Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.Allerhand Sprachdummheiten so und so oft im Theater gesehen haben, ein halbes Jahr sie in sämtliche Was aber noch schlimmer ist: wie im gewöhnlichen Leben überall der Allerhand Sprachdummheiten so und so oft im Theater gesehen haben, ein halbes Jahr sie in sämtliche Was aber noch schlimmer ist: wie im gewöhnlichen Leben überall der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206477"/> <fw type="header" place="top"> Allerhand Sprachdummheiten</fw><lb/> <p xml:id="ID_1627" prev="#ID_1626"> so und so oft im Theater gesehen haben, ein halbes Jahr sie in sämtliche<lb/> Liebschaften Goethes einweihen und ihnen bei jeder Strophe zeigen, ob sie sich<lb/> auf Gretchen oder Käthchen, Friederike Öser oder Friederike Brion, Lotte oder<lb/> Lili, die Stein oder die Vulpius bezieht — kann man das deutschen Unter¬<lb/> richt nennen? Aber auch geschrieben müßte viel mehr werdem Ein sekundärer<lb/> oder Primaner schreibt jährlich sechs deutsche Aufsätze. Was kann dabei gelernt<lb/> werden? Anstatt daß man die Zeit vergeudet mit der jämmerlichen Phraseu-<lb/> drechselei der „freien" lateinischen Arbeiten, mit der syntaktischen Spintisirerei<lb/> der griechischen Persa und Extemporalien, müßte aller vierzehn Tage ein<lb/> deutscher Aufsatz geschrieben werden, nicht von dreißig bis vierzig, aber von<lb/> sechs bis acht Seiten. Die Themata müßten so bunt als möglich gestellt, in<lb/> alle Lebensgebiete müßte dabei hineingefahren werden, damit jeder so oft als<lb/> möglich Gelegenheit Hütte, sich ub.r Dinge nuszusprecheu, die ihm nahe liegen<lb/> und wirklich vertraut sind. Auch die verschiedensten Darstclluugsformen müßten<lb/> berücksichtigt werde», nicht immer nur die der Abhandlung oder der Erzählung.<lb/> Schon in den untern Klassen herrscht nicht genug Mannichfaltigkeit. Wie viele<lb/> Gedichte müssen da die Jungen „in Prosa verwandeln," wie oft müssen sie<lb/> ihren „schönsten Ferientag" beschreiben! In den obern Klassen werden fast<lb/> ausschließlich litterargeschichtliche, dramaturgische und ästhetische Themata ge¬<lb/> stellt, dazwischen vielleicht einmal ein rein geschichtliches. Wie wenige haben<lb/> aber im spätern Leben Veranlassung, dergleichen zu behandeln! Da stehen sie<lb/> dann nach all dem weisen Gerede, das sie über Laokoon, über Schillers<lb/> ästhetische Erziehung, über Tasso und Antonio irgendwo — abgeschrieben haben,<lb/> wie die Kinder da.</p><lb/> <p xml:id="ID_1628" next="#ID_1629"> Was aber noch schlimmer ist: wie im gewöhnlichen Leben überall der<lb/> Glaube verbreitet ist, Deutsch schreiben brauche man nicht zu lernen, so<lb/> besteht an der Schule der Wahn, Deutsch lehren brauche man nicht zu lernen.<lb/> Mag einer Theolog, klassischer Philolog, Neuphilolog, Germanist sein, zum<lb/> Unterricht im Deutschen gilt jeder für befähigt. Und doch, wenn ein klassischer<lb/> Philolog in der lateinischen Grammatik und Stilistik so unwissend Ware,<lb/> wie mancher Deutschlehrer in der deutschen — wie schnell würde er unschädlich<lb/> gemacht werden! In den klassischen Sprachen ist für jede Unterrichtsstufe genau<lb/> vorgeschrieben, was getrieben und erreicht werden muß. Jeder nachfolgende<lb/> Lehrer verlangt von seinem Vorgänger, daß die Schüler, die ihm dieser am<lb/> Schlüsse des Schuljahres abliefert, das vorgeschriebene Ziel auch wirklich er¬<lb/> reicht haben. Zweifel, Meinungsverschiedenheiten, abweichende Auffassungen<lb/> giebt es da nicht, da heißes entweder Wissen oder Nichtwissen. Wie ganz<lb/> anders im deutscheu Unterricht! Einen ordentlichen Plan über den Unterricht<lb/> in der deutschen Sprache giebt es nirgends. Alles ist dem Zufall überlassen.<lb/> Wenn beim. Durchsprechen eines Gedichtes oder eines deutschen Aufsatzes<lb/> sich Gelegenheit bietet, wird wohl die oder jene grammatische Regel, die oder</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0478]
