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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Sxrachdnmmheiten

das erkennen lernen, was sie ist: nicht als Bildung, sondern als Mangel an
Bildung. Dazu gehörte freilich, daß auf den Seminaren der junge Lehrer¬
nachwuchs zunächst selbst vor dem Irrwahn bewahrt würde, daß es das Zeichen
"höherer" Bildung sei, möglichst viel Fremdwörter anzuwenden. Dann würde
es auch in den Handels- und Gewerbekreisen, wo dieser Irrwahn noch all¬
gemein verbreitet ist, allmählich besser werden, man würde nicht mehr auf
Firmenschildern, an Schaufenstern und in Geschäftsanzeigen so haarsträubenden
Unsinn zu lesen bekommen wie jetzt (Confektion eleganter Herrenmvden (!),
Germanischer Fischkvnsum (!), Qualitätszigarren, Winterüberzieher hoch¬
feinsten Genres (!) u. ahnt.) Wie steht es aber mit dem deutschen Unterricht
auf den höhern Schulen, auf den Gymnasien und Realschulen?

Als ich vor 2Z Jahren als junger, neubackener Gymnasiallehrer unter
antrat -- ich bin ja auch einmal Schulmeister gewesen, und liebe Freunde be¬
haupten sogar, ich wäre es noch jetzt und würde es immer bleiben --, war
einer der ersten Ratschläge, die nur mein Amtsvorgänger in der Sextn
in einer Prvbestuude gab: "Treibe nur ja keine deutsche Grammatik, lang¬
weile die Jungen nicht damit, das Deutsche lernen sie am Lateinischen mit!"
Ich war erst etwas erstaunt über diesen guten Rat, dachte aber dann an meine
eigne Gymnasiastenzeit zurück und erinnerte mich, daß in der That auch ich
w meiner achtjährigen Gymnasiallaufbahn (1854 --1862) niemals mit Unter¬
richt in deutscher Grammatik behelligt worden war. Und so versuchte ichs
denn auch zunächst in der mir empfohlenen Weise. Ich sah aber bald, daß
damit nicht auszukommen war. Eine Menge der einfachsten Dinge wußten
die Jungen eben nicht; sie ihnen beiläufig im lateinischen Unterricht beizu¬
bringen war gar keine Gelegenheit. Es blieb mir also doch nichts weiter
übrig, obwohl das "Regulativ" nichts derart vorschrieb, als gelegentlich in aller
Form ein Stündchen deutsche Grammatik mit den Jungen zu treiben. So viel
ich weiß, bestehen nun aber in dieser Beziehung noch heute dieselben Zustände.
Einen ordentlichen, zusammenhängenden Unterricht in der deutschen Grammatik
^ Formenlehre wie Satzlehre -- giebt es auf unsern höhern Schulen
nirgends, weder auf den untern noch auf den obern Stufen. Das ganze
bißchen deutsche Grammatik, das getrieben wird, beschränkt sich auf die ver¬
einzelten Bemerkungen, die gelegentlich beim Lesen und Erklären eines Ge¬
dichtes, eines Schauspiels oder eines Prosastückes oder bei der Rückgabe der durch¬
gesehenen deutsche" Aufsätze den Jungen hingeworfen werden. Das ist aber doch
verschwindend wenig. Es müßte viel, viel mehr gute deutsche Prosa gelesen
werden, teils in der Schule selbst, teils zu Hause, und was zu Hause gelesen
worden ist, müßte der Lehrer gerade auch auf Spracherscheinungen hin sorgfältig
kontrolliren. Ein halbes Jahr lang die Jungen mit der Erklärung deutscher
Vaterlandslieder oder Klopstockischer Oden langweilen, ein halbes Jahr an
einem Drama herumknaupeln, das die Jungen halb auswendig wissen und schon


Allerhand Sxrachdnmmheiten

das erkennen lernen, was sie ist: nicht als Bildung, sondern als Mangel an
Bildung. Dazu gehörte freilich, daß auf den Seminaren der junge Lehrer¬
nachwuchs zunächst selbst vor dem Irrwahn bewahrt würde, daß es das Zeichen
„höherer" Bildung sei, möglichst viel Fremdwörter anzuwenden. Dann würde
es auch in den Handels- und Gewerbekreisen, wo dieser Irrwahn noch all¬
gemein verbreitet ist, allmählich besser werden, man würde nicht mehr auf
Firmenschildern, an Schaufenstern und in Geschäftsanzeigen so haarsträubenden
Unsinn zu lesen bekommen wie jetzt (Confektion eleganter Herrenmvden (!),
Germanischer Fischkvnsum (!), Qualitätszigarren, Winterüberzieher hoch¬
feinsten Genres (!) u. ahnt.) Wie steht es aber mit dem deutschen Unterricht
auf den höhern Schulen, auf den Gymnasien und Realschulen?

