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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

wundenen unhistorischen Standpunkte des Rationalismus der Anfklcirungszeit.
Die Göttersagen deutet er euhemeristisch als greuliche Verhunzung wirk¬
licher Geschichte. Da es in Griechenland "viele Räuber und Vagabunden"
gegeben habe, die alle Herakles hießen, so seien auf diesen einen Namen alle
im Volksmunde umlaufenden Groß- und Unthaten gehäuft worden; und was
dergleichen erbauliche Erklärungsversuche mehr sind.

Wie schon erwähnt, war er der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn
im siebenten Jahrhundert die Kenntnis der Buchstaben ganz verloren gegangen
wäre, anstatt daß sie nur dazu benutzt wurde, allerlei dummes Zeug zu ver¬
breiten. Allein so wenig sich ein Mensch an seinem eignen Schopf aus dem
Sumpfe herausziehen kaun, so wenig, scheint es nach der geschichtlichen Erfah¬
rung, vermag sich ein Naturvolk, solange es auf eigne Kraft beschränkt bleibt,
aus seiner Unwissenheit herauszuarbeiten, man müßte ihm denn jene Jahr¬
millionen zur Verfügung stellen, mit denen die Darwinianer so freigebig sind.
Die erste Hilfe nun, die den Naturkindern von außen dargereicht zu werden
Pflegt, besteht darin, daß man sie lesen und schreiben lehrt. Mit der Ver¬
breitung dieser Künste durchs ganze Volk hin ging es vor Erfindung der
Buchdruckerkunst sehr laugsam. Während der jahrhundertelangen Periode dieser
allmählichen Verbreitung mußten notwendigerweise im Volke abergläubische
Vorstellungen herrschen und konnte das Wissen der wenigen Gebildeten nur
langsam fortschreiten, denn rascher Fortschritt hat zahlreiche Mitarbeiter,
Arbeitsteilung, reiche Hilfsmittel, rasche Verbreitung und vielfache Vergleichung
der Ergebnisse zur Voraussetzung. Zudem blieb die Forschung lange Zeit auf
einen Erdenwinkel beschränkt, und selbst wenn die Gelehrten nicht so unmäßig
^ick Zeit auf Theologie und spekulative Philosophie verwendet hätten, würde
Amerika nicht viel vor dem fünfzehnten Jahrhundert und das kopernilunische
System kaum vor Kopernikus entdeckt worden sein, denn es kann nicht alles
auf einmal geschehen, sondern eins kommt hinter dein andern: die Urbarmachung
des Bodens vor dem Gewerbe, das Gewerbe vor Kunst und Wissenschaft. Wie
hätte der Verlust der Buchstabenkenntuis diesen Gang der Dinge beschleunigen
sollen? Die schriftlose Zeit wäre für den Kulturfortschritt einfach verloren ge¬
wesen, und jene Gleichzeitigkeit von Schrifttum und Aberglauben, die der
englische Kulturhistoriker so sehr beklagt, würde uur einige hundert Jahre später
eingetreten sein.

Sodann unterschätzt Buckle die geschichtliche Litteratur des Mittelalters,
lveil er sie nicht kennt. Seine Urteile stützen sich auf einige englische Chronisten,
Franzosen Froissart und Commes und -- man sollte es kaum für möglich
halten -- die unter dem Namen der Chronik des Turpin bekannte Sagen-
sammlung, die er alles Ernstes für ein Geschichtswerk angesehen zu haben
scheint. Hätte er auch nur Einhards Leben Karls des Großen oder Widukinds
Sachsengeschichte gelesen, so würde er sich überzeugt haben, daß schon im neunten


Grenzboten IV 1839 59
Buckle und Darwin

wundenen unhistorischen Standpunkte des Rationalismus der Anfklcirungszeit.
Die Göttersagen deutet er euhemeristisch als greuliche Verhunzung wirk¬
licher Geschichte. Da es in Griechenland „viele Räuber und Vagabunden"
gegeben habe, die alle Herakles hießen, so seien auf diesen einen Namen alle
im Volksmunde umlaufenden Groß- und Unthaten gehäuft worden; und was
dergleichen erbauliche Erklärungsversuche mehr sind.

Wie schon erwähnt, war er der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn
im siebenten Jahrhundert die Kenntnis der Buchstaben ganz verloren gegangen
wäre, anstatt daß sie nur dazu benutzt wurde, allerlei dummes Zeug zu ver¬
breiten. Allein so wenig sich ein Mensch an seinem eignen Schopf aus dem
Sumpfe herausziehen kaun, so wenig, scheint es nach der geschichtlichen Erfah¬
rung, vermag sich ein Naturvolk, solange es auf eigne Kraft beschränkt bleibt,
aus seiner Unwissenheit herauszuarbeiten, man müßte ihm denn jene Jahr¬
millionen zur Verfügung stellen, mit denen die Darwinianer so freigebig sind.
Die erste Hilfe nun, die den Naturkindern von außen dargereicht zu werden
Pflegt, besteht darin, daß man sie lesen und schreiben lehrt. Mit der Ver¬
breitung dieser Künste durchs ganze Volk hin ging es vor Erfindung der
Buchdruckerkunst sehr laugsam. Während der jahrhundertelangen Periode dieser
allmählichen Verbreitung mußten notwendigerweise im Volke abergläubische
Vorstellungen herrschen und konnte das Wissen der wenigen Gebildeten nur
langsam fortschreiten, denn rascher Fortschritt hat zahlreiche Mitarbeiter,
Arbeitsteilung, reiche Hilfsmittel, rasche Verbreitung und vielfache Vergleichung
der Ergebnisse zur Voraussetzung. Zudem blieb die Forschung lange Zeit auf
einen Erdenwinkel beschränkt, und selbst wenn die Gelehrten nicht so unmäßig
^ick Zeit auf Theologie und spekulative Philosophie verwendet hätten, würde
Amerika nicht viel vor dem fünfzehnten Jahrhundert und das kopernilunische
System kaum vor Kopernikus entdeckt worden sein, denn es kann nicht alles
auf einmal geschehen, sondern eins kommt hinter dein andern: die Urbarmachung
des Bodens vor dem Gewerbe, das Gewerbe vor Kunst und Wissenschaft. Wie
hätte der Verlust der Buchstabenkenntuis diesen Gang der Dinge beschleunigen
sollen? Die schriftlose Zeit wäre für den Kulturfortschritt einfach verloren ge¬
wesen, und jene Gleichzeitigkeit von Schrifttum und Aberglauben, die der
englische Kulturhistoriker so sehr beklagt, würde uur einige hundert Jahre später
eingetreten sein.

