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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

und zehnten Jahrhundert ganz nüchtern und verständig beobachtet und ge¬
schrieben wurde. Aber von allen den Geschichtswerken, Gesetzen und Urkunden,
die in den neunnndzwnnzig Folianten Mnratoris und den damals schon auf
zwanzig sich belaufenden der AouniusutÄ von Pertz stehen, hat er, wie es scheint,
nichts zu Gesicht bekommen. Trägheit im Lesen und Sammeln kann ihm
freilich niemand zum Vorwurf machen; im Gegenteil verdienen seine Belesenheit
und seine Arbeitskraft Bewunderung. Aber er ist mit vierzig Jahren gestorben,
und zwanzig Jahre Arbeit reichen eben uicht hin, die Grundlage für ein solches
Riesenwerk zu beschaffen. Erst nach beinahe sechzigjährigen Quellenstudium
faßte Ranke den Gedanken seiner Universalgeschichte, die seiner ausgesprochenen
Abneigung gegen Geschichtsphilosophie zum Trotz beinahe eine solche geworden
ist. Das wissenschaftliche Vergehen Buckles besteht darin, daß er die Geschicht¬
schreibung einer tausendjährigen Periode nach einigen dürftigen Proben be¬
urteilte, und daß er diese Proben nicht einmal unbefangen würdigte. Die
englischen Chroniken, die er gelesen hat, enthalten doch nicht lauter unnützes
und abgeschmacktes Zeug, wenn es auch natürlich an solchem nicht darin fehlt.
Auch erscheint ihm manches als Aberglaube, was gar keiner ist. So behauptet
er z. B., wenn die Chronisten über eine Schlacht berichteten, dann führten sie
gewöhnlich die Niederlage des besiegten Teiles uicht ans ihre wirklichen Ursachen,
wie geringe Zahl oder schlechte Bewaffnung oder Feigheit der Truppen, sondern
auf den Willen Gottes zurück. Aber die Leute wußten damals gerade so gut
wie heute, daß ein großer Haufe mehr als ein kleiner und Tapferkeit mehr
als Feigheit vermag. Nur glaubten sie zugleich wahrzunehmen, daß der End¬
erfolg bei allen Unternehmungen uicht lediglich vou den Handelnden, sondern
teilweise vou allerlei Nebenumständen abhänge, nud in diesen von den
Handelnden unabhängigen Einwirkungen sahen sie Veranstaltungen Gottes.
Dieser Glaube besteht noch heute und hat in dem berühmten Kaiserwort
"Welche Wendung durch Gottes Fügung!" seinen klassischen Ausdruck gefunden.
Und im Grunde genommen teilt auch die gesamte moderne Wissenschaft, die
Bucklesche wie die Darwinsche Richtung nicht ausgeschlossen, diesen Glauben.
Denn geradeso wie die Scholastiker nimmt sie über den <Z-iU8!is SLeunclas, den
nächsten Ursachen, eine os.us!i xrium, eine Grundursache an, die die Thätigkeit
jener regelt und auf ein bestimmtes Ziel hinlenkt. Der Unterschied ist nur,
daß sie diese Grundursache nicht als einen persönlichen Geist, sondern als ein
anders, niemand weiß anzugeben wie beschaffenes Wesen darstellt. Allerdings
fehlten dabei die Menschen des Mittelalters in mehrfacher Beziehung. So oft
Naturkräfte ins Spiel kamen, hegten sie von der Beschaffenheit und Verkettung
der Ursachen zweiter Ordnung falsche Vorstellungen. Außerdem waren sie
geneigt, die Kette dieser Ursachen für weit kürzer zu halten, als sie in Wirklich¬
keit ist, und die Endursache viel zu oft und zu unmittelbar eingreifen zu lassen.
Endlich begegnete es ihnen zuweilen auch, daß sie in abergläubischer Furcht


