbalstammes erscheinen; es heißt: Sprichwort, Schreibfeder, Stehpult, Rauchzimmer, Sing¬ stunde. Nun giebt es einige Verbalstümme, die auf n ausgehen, nämlich zeichen —, rechen —, trocken —, Waffen —, turn —, wovon die In¬ finitive rechnen (eigentlich rechenen), zeichnen, trocknen, waffnen, turnen heißen. Werden diese zusammengesetzt, so können natürlich nur Formen entstehen wie Rechenstunde, Zeichensaal, Trockenplatz, Waffenrock, Turnhalle. Wäre Nechnenbuch richtig, dann müßte man auch sagen: Waffueurvck, Turuenhalle, Schrcibeufeder, Neißenzeug, Singeu- stunde. Bei der Entstehung der falschen Formen mag wohl wieder ein ge¬ wisses Uuterscheiduugsbedürfuis im Spiele gewesen sein: man wollte den Gleichklang mit den Substantiven Zeichen und Rechen vermeiden. Aber diese Besorgnis vor Mißverständnissen ist doch wahrhaftig überflüssig. Mau schwelgt aber jetzt auch in Zusammensetzungen oder vielmehr Zu- sammenschiebungen, die man überhaupt uicht bilden, sondern durch Genetive oder Adjektiv« ersetzen sollte. Goethehaus, Goethebildnis, Goethe- Grenzbowi 1389 IV 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/577>, abgerufen am 28.06.2024.