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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

An einer andern Stelle erzählt er, als Schulknabe sei er von Shakespeare
entzückt gewesen. "Jetzt kann ich schon seit vielen Jahren keine Zeile Poesie
mehr ertragen. Ich habe vor kurzem versucht, wieder einmal Shakespeare zu
lesen, fand ihn aber so unausstehlich langweilig, daß mir übel davon wurde.
Auch den Geschmack für Gemälde und Musik habe ich beinahe verloren." Es
mag dahingestellt bleiben, wie groß die Zahl derer ist, denen die ästhetischen
Gefühle mangeln. Jedenfalls halten wir sie, sowie die, denen alle religiöse
Empfindung abgeht, für unvollständige Menschen, und können den mit solchen
Mängeln behafteten die Berechtigung nicht zugestehen, in den höchsten metaphy¬
sischen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen.

Einen starken Eindruck machte auf ihn der Gedanke, daß nach dem Glauben
der Geologen und der Astronomen dereinst die Erde erkalten und das Reich
der Organismen untergehen soll. "Glaubt man, wie ich es thue, daß der
Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommueres Geschöpf sein werde,
als er es jetzt ist, so ist der Gedanke unerträglich, daß er und alle andern
empfindenden Wesen zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollen nach
einem so lange dauernden langsamen Fortschritt." Der Fortschritt thut dabei
gar nichts zur Sache, wenigstens bei dem gesund empfindenden Menschen.
Die Wesen, die nach zehntausend Jahren leben werden, sind uns schon aus
dem Grunde ungeheuer gleichgiltig, weil wir gar nicht wissen, ob sie leben
werden. Und sollten unsre Nachkommen vollkommnere Wesen als wir, d. h.
keine Menschen mehr sein, so würden sie uns noch gleichgiltiger sein. Den
Menschen, wie sie sind, und zwar den mitlebenden, gehört unsre Teilnahme;
und der Gedanke an ihre Vernichtung ist uns in dem Maße unerträglich,
einerseits als wir sie lieben, anderseits als sie in diesem Leben nicht auf die
Kosten gekommen sind. In einer jüngst erst erschienenen Novelle hat Ch.
d'Hüricault sehr gut geschildert, wie die Vernichtung des Unsterblichkeits¬
glaubens unter Umständen wirken kann. Ein junger Gelehrter hat seine Fran
von allem "Aberglauben" gründlich kurirt und sie glücklich -- die Liebe zum
Manne thut ja Wunder -- bis auf die Höhe moderner Anschauung hinauf¬
geschraubt. Nach dem Tode ihres ersten Kindes wird sie rückfällig. Doch
gelingt es dein Manne, ihr die Sehnsucht nach Wiedersehen als eine Thorheit
auszureden und aufs neue die Überzeugung zu begründen, daß der Tod weiter
nichts sei, als das Ende der "Evolution" eines "Individuums"; daß dieses
Ende bei manchen ungewöhnlich früh eintrete, sei ebenfalls in den Naturgesetzen
begründet, denen man sich nun einmal unterwerfen müsse. Aber auch das
zweite und das dritte Kind stirbt, und nun wird die junge Mutter wahnsinnig.
Nachdem sie sich ausgetobt hat, wird sie als geheilt aus der Irrenanstalt
entlassen und entfaltet nun eine erzwungene Liebenswürdigkeit, mit der sie den
Mann eine Zeit lang tänscht. Bei einem Familielimahle, mit dem die Ge-
nesung gefeiert wird, schneidet sie ihm mitten in einer heitern Unterhaltung


Buckle und Darwin

An einer andern Stelle erzählt er, als Schulknabe sei er von Shakespeare
entzückt gewesen. „Jetzt kann ich schon seit vielen Jahren keine Zeile Poesie
mehr ertragen. Ich habe vor kurzem versucht, wieder einmal Shakespeare zu
lesen, fand ihn aber so unausstehlich langweilig, daß mir übel davon wurde.
Auch den Geschmack für Gemälde und Musik habe ich beinahe verloren." Es
mag dahingestellt bleiben, wie groß die Zahl derer ist, denen die ästhetischen
Gefühle mangeln. Jedenfalls halten wir sie, sowie die, denen alle religiöse
Empfindung abgeht, für unvollständige Menschen, und können den mit solchen
Mängeln behafteten die Berechtigung nicht zugestehen, in den höchsten metaphy¬
sischen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen.

