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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungsstreit in j)reußen

ganze Verfassung mindestens "sistiren" und in rückschrittlichen Sinne "revi-
diren," oder am liebsten gleich ganz aufheben. Es ist eine ganz auffallende
Erscheinung, wie gering uicht nur unter den Anhängern, sondern selbst auch
unter den Führern der demokratischen Parteien, die Anzahl der Männer ist,
die auch nur einigermaßen eingehende Kenntnis der neuern und neuesten Ge¬
schichte haben. Aber eigentlich haben sie Recht: sie suhlen, daß ihre Partei
keine schlimmere und gefährlichere Feindin hat, als diese Wissenschaft. Wer
die Geschichte kennt und so viel Verstand hat, daß er aus ihr lernen, d. h.
selbständig Schlüsse ziehen und sich Urteile bilden kann, der kann kein Anhänger
der Fortschrittspartei sein. Würde erst einmal die Kenntnis der wirklichen
geschichtlichen Vorgänge Allgemeingut der Nation, dann wäre es mit dieser
Partei ans, rein aus. Aber das erleben Nur nicht. Die wenigen Fortschrittler
oder Freisinnigen aber, die es besser wissen, hüten sich wohl, jenes Tendenz-
märcheu über den schlimmen Bismarck der Konfliktszeit zu zerstören. Die
eben angeführte Ansicht paßt zu gut in ihren Kram. Die gegebene Dar¬
stellung der Thatsachen -- und an den Thatsache" ist uicht zu rühren und zu
rütteln - beweist aufs schlagendste, wie völlig unrichtig jene Anschauung ist.
Als Bismarck die Leitung der Regierung im Namen seines .Königs übernahm,
fand er den Konflikt in allerbester Form vor, so scharf ausgeprägt wie nur
irgend denkbar, so heftig und leidenschaftlich, wie es nur irgend möglich war,
so lange die streitenden Mächte im Staatsleben noch nicht, wie etwa zu den
Zeiten des langen Parlaments in England, zu den Waffen gegriffen hatten,
um ihren vermeintlichen Rechtsstandpunkt zu wahren. Mau darf sogar, wenn
auch nicht voraussetzen, so doch wenigstens für möglich halten, daß er Mittel
und Wege gefunden hätte, den ganzen häßlichen Verfassungsstreit zu vermeiden,
wenn er zwei Jahre früher am Ruder gewesen wäre. Daß er in diesem Sinne
gewirkt haben würde, geht unzweifelhaft hervor aus einer Äußerung, die er
am 19. November 18ki3 dem damaligen Abgeordneten und frühern Minister
von Bernuth gegenüber that: "Wenn irgend jemand die Verpflichtung hat,
uns zu unterstützen bei Lösung desjenigen Knotens, den jene Herren mit mehr
Leichtigkeit als Geschick schürzten, so glaube ich, sind es die Mitglieder der
vorigen Regierung." Als er aber den Streit, der der Regierung mutwillig
aufgedrängt war, einmal vorfand, da hat er ihn geführt wie ein Mann, ein
ganzer Mann, ein Deutscher und ein Preuße. Wie ein germanischer Recke der
alten Zeit stand er vor dem Throne, bereit, mit seinem Schilde oder auch mit
seinem Leibe jeden Streich aufzufangen, den die Feinde gegen den Herrn und
König führten, dem er Mannentreue geschworen hatte bis in den Tod. Und
als dann die Zeit gekommen war, mit Ehren den Gegnern die Hand zum
Frieden zu bieten, da riet er sofort seinem Könige und Gebieter, dessen ehr¬
würdiges Haupt eben mit neuem, unvergänglichen Lorbeer umkränzt war, diesen
Schritt zu thun. Begonnen hat Bismarck den Konflikt nicht, aber ruhmreich


Grenzboten IV 1889 58
Der Verfassungsstreit in j)reußen

ganze Verfassung mindestens „sistiren" und in rückschrittlichen Sinne „revi-
diren," oder am liebsten gleich ganz aufheben. Es ist eine ganz auffallende
Erscheinung, wie gering uicht nur unter den Anhängern, sondern selbst auch
unter den Führern der demokratischen Parteien, die Anzahl der Männer ist,
die auch nur einigermaßen eingehende Kenntnis der neuern und neuesten Ge¬
schichte haben. Aber eigentlich haben sie Recht: sie suhlen, daß ihre Partei
keine schlimmere und gefährlichere Feindin hat, als diese Wissenschaft. Wer
die Geschichte kennt und so viel Verstand hat, daß er aus ihr lernen, d. h.
selbständig Schlüsse ziehen und sich Urteile bilden kann, der kann kein Anhänger
der Fortschrittspartei sein. Würde erst einmal die Kenntnis der wirklichen
geschichtlichen Vorgänge Allgemeingut der Nation, dann wäre es mit dieser
Partei ans, rein aus. Aber das erleben Nur nicht. Die wenigen Fortschrittler
oder Freisinnigen aber, die es besser wissen, hüten sich wohl, jenes Tendenz-
märcheu über den schlimmen Bismarck der Konfliktszeit zu zerstören. Die
eben angeführte Ansicht paßt zu gut in ihren Kram. Die gegebene Dar¬
stellung der Thatsachen — und an den Thatsache» ist uicht zu rühren und zu
rütteln - beweist aufs schlagendste, wie völlig unrichtig jene Anschauung ist.
Als Bismarck die Leitung der Regierung im Namen seines .Königs übernahm,
fand er den Konflikt in allerbester Form vor, so scharf ausgeprägt wie nur
irgend denkbar, so heftig und leidenschaftlich, wie es nur irgend möglich war,
so lange die streitenden Mächte im Staatsleben noch nicht, wie etwa zu den
Zeiten des langen Parlaments in England, zu den Waffen gegriffen hatten,
um ihren vermeintlichen Rechtsstandpunkt zu wahren. Mau darf sogar, wenn
auch nicht voraussetzen, so doch wenigstens für möglich halten, daß er Mittel
und Wege gefunden hätte, den ganzen häßlichen Verfassungsstreit zu vermeiden,
wenn er zwei Jahre früher am Ruder gewesen wäre. Daß er in diesem Sinne
gewirkt haben würde, geht unzweifelhaft hervor aus einer Äußerung, die er
am 19. November 18ki3 dem damaligen Abgeordneten und frühern Minister
von Bernuth gegenüber that: „Wenn irgend jemand die Verpflichtung hat,
uns zu unterstützen bei Lösung desjenigen Knotens, den jene Herren mit mehr
Leichtigkeit als Geschick schürzten, so glaube ich, sind es die Mitglieder der
vorigen Regierung." Als er aber den Streit, der der Regierung mutwillig
aufgedrängt war, einmal vorfand, da hat er ihn geführt wie ein Mann, ein
ganzer Mann, ein Deutscher und ein Preuße. Wie ein germanischer Recke der
alten Zeit stand er vor dem