Buckle und Darwin

und zehnten Jahrhundert ganz nüchtern und verständig beobachtet und ge¬
schrieben wurde. Aber von allen den Geschichtswerken, Gesetzen und Urkunden,
die in den neunnndzwnnzig Folianten Mnratoris und den damals schon auf
zwanzig sich belaufenden der AouniusutÄ von Pertz stehen, hat er, wie es scheint,
nichts zu Gesicht bekommen. Trägheit im Lesen und Sammeln kann ihm
freilich niemand zum Vorwurf machen; im Gegenteil verdienen seine Belesenheit
und seine Arbeitskraft Bewunderung. Aber er ist mit vierzig Jahren gestorben,
und zwanzig Jahre Arbeit reichen eben uicht hin, die Grundlage für ein solches
Riesenwerk zu beschaffen. Erst nach beinahe sechzigjährigen Quellenstudium
faßte Ranke den Gedanken seiner Universalgeschichte, die seiner ausgesprochenen
Abneigung gegen Geschichtsphilosophie zum Trotz beinahe eine solche geworden
ist. Das wissenschaftliche Vergehen Buckles besteht darin, daß er die Geschicht¬
schreibung einer tausendjährigen Periode nach einigen dürftigen Proben be¬
urteilte, und daß er diese Proben nicht einmal unbefangen würdigte. Die
englischen Chroniken, die er gelesen hat, enthalten doch nicht lauter unnützes
und abgeschmacktes Zeug, wenn es auch natürlich an solchem nicht darin fehlt.
Auch erscheint ihm manches als Aberglaube, was gar keiner ist. So behauptet
er z. B., wenn die Chronisten über eine Schlacht berichteten, dann führten sie
gewöhnlich die Niederlage des besiegten Teiles uicht ans ihre wirklichen Ursachen,
wie geringe Zahl oder schlechte Bewaffnung oder Feigheit der Truppen, sondern
auf den Willen Gottes zurück. Aber die Leute wußten damals gerade so gut
wie heute, daß ein großer Haufe mehr als ein kleiner und Tapferkeit mehr
als Feigheit vermag. Nur glaubten sie zugleich wahrzunehmen, daß der End¬
erfolg bei allen Unternehmungen uicht lediglich vou den Handelnden, sondern
teilweise vou allerlei Nebenumständen abhänge, nud in diesen von den
Handelnden unabhängigen Einwirkungen sahen sie Veranstaltungen Gottes.
Dieser Glaube besteht noch heute und hat in dem berühmten Kaiserwort
„Welche Wendung durch Gottes Fügung!" seinen klassischen Ausdruck gefunden.
Und im Grunde genommen teilt auch die gesamte moderne Wissenschaft, die
Bucklesche wie die Darwinsche Richtung nicht ausgeschlossen, diesen Glauben.
Denn geradeso wie die Scholastiker nimmt sie über den <Z-iU8!is SLeunclas, den
nächsten Ursachen, eine os.us!i xrium, eine Grundursache an, die die Thätigkeit
jener regelt und auf ein bestimmtes Ziel hinlenkt. Der Unterschied ist nur,
daß sie diese Grundursache nicht als einen persönlichen Geist, sondern als ein
anders, niemand weiß anzugeben wie beschaffenes Wesen darstellt. Allerdings
fehlten dabei die Menschen des Mittelalters in mehrfacher Beziehung. So oft
Naturkräfte ins Spiel kamen, hegten sie von der Beschaffenheit und Verkettung
der Ursachen zweiter Ordnung falsche Vorstellungen. Außerdem waren sie
geneigt, die Kette dieser Ursachen für weit kürzer zu halten, als sie in Wirklich¬
keit ist, und die Endursache viel zu oft und zu unmittelbar eingreifen zu lassen.
Endlich begegnete es ihnen zuweilen auch, daß sie in abergläubischer Furcht


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[0474] Buckle und Darwin und zehnten Jahrhundert ganz nüchtern und verständig beobachtet und ge¬ schrieben wurde. Aber von allen den Geschichtswerken, Gesetzen und Urkunden, die in den neunnndzwnnzig Folianten Mnratoris und den damals schon auf zwanzig sich belaufenden der AouniusutÄ von Pertz stehen, hat er, wie es scheint, nichts zu Gesicht bekommen. Trägheit im Lesen und Sammeln kann ihm freilich niemand zum Vorwurf machen; im Gegenteil verdienen seine Belesenheit und seine Arbeitskraft Bewunderung. Aber er ist mit vierzig Jahren gestorben, und zwanzig Jahre Arbeit reichen eben uicht hin, die Grundlage für ein solches Riesenwerk zu beschaffen. Erst nach beinahe sechzigjährigen Quellenstudium faßte Ranke den Gedanken seiner Universalgeschichte, die seiner ausgesprochenen Abneigung gegen Geschichtsphilosophie zum Trotz beinahe eine solche geworden ist. Das wissenschaftliche Vergehen Buckles besteht darin, daß er die Geschicht¬ schreibung einer tausendjährigen Periode nach einigen dürftigen Proben be¬ urteilte, und daß er diese Proben nicht einmal unbefangen würdigte. Die englischen Chroniken, die er gelesen hat, enthalten doch nicht lauter unnützes und abgeschmacktes Zeug, wenn es auch natürlich an solchem nicht darin fehlt. Auch erscheint ihm manches als Aberglaube, was gar keiner ist. So behauptet er z. B., wenn die Chronisten über eine Schlacht berichteten, dann führten sie gewöhnlich die Niederlage des besiegten Teiles uicht ans ihre wirklichen Ursachen, wie geringe Zahl oder schlechte Bewaffnung oder Feigheit der Truppen, sondern auf den Willen Gottes zurück. Aber die Leute wußten damals gerade so gut wie heute, daß ein großer Haufe mehr als ein kleiner und Tapferkeit mehr als Feigheit vermag. Nur glaubten sie zugleich wahrzunehmen, daß der End¬ erfolg bei allen Unternehmungen uicht lediglich vou den Handelnden, sondern teilweise vou allerlei Nebenumständen abhänge, nud in diesen von den Handelnden unabhängigen Einwirkungen sahen sie Veranstaltungen Gottes. Dieser Glaube besteht noch heute und hat in dem berühmten Kaiserwort „Welche Wendung durch Gottes Fügung!" seinen klassischen Ausdruck gefunden. Und im Grunde genommen teilt auch die gesamte moderne Wissenschaft, die Bucklesche wie die Darwinsche Richtung nicht ausgeschlossen, diesen Glauben. Denn geradeso wie die Scholastiker nimmt sie über den <Z-iU8!is SLeunclas, den nächsten Ursachen, eine os.us!i xrium, eine Grundursache an, die die Thätigkeit jener regelt und auf ein bestimmtes Ziel hinlenkt. Der Unterschied ist nur, daß sie diese Grundursache nicht als einen persönlichen Geist, sondern als ein anders, niemand weiß anzugeben wie beschaffenes Wesen darstellt. Allerdings fehlten dabei die Menschen des Mittelalters in mehrfacher Beziehung. So oft Naturkräfte ins Spiel kamen, hegten sie von der Beschaffenheit und Verkettung der Ursachen zweiter Ordnung falsche Vorstellungen. Außerdem waren sie geneigt, die Kette dieser Ursachen für weit kürzer zu halten, als sie in Wirklich¬ keit ist, und die Endursache viel zu oft und zu unmittelbar eingreifen zu lassen. Endlich begegnete es ihnen zuweilen auch, daß sie in abergläubischer Furcht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/474>, abgerufen am 02.07.2024.