Einen starken Eindruck machte auf ihn der Gedanke, daß nach dem Glauben
der Geologen und der Astronomen dereinst die Erde erkalten und das Reich
der Organismen untergehen soll. „Glaubt man, wie ich es thue, daß der
Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommueres Geschöpf sein werde,
als er es jetzt ist, so ist der Gedanke unerträglich, daß er und alle andern
empfindenden Wesen zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollen nach
einem so lange dauernden langsamen Fortschritt." Der Fortschritt thut dabei
gar nichts zur Sache, wenigstens bei dem gesund empfindenden Menschen.
Die Wesen, die nach zehntausend Jahren leben werden, sind uns schon aus
dem Grunde ungeheuer gleichgiltig, weil wir gar nicht wissen, ob sie leben
werden. Und sollten unsre Nachkommen vollkommnere Wesen als wir, d. h.
keine Menschen mehr sein, so würden sie uns noch gleichgiltiger sein. Den
Menschen, wie sie sind, und zwar den mitlebenden, gehört unsre Teilnahme;
und der Gedanke an ihre Vernichtung ist uns in dem Maße unerträglich,
einerseits als wir sie lieben, anderseits als sie in diesem Leben nicht auf die
Kosten gekommen sind. In einer jüngst erst erschienenen Novelle hat Ch.
d'Hüricault sehr gut geschildert, wie die Vernichtung des Unsterblichkeits¬
glaubens unter Umständen wirken kann. Ein junger Gelehrter hat seine Fran
von allem „Aberglauben" gründlich kurirt und sie glücklich — die Liebe zum
Manne thut ja Wunder — bis auf die Höhe moderner Anschauung hinauf¬
geschraubt. Nach dem Tode ihres ersten Kindes wird sie rückfällig. Doch
gelingt es dein Manne, ihr die Sehnsucht nach Wiedersehen als eine Thorheit
auszureden und aufs neue die Überzeugung zu begründen, daß der Tod weiter
nichts sei, als das Ende der „Evolution" eines „Individuums"; daß dieses
Ende bei manchen ungewöhnlich früh eintrete, sei ebenfalls in den Naturgesetzen
begründet, denen man sich nun einmal unterwerfen müsse. Aber auch das
zweite und das dritte Kind stirbt, und nun wird die junge Mutter wahnsinnig.
Nachdem sie sich ausgetobt hat, wird sie als geheilt aus der Irrenanstalt
entlassen und entfaltet nun eine erzwungene Liebenswürdigkeit, mit der sie den
Mann eine Zeit lang tänscht. Bei einem Familielimahle, mit dem die Ge-
nesung gefeiert wird, schneidet sie ihm mitten in einer heitern Unterhaltung


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[0519] Buckle und Darwin An einer andern Stelle erzählt er, als Schulknabe sei er von Shakespeare entzückt gewesen. „Jetzt kann ich schon seit vielen Jahren keine Zeile Poesie mehr ertragen. Ich habe vor kurzem versucht, wieder einmal Shakespeare zu lesen, fand ihn aber so unausstehlich langweilig, daß mir übel davon wurde. Auch den Geschmack für Gemälde und Musik habe ich beinahe verloren." Es mag dahingestellt bleiben, wie groß die Zahl derer ist, denen die ästhetischen Gefühle mangeln. Jedenfalls halten wir sie, sowie die, denen alle religiöse Empfindung abgeht, für unvollständige Menschen, und können den mit solchen Mängeln behafteten die Berechtigung nicht zugestehen, in den höchsten metaphy¬ sischen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen. Einen starken Eindruck machte auf ihn der Gedanke, daß nach dem Glauben der Geologen und der Astronomen dereinst die Erde erkalten und das Reich der Organismen untergehen soll. „Glaubt man, wie ich es thue, daß der Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommueres Geschöpf sein werde, als er es jetzt ist, so ist der Gedanke unerträglich, daß er und alle andern empfindenden Wesen zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollen nach einem so lange dauernden langsamen Fortschritt." Der Fortschritt thut dabei gar nichts zur Sache, wenigstens bei dem gesund empfindenden Menschen. Die Wesen, die nach zehntausend Jahren leben werden, sind uns schon aus dem Grunde ungeheuer gleichgiltig, weil wir gar nicht wissen, ob sie leben werden. Und sollten unsre Nachkommen vollkommnere Wesen als wir, d. h. keine Menschen mehr sein, so würden sie uns noch gleichgiltiger sein. Den Menschen, wie sie sind, und zwar den mitlebenden, gehört unsre Teilnahme; und der Gedanke an ihre Vernichtung ist uns in dem Maße unerträglich, einerseits als wir sie lieben, anderseits als sie in diesem Leben nicht auf die Kosten gekommen sind. In einer jüngst erst erschienenen Novelle hat Ch. d'Hüricault sehr gut geschildert, wie die Vernichtung des Unsterblichkeits¬ glaubens unter Umständen wirken kann. Ein junger Gelehrter hat seine Fran von allem „Aberglauben" gründlich kurirt und sie glücklich — die Liebe zum Manne thut ja Wunder — bis auf die Höhe moderner Anschauung hinauf¬ geschraubt. Nach dem Tode ihres ersten Kindes wird sie rückfällig. Doch gelingt es dein Manne, ihr die Sehnsucht nach Wiedersehen als eine Thorheit auszureden und aufs neue die Überzeugung zu begründen, daß der Tod weiter nichts sei, als das Ende der „Evolution" eines „Individuums"; daß dieses Ende bei manchen ungewöhnlich früh eintrete, sei ebenfalls in den Naturgesetzen begründet, denen man sich nun einmal unterwerfen müsse. Aber auch das zweite und das dritte Kind stirbt, und nun wird die junge Mutter wahnsinnig. Nachdem sie sich ausgetobt hat, wird sie als geheilt aus der Irrenanstalt entlassen und entfaltet nun eine erzwungene Liebenswürdigkeit, mit der sie den Mann eine Zeit lang tänscht. Bei einem Familielimahle, mit dem die Ge- nesung gefeiert wird, schneidet sie ihm mitten in einer heitern Unterhaltung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/519>, abgerufen am 02.07.2024.