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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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und siegreich zu Ende geführt hat er ihn. Das ist und das bleibt die
Wahrheit.

Ehe der weitere Verlauf der Ereignisse geschildert werden kann, ist es
notwendig, einige Worte über die Rechtsfrage und die Rechtslage einzufügen.
Die Artikel der preußischen Verfassung, die bei Beurteilung des ganzen Streites
in Frage kommen, lauten: Art. 99. Alle Einnahmen und Ausgaben des
Staates müssen für jedes Jahr im voraus veranschlagt und auf den Staats¬
haushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.
Art. 62. Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und
durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider
Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. Fiuanzgesetzentwürfe und Staats¬
haushaltsetats werden zuerst der zweiten Kammer vorgelegt; letztere werde"
von der ersten Kammer im ganzen angenommen oder abgelehnt. Die andern
Artikel, die man damals Wohl herangezogen hat, sind nebensächlich und treffen
den Kernpunkt der Sache nicht, z. B. Art. 100: Steuern und Abgaben für
die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen
oder durch besondre Gesetze angeordnet sind, erhoben werden; oder Art. 104,
Abs. 1: Zu Etatsüberschreitllngeu ist die nachträgliche Genehmigung der
Kammern erforderlich. Der Schwerpunkt der ganzen Frage liegt offenbar in
der Bestimmung: Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist
zu jedem Gesetze erforderlich. Wird diese Einigung stets erzielt, so arbeitet
die Staatsmaschine glatt und ohne Anstoß, und das politische Leben geht seinen
regelmäßigen, gesetzlichen Gang. Ist aber eine solche nicht herbeizuführen, was
soll dann geschehen? Die Verfassung hat hierauf keine Antwort; in ihr findet
sich auch nicht die Spur einer Bestimmung, nach der in einem solchen Falle
verfahren werden könnte. Das ist die sogenannte Lücke in der Verfassung;
trotz alles Hohnes und Spottes, den mau damals über die "Lückenthevrie"
ausgegossen hat, ist sie thatsächlich vorhanden, und nach der ganzen Entwick¬
lung des preußischen Staats- und Verfassungsrechts ist es überhaupt unmöglich,
diese Lücke auszufüllen.

Am 29. September 1862 wurden die Sitzungen des Abgeordnetenhauses
wieder eröffnet, und zwar mit der Erklärung des Ministerpräsidenten, daß die
Regierung das Budget für 1863 zurückziehe; die wichtigsten Sätze der Be¬
gründung lauteten: "Nachdem das hohe Haus alle in der Reorganisation des
Heeres beruhenden Ausgaben aus dem Etat für 1862 abzusetzen beschlossen
hat, muß die Königl. Regierung annehmen, daß dieselben Beschlüsse sich be¬
züglich des Etats für 1863 unverändert wiederholen werden, wenn er gegen¬
wärtig zur Beratung gelangt. Nach den bisherigen Verhandlungen ist eine
Verständigung ohne Gesetzesvvrlage nicht möglich. Auf den Antrag des Staats¬
ministeriums hat mich der König ermächtigt, den Etat für 1863 zurückzuziehen.
Damit ist der Grundsatz von einer rechtzeitigen Vorlegung des Etats nicht


und siegreich zu Ende geführt hat er ihn. Das ist und das bleibt die
Wahrheit.

Ehe der weitere Verlauf der Ereignisse geschildert werden kann, ist es
notwendig, einige Worte über die Rechtsfrage und die Rechtslage einzufügen.
Die Artikel der preußischen Verfassung, die bei Beurteilung des ganzen Streites
in Frage kommen, lauten: Art. 99. Alle Einnahmen und Ausgaben des
Staates müssen für jedes Jahr im voraus veranschlagt und auf den Staats¬
haushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt.
Art. 62. Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und
durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider
Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. Fiuanzgesetzentwürfe und Staats¬
haushaltsetats werden zuerst der zweiten Kammer vorgelegt; letztere werde»
von der ersten Kammer im ganzen angenommen oder abgelehnt. Die andern
Artikel, die man damals Wohl herangezogen hat, sind nebensächlich und treffen
den Kernpunkt der Sache nicht, z. B. Art. 100: Steuern und Abgaben für
die Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen
oder durch besondre Gesetze angeordnet sind, erhoben werden; oder Art. 104,
Abs. 1: Zu Etatsüberschreitllngeu ist die nachträgliche Genehmigung der
Kammern erforderlich. Der Schwerpunkt der ganzen Frage liegt offenbar in
der Bestimmung: Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist
zu jedem Gesetze erforderlich. Wird diese Einigung stets erzielt, so arbeitet
die Staatsmaschine glatt und ohne Anstoß, und das politische Leben geht seinen
regelmäßigen, gesetzlichen Gang. Ist aber eine solche nicht herbeizuführen, was
soll dann geschehen? Die Verfassung hat hierauf keine Antwort; in ihr findet
sich auch nicht die Spur einer Bestimmung, nach der in einem solchen Falle
verfahren werden könnte. Das ist die sogenannte Lücke in der Verfassung;
trotz alles Hohnes und Spottes, den mau damals über die „Lückenthevrie"
ausgegossen hat, ist sie thatsächlich vorhanden, und nach der ganzen Entwick¬
lung des preußischen Staats- und Verfassungsrechts ist es überhaupt unmöglich,
diese Lücke auszufüllen.

Am 29. September 1862 wurden die Sitzungen des Abgeordnetenhauses
wieder eröffnet, und zwar mit der Erklärung des Ministerpräsidenten, daß die
Regierung das Budget für 1863 zurückziehe; die wichtigsten Sätze der Be¬
gründung lauteten: „Nachdem das hohe Haus alle in der Reorganisation des
Heeres beruhenden Ausgaben aus dem Etat für 1862 abzusetzen beschlossen
hat, muß die Königl. Regierung annehmen, daß dieselben Beschlüsse sich be¬
züglich des Etats für 1863 unverändert wiederholen werden, wenn er gegen¬
wärtig zur Beratung gelangt. Nach den bisherigen Verhandlungen ist eine
Verständigung ohne Gesetzesvvrlage nicht möglich. Auf den Antrag des Staats¬
ministeriums hat mich der König ermächtigt, den Etat für 1863 zurückzuziehen.
Damit ist der Grundsatz von einer rechtzeitigen Vorlegung des Etats nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/466>, abgerufen am 02.07.2024.