Allerhand Sprachdummheiten
so und so oft im Theater gesehen haben, ein halbes Jahr sie in sämtliche
Liebschaften Goethes einweihen und ihnen bei jeder Strophe zeigen, ob sie sich
auf Gretchen oder Käthchen, Friederike Öser oder Friederike Brion, Lotte oder
Lili, die Stein oder die Vulpius bezieht — kann man das deutschen Unter¬
richt nennen? Aber auch geschrieben müßte viel mehr werdem Ein sekundärer
oder Primaner schreibt jährlich sechs deutsche Aufsätze. Was kann dabei gelernt
werden? Anstatt daß man die Zeit vergeudet mit der jämmerlichen Phraseu-
drechselei der „freien" lateinischen Arbeiten, mit der syntaktischen Spintisirerei
der griechischen Persa und Extemporalien, müßte aller vierzehn Tage ein
deutscher Aufsatz geschrieben werden, nicht von dreißig bis vierzig, aber von
sechs bis acht Seiten. Die Themata müßten so bunt als möglich gestellt, in
alle Lebensgebiete müßte dabei hineingefahren werden, damit jeder so oft als
möglich Gelegenheit Hütte, sich ub.r Dinge nuszusprecheu, die ihm nahe liegen
und wirklich vertraut sind. Auch die verschiedensten Darstclluugsformen müßten
berücksichtigt werde», nicht immer nur die der Abhandlung oder der Erzählung.
Schon in den untern Klassen herrscht nicht genug Mannichfaltigkeit. Wie viele
Gedichte müssen da die Jungen „in Prosa verwandeln," wie oft müssen sie
ihren „schönsten Ferientag" beschreiben! In den obern Klassen werden fast
ausschließlich litterargeschichtliche, dramaturgische und ästhetische Themata ge¬
stellt, dazwischen vielleicht einmal ein rein geschichtliches. Wie wenige haben
aber im spätern Leben Veranlassung, dergleichen zu behandeln! Da stehen sie
dann nach all dem weisen Gerede, das sie über Laokoon, über Schillers
ästhetische Erziehung, über Tasso und Antonio irgendwo — abgeschrieben haben,
wie die Kinder da.
Was aber noch schlimmer ist: wie im gewöhnlichen Leben überall der
Glaube verbreitet ist, Deutsch schreiben brauche man nicht zu lernen, so
besteht an der Schule der Wahn, Deutsch lehren brauche man nicht zu lernen.
Mag einer Theolog, klassischer Philolog, Neuphilolog, Germanist sein, zum
Unterricht im Deutschen gilt jeder für befähigt. Und doch, wenn ein klassischer
Philolog in der lateinischen Grammatik und Stilistik so unwissend Ware,
wie mancher Deutschlehrer in der deutschen — wie schnell würde er unschädlich
gemacht werden! In den klassischen Sprachen ist für jede Unterrichtsstufe genau
vorgeschrieben, was getrieben und erreicht werden muß. Jeder nachfolgende
Lehrer verlangt von seinem Vorgänger, daß die Schüler, die ihm dieser am
Schlüsse des Schuljahres abliefert, das vorgeschriebene Ziel auch wirklich er¬
reicht haben. Zweifel, Meinungsverschiedenheiten, abweichende Auffassungen
giebt es da nicht, da heißes entweder Wissen oder Nichtwissen. Wie ganz
anders im deutscheu Unterricht! Einen ordentlichen Plan über den Unterricht
in der deutschen Sprache giebt es nirgends. Alles ist dem Zufall überlassen.
Wenn beim. Durchsprechen eines Gedichtes oder eines deutschen Aufsatzes
sich Gelegenheit bietet, wird wohl die oder jene grammatische Regel, die oder
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