Sodann unterschätzt Buckle die geschichtliche Litteratur des Mittelalters,
lveil er sie nicht kennt. Seine Urteile stützen sich auf einige englische Chronisten,
Franzosen Froissart und Commes und — man sollte es kaum für möglich
halten — die unter dem Namen der Chronik des Turpin bekannte Sagen-
sammlung, die er alles Ernstes für ein Geschichtswerk angesehen zu haben
scheint. Hätte er auch nur Einhards Leben Karls des Großen oder Widukinds
Sachsengeschichte gelesen, so würde er sich überzeugt haben, daß schon im neunten


Grenzboten IV 1839 59
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[0473] Buckle und Darwin wundenen unhistorischen Standpunkte des Rationalismus der Anfklcirungszeit. Die Göttersagen deutet er euhemeristisch als greuliche Verhunzung wirk¬ licher Geschichte. Da es in Griechenland „viele Räuber und Vagabunden" gegeben habe, die alle Herakles hießen, so seien auf diesen einen Namen alle im Volksmunde umlaufenden Groß- und Unthaten gehäuft worden; und was dergleichen erbauliche Erklärungsversuche mehr sind. Wie schon erwähnt, war er der Ansicht, es wäre besser gewesen, wenn im siebenten Jahrhundert die Kenntnis der Buchstaben ganz verloren gegangen wäre, anstatt daß sie nur dazu benutzt wurde, allerlei dummes Zeug zu ver¬ breiten. Allein so wenig sich ein Mensch an seinem eignen Schopf aus dem Sumpfe herausziehen kaun, so wenig, scheint es nach der geschichtlichen Erfah¬ rung, vermag sich ein Naturvolk, solange es auf eigne Kraft beschränkt bleibt, aus seiner Unwissenheit herauszuarbeiten, man müßte ihm denn jene Jahr¬ millionen zur Verfügung stellen, mit denen die Darwinianer so freigebig sind. Die erste Hilfe nun, die den Naturkindern von außen dargereicht zu werden Pflegt, besteht darin, daß man sie lesen und schreiben lehrt. Mit der Ver¬ breitung dieser Künste durchs ganze Volk hin ging es vor Erfindung der Buchdruckerkunst sehr laugsam. Während der jahrhundertelangen Periode dieser allmählichen Verbreitung mußten notwendigerweise im Volke abergläubische Vorstellungen herrschen und konnte das Wissen der wenigen Gebildeten nur langsam fortschreiten, denn rascher Fortschritt hat zahlreiche Mitarbeiter, Arbeitsteilung, reiche Hilfsmittel, rasche Verbreitung und vielfache Vergleichung der Ergebnisse zur Voraussetzung. Zudem blieb die Forschung lange Zeit auf einen Erdenwinkel beschränkt, und selbst wenn die Gelehrten nicht so unmäßig ^ick Zeit auf Theologie und spekulative Philosophie verwendet hätten, würde Amerika nicht viel vor dem fünfzehnten Jahrhundert und das kopernilunische System kaum vor Kopernikus entdeckt worden sein, denn es kann nicht alles auf einmal geschehen, sondern eins kommt hinter dein andern: die Urbarmachung des Bodens vor dem Gewerbe, das Gewerbe vor Kunst und Wissenschaft. Wie hätte der Verlust der Buchstabenkenntuis diesen Gang der Dinge beschleunigen sollen? Die schriftlose Zeit wäre für den Kulturfortschritt einfach verloren ge¬ wesen, und jene Gleichzeitigkeit von Schrifttum und Aberglauben, die der englische Kulturhistoriker so sehr beklagt, würde uur einige hundert Jahre später eingetreten sein. Sodann unterschätzt Buckle die geschichtliche Litteratur des Mittelalters, lveil er sie nicht kennt. Seine Urteile stützen sich auf einige englische Chronisten, Franzosen Froissart und Commes und — man sollte es kaum für möglich halten — die unter dem Namen der Chronik des Turpin bekannte Sagen- sammlung, die er alles Ernstes für ein Geschichtswerk angesehen zu haben scheint. Hätte er auch nur Einhards Leben Karls des Großen oder Widukinds Sachsengeschichte gelesen, so würde er sich überzeugt haben, daß schon im neunten Grenzboten IV 1839 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/473>, abgerufen am 02.07.2024.