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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

Eigentümlich berühren seine Geständnisse in einem Briefe an Bentham vom
W.Mai ^863: "Bericht nicht die Schwierigkeit in hohem Grade daraus, daß
wir stillschweigend annehmen, wir wüßten mehr, als wir wirklich wissen? That¬
sächlich muß sich gegenwärtig der Glaube an natürliche Zuchtwahl aus allge¬
meine Betrachtungen stützen. Steigen wir jedoch zu Einzelheiten hinab, so
können Nur beweisen, daß sich nicht eine einzige Spezies verändert hat, oder
wir können wenigstens nicht beweisen, daß irgend eine Spezies sich verändert
habe; auch können wir nicht beweisen, daß die angenommenen Veränderungen
wohlthätig gewesen seien, was doch die Grundlage der Theorie ist. Ebenso¬
wenig können wir erklären, warum einige Spezies sich verändert haben und
andre nicht. Bronn sein Zoologe^ dürfte die Kreationisten wie die neue Schule
vergebens fragen, warum die eine Müuseart längere Ohren hat als die andre
und die eine Pflanze spitzere Blätter als die andre." Der Kreationist würde
doch wohl um eine Antwort nicht verlegen sein; er würde sagen, daß der
Schöpfer die Wesen mannichfaltig gebildet habe, weil diese Mannichfaltigkeit
seinen Reichtum offenbare und zur Schönheit der Welt gehöre. Dies neben¬
bei. Die Hauptsache ist das Urteil, das Darwin in der angeführten Stelle
über seine Hypothese und über sein Verfahren fällt. Seine Lehre ist ihm
Gegenstand des Glaubens; dieser Glaube stützt sich auf allgemeine Erwägungen,
wie daß jene Lehre die Verschiedenheit der Tiere und Pflanzen erklärlich mache;
durch Thatsachen ist die Lehre nicht zu beweisen, und viele Thatsachen scheinen
damit in offenbarem Widerspruche zu stehen. Trotzdem hält er daran fest,
weil sie ihm ans Herz gewachsen ist, und setzt sich über die widersprechenden
Thatsachen mit dem Troste hinweg, daß wir eben alle nichts wissen. Da
haben wir Strich für Strich das Bild eines echten Gläubigen! Wird nun
das Verhalten des gläubige" Christen mit Recht getadelt, wenn er sich nicht
damit begnügt, den naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Schwierigkeiten
gegenüber seinen Glauben festzuhalten, sondern auch noch sür seine theologischen
Gründe Geltung in der Natur- oder Geschichtswissenschaft beansprucht, so darf
man das gleiche Verfahren an einen: gläubigen Zuchtwähler uicht loben, nud
beobachtet es der Meister selbst, so truü das uicht ohne schlimme Folgen für
die Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung bleiben.

Geradezu gefährlich erscheinen mir folgende Sätze Darwins (Das Variiren
der Tiere und Pflanzen I, 9): "Bei wissenschaftlichen Untersuchungen ist es
erlaubt, irgeud eine Hypothese zu erfinden; und wenn eine solche verschiedene
große und von einander unabhängige Klassen von Thatsachen erklärt, so erhebt
sie sich zum Werte einer wohlbegründeten Theorie. Die Undulationen des
Äthers und selbst dessen Existenz sind hypothetisch, und doch nimmt jetzt jeder¬
mann die Undulationstheorie öder ungeschickte Ausdruck steht so in der Über¬
setzung von Carus^ an. Das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl kann man
als eine Hypothese betrachten; doch wird sie einigermaßen natürlich gemacht


Buckle und Darwin

Eigentümlich berühren seine Geständnisse in einem Briefe an Bentham vom
W.Mai ^863: „Bericht nicht die Schwierigkeit in hohem Grade daraus, daß
wir stillschweigend annehmen, wir wüßten mehr, als wir wirklich wissen? That¬
sächlich muß sich gegenwärtig der Glaube an natürliche Zuchtwahl aus allge¬
meine Betrachtungen stützen. Steigen wir jedoch zu Einzelheiten hinab, so
können Nur beweisen, daß sich nicht eine einzige Spezies verändert hat, oder
wir können wenigstens nicht beweisen, daß irgend eine Spezies sich verändert
habe; auch können wir nicht beweisen, daß die angenommenen Veränderungen
wohlthätig gewesen seien, was doch die Grundlage der Theorie ist. Ebenso¬
wenig können wir erklären, warum einige Spezies sich verändert haben und
andre nicht. Bronn sein Zoologe^ dürfte die Kreationisten wie die neue Schule
vergebens fragen, warum die eine Müuseart längere Ohren hat als die andre
und die eine Pflanze spitzere Blätter als die andre." Der Kreationist würde
doch wohl um eine Antwort nicht verlegen sein; er würde sagen, daß der
Schöpfer die Wesen mannichfaltig gebildet habe, weil diese Mannichfaltigkeit
seinen Reichtum offenbare und zur Schönheit der Welt gehöre. Dies neben¬
bei. Die Hauptsache ist das Urteil, das Darwin in der angeführten Stelle
über seine Hypothese und über sein Verfahren fällt. Seine Lehre ist ihm
Gegenstand des Glaubens; dieser Glaube stützt sich auf allgemeine Erwägungen,
wie daß jene Lehre die Verschiedenheit der Tiere und Pflanzen erklärlich mache;
durch Thatsachen ist die Lehre nicht zu beweisen, und viele Thatsachen scheinen
damit in offenbarem Widerspruche zu stehen. Trotzdem hält er daran fest,
weil sie ihm ans Herz gewachsen ist, und setzt sich über die widersprechenden
Thatsachen mit dem Troste hinweg, daß wir eben alle nichts wissen. Da
haben wir Strich für Strich das Bild eines echten Gläubigen! Wird nun
das Verhalten des gläubige» Christen mit Recht getadelt, wenn er sich nicht
damit begnügt, den naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Schwierigkeiten
gegenüber seinen Glauben festzuhalten, sondern auch noch sür seine theologischen
Gründe Geltung in der Natur- oder Geschichtswissenschaft beansprucht, so darf
man das gleiche Verfahren an einen: gläubigen Zuchtwähler uicht loben, nud
beobachtet es der Meister selbst, so truü das uicht ohne schlimme Folgen für
die Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung bleiben.

Geradezu gefährlich erscheinen mir folgende Sätze Darwins (Das Variiren
der Tiere und Pflanzen I, 9): „Bei wissenschaftlichen Untersuchungen ist es
erlaubt, irgeud eine Hypothese zu erfinden; und wenn eine solche verschiedene
große und von einander unabhängige Klassen von Thatsachen erklärt, so erhebt
sie sich zum Werte einer wohlbegründeten Theorie. Die Undulationen des
Äthers und selbst dessen Existenz sind hypothetisch, und doch nimmt jetzt jeder¬
mann die Undulationstheorie öder ungeschickte Ausdruck steht so in der Über¬
setzung von Carus^ an. Das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl kann man
als eine Hypothese betrachten; doch wird sie einigermaßen natürlich gemacht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/566>, abgerufen am 02.07.2024.