Als ich vor 2Z Jahren als junger, neubackener Gymnasiallehrer unter
antrat — ich bin ja auch einmal Schulmeister gewesen, und liebe Freunde be¬
haupten sogar, ich wäre es noch jetzt und würde es immer bleiben —, war
einer der ersten Ratschläge, die nur mein Amtsvorgänger in der Sextn
in einer Prvbestuude gab: „Treibe nur ja keine deutsche Grammatik, lang¬
weile die Jungen nicht damit, das Deutsche lernen sie am Lateinischen mit!"
Ich war erst etwas erstaunt über diesen guten Rat, dachte aber dann an meine
eigne Gymnasiastenzeit zurück und erinnerte mich, daß in der That auch ich
w meiner achtjährigen Gymnasiallaufbahn (1854 —1862) niemals mit Unter¬
richt in deutscher Grammatik behelligt worden war. Und so versuchte ichs
denn auch zunächst in der mir empfohlenen Weise. Ich sah aber bald, daß
damit nicht auszukommen war. Eine Menge der einfachsten Dinge wußten
die Jungen eben nicht; sie ihnen beiläufig im lateinischen Unterricht beizu¬
bringen war gar keine Gelegenheit. Es blieb mir also doch nichts weiter
übrig, obwohl das „Regulativ" nichts derart vorschrieb, als gelegentlich in aller
Form ein Stündchen deutsche Grammatik mit den Jungen zu treiben. So viel
ich weiß, bestehen nun aber in dieser Beziehung noch heute dieselben Zustände.
Einen ordentlichen, zusammenhängenden Unterricht in der deutschen Grammatik
^ Formenlehre wie Satzlehre — giebt es auf unsern höhern Schulen
nirgends, weder auf den untern noch auf den obern Stufen. Das ganze
bißchen deutsche Grammatik, das getrieben wird, beschränkt sich auf die ver¬
einzelten Bemerkungen, die gelegentlich beim Lesen und Erklären eines Ge¬
dichtes, eines Schauspiels oder eines Prosastückes oder bei der Rückgabe der durch¬
gesehenen deutsche» Aufsätze den Jungen hingeworfen werden. Das ist aber doch
verschwindend wenig. Es müßte viel, viel mehr gute deutsche Prosa gelesen
werden, teils in der Schule selbst, teils zu Hause, und was zu Hause gelesen
worden ist, müßte der Lehrer gerade auch auf Spracherscheinungen hin sorgfältig
kontrolliren. Ein halbes Jahr lang die Jungen mit der Erklärung deutscher
Vaterlandslieder oder Klopstockischer Oden langweilen, ein halbes Jahr an
einem Drama herumknaupeln, das die Jungen halb auswendig wissen und schon


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[0477] Allerhand Sxrachdnmmheiten das erkennen lernen, was sie ist: nicht als Bildung, sondern als Mangel an Bildung. Dazu gehörte freilich, daß auf den Seminaren der junge Lehrer¬ nachwuchs zunächst selbst vor dem Irrwahn bewahrt würde, daß es das Zeichen „höherer" Bildung sei, möglichst viel Fremdwörter anzuwenden. Dann würde es auch in den Handels- und Gewerbekreisen, wo dieser Irrwahn noch all¬ gemein verbreitet ist, allmählich besser werden, man würde nicht mehr auf Firmenschildern, an Schaufenstern und in Geschäftsanzeigen so haarsträubenden Unsinn zu lesen bekommen wie jetzt (Confektion eleganter Herrenmvden (!), Germanischer Fischkvnsum (!), Qualitätszigarren, Winterüberzieher hoch¬ feinsten Genres (!) u. ahnt.) Wie steht es aber mit dem deutschen Unterricht auf den höhern Schulen, auf den Gymnasien und Realschulen? Als ich vor 2Z Jahren als junger, neubackener Gymnasiallehrer unter antrat — ich bin ja auch einmal Schulmeister gewesen, und liebe Freunde be¬ haupten sogar, ich wäre es noch jetzt und würde es immer bleiben —, war einer der ersten Ratschläge, die nur mein Amtsvorgänger in der Sextn in einer Prvbestuude gab: „Treibe nur ja keine deutsche Grammatik, lang¬ weile die Jungen nicht damit, das Deutsche lernen sie am Lateinischen mit!" Ich war erst etwas erstaunt über diesen guten Rat, dachte aber dann an meine eigne Gymnasiastenzeit zurück und erinnerte mich, daß in der That auch ich w meiner achtjährigen Gymnasiallaufbahn (1854 —1862) niemals mit Unter¬ richt in deutscher Grammatik behelligt worden war. Und so versuchte ichs denn auch zunächst in der mir empfohlenen Weise. Ich sah aber bald, daß damit nicht auszukommen war. Eine Menge der einfachsten Dinge wußten die Jungen eben nicht; sie ihnen beiläufig im lateinischen Unterricht beizu¬ bringen war gar keine Gelegenheit. Es blieb mir also doch nichts weiter übrig, obwohl das „Regulativ" nichts derart vorschrieb, als gelegentlich in aller Form ein Stündchen deutsche Grammatik mit den Jungen zu treiben. So viel ich weiß, bestehen nun aber in dieser Beziehung noch heute dieselben Zustände. Einen ordentlichen, zusammenhängenden Unterricht in der deutschen Grammatik ^ Formenlehre wie Satzlehre — giebt es auf unsern höhern Schulen nirgends, weder auf den untern noch auf den obern Stufen. Das ganze bißchen deutsche Grammatik, das getrieben wird, beschränkt sich auf die ver¬ einzelten Bemerkungen, die gelegentlich beim Lesen und Erklären eines Ge¬ dichtes, eines Schauspiels oder eines Prosastückes oder bei der Rückgabe der durch¬ gesehenen deutsche» Aufsätze den Jungen hingeworfen werden. Das ist aber doch verschwindend wenig. Es müßte viel, viel mehr gute deutsche Prosa gelesen werden, teils in der Schule selbst, teils zu Hause, und was zu Hause gelesen worden ist, müßte der Lehrer gerade auch auf Spracherscheinungen hin sorgfältig kontrolliren. Ein halbes Jahr lang die Jungen mit der Erklärung deutscher Vaterlandslieder oder Klopstockischer Oden langweilen, ein halbes Jahr an einem Drama herumknaupeln, das die Jungen halb auswendig wissen und schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/477>, abgerufen am 28.06.2024.