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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Zur Vorgeschichte des Krieges von ^8?O

Ansicht ausspricht, der Kaiser der Franzose" würde, sofern es sich um sein
persönliches Eingreifen und Vorgehen gehandelt hätte, bis zum letzten Augen¬
blick jene Beleidigungen gelassen ertragen und niemals zum Schwerte gegriffen
haben, wenn nicht eine Macht außer ihm ihn dazu gedrängt hätte, "Er
wurde -- sagt sein Sachwalter -- gegen seinen Wunsch auf das Schlachtfeld
getrieben, und zwar durch das gebieterische Geschrei seines Parlaments und
seines Volkes, die über eine feindselige Herausforderung entrüstet waren," wo¬
mit die Wahl des Prinzen von Hohenzollern zum Könige von Spanien ge¬
meint ist. Es ist das wieder ein Beispiel für die von Ollivier geteilte An¬
maßung der Franzosen, sich zur Einmischung in die innern Angelegenheiten
ihrer Nachbarn berechtigt zu fühlen und diese Angelegenheiten nach Belieben
als "Herausforderungen" zu behandeln. Nur gut, daß der Verfasser das auf¬
richtige Zugeständnis folgen läßt, daß die Minister dem Kaiser "einstimmig den
Rat erteilten, dem öffentlichen Verlangen zu gehorchen." Und noch heute ist
Ollivier, wie es scheint, überzeugt, daß Napoleon recht daran that, nach jenem
Rate zu handeln. Sein Unglück war nach der Darstellung des Verfassers
einzig und allein, daß er sich dabei zu viel körperliche Kraft zutraute; sonst
stand alles aufs beste, und man hatte die schönsten Aussichten. Indem der
Kaiser glaubte, er sei noch der lebensfrische General, als der er 1859 sein
Heer nach Oberitalien geführt und die Österreicher in zwei großen Schlachten
besiegt hatte, übernahm er einen Oberbefehl, zu dem er physisch nicht mehr
tauglich war. Daher tagelanges Zögern bei einer Krisis, wo schon eine Stunde
dem Gegner abgewonnen zu haben von höchstem Werte war, daher schwächlich
zauberndes Stillstehen noch, als endlich alles bereitgestellt war, um mit einem
kühnen Angriff zu beginnen. Was die vollkommene Güte der Waffe des
Kaisers angeht, so hegt Ollivier, wie sichs für jemand schickt, der als Minister
ihren sofortigen Gebrauch empfohlen hat, nicht den geringsten Zweifel daran.
Er scheint fast geneigt zu sein, sich das Wort Marschall Leboeufs anzueignen: "Es
fehlt auch nicht ein Gamaschenknopf!" Die französische Armee war nach Ollivier,
diesem jüngsten und, so viel wir wissen, beinahe einzigen Lobredner ihres Zu¬
standes, alles, was man von ihr billigerweise verlangen konnte. Sie verlor
das Spiel und der Kaiser seinen Thron, Frankreich seine zwei Provinzen, seine
fünf Milliarden und seine stolze und gebietende Stellung in Europa einzig und
allein durch Unentschlossenheit und langsames Vorgehen. So wird uns ver¬
sichert. Aber kann man dem beipflichten? Gewiß würde es nicht viel helfen,
wenn man zeigte, daß, da kein Berichterstatter, selbst kein französischer, erklärt
hat, das deutsche Heer sei zu schwach an Zahl oder sonstwie von mangelhafter
Beschaffenheit gewesen oder seine Mobilmachung und sein Aufmarsch seien zu
langsam vor sich gegangen, der Vorteil, den Frankreich durch rasches Ergreifen
der Offensive gewonnen haben könnte, nicht so ohne weiteres auf der Hand
liegt. Ohne Zweifel ist es unter Umständen zu empfehlen, daß von zwei


Grenzboten IV 1889 64
Zur Vorgeschichte des Krieges von ^8?O

Ansicht ausspricht, der Kaiser der Franzose« würde, sofern es sich um sein
persönliches Eingreifen und Vorgehen gehandelt hätte, bis zum letzten Augen¬
blick jene Beleidigungen gelassen ertragen und niemals zum Schwerte gegriffen
haben, wenn nicht eine Macht außer ihm ihn dazu gedrängt hätte, „Er
wurde — sagt sein Sachwalter — gegen seinen Wunsch auf das Schlachtfeld
getrieben, und zwar durch das gebieterische Geschrei seines Parlaments und
seines Volkes, die über eine feindselige Herausforderung entrüstet waren," wo¬
mit die Wahl des Prinzen von Hohenzollern zum Könige von Spanien ge¬
meint ist. Es ist das wieder ein Beispiel für die von Ollivier geteilte An¬
maßung der Franzosen, sich zur Einmischung in die innern Angelegenheiten
ihrer Nachbarn berechtigt zu fühlen und diese Angelegenheiten nach Belieben
als „Herausforderungen" zu behandeln. Nur gut, daß der Verfasser das auf¬
richtige Zugeständnis folgen läßt, daß die Minister dem Kaiser „einstimmig den
Rat erteilten, dem öffentlichen Verlangen zu gehorchen." Und noch heute ist
Ollivier, wie es scheint, überzeugt, daß Napoleon recht daran that, nach jenem
Rate zu handeln. Sein Unglück war nach der Darstellung des Verfassers
einzig und allein, daß er sich dabei zu viel körperliche Kraft zutraute; sonst
stand alles aufs beste, und man hatte die schönsten Aussichten. Indem der
Kaiser glaubte, er sei noch der lebensfrische General, als der er 1859 sein
Heer nach Oberitalien geführt und die Österreicher in zwei großen Schlachten
besiegt hatte, übernahm er einen Oberbefehl, zu dem er physisch nicht mehr
tauglich war. Daher tagelanges Zögern bei einer Krisis, wo schon eine Stunde
dem Gegner abgewonnen zu haben von höchstem Werte war, daher schwächlich
zauberndes Stillstehen noch, als endlich alles bereitgestellt war, um mit einem
kühnen Angriff zu beginnen. Was die vollkommene Güte der Waffe des
Kaisers angeht, so hegt Ollivier, wie sichs für jemand schickt, der als Minister
ihren sofortigen Gebrauch empfohlen hat, nicht den geringsten Zweifel daran.
Er scheint fast geneigt zu sein, sich das Wort Marschall Leboeufs anzueignen: „Es
fehlt auch nicht ein Gamaschenknopf!" Die französische Armee war nach Ollivier,
diesem jüngsten und, so viel wir wissen, beinahe einzigen Lobredner ihres Zu¬
standes, alles, was man von ihr billigerweise verlangen konnte. Sie verlor
das Spiel und der Kaiser seinen Thron, Frankreich seine zwei Provinzen, seine
fünf Milliarden und seine stolze und gebietende Stellung in Europa einzig und
allein durch Unentschlossenheit und langsames Vorgehen. So wird uns ver¬
sichert. Aber kann man dem beipflichten? Gewiß würde es nicht viel helfen,
wenn man zeigte, daß, da kein Berichterstatter, selbst kein französischer, erklärt
hat, das deutsche Heer sei zu schwach an Zahl oder sonstwie von mangelhafter
Beschaffenheit gewesen oder seine Mobilmachung und sein Aufmarsch seien zu
langsam vor sich gegangen, der Vorteil, den Frankreich durch rasches Ergreifen
der Offensive gewonnen haben könnte, nicht so ohne weiteres auf der Hand
liegt. Ohne Zweifel ist es unter Umständen zu empfehlen, daß von zwei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/513>, abgerufen am 30.06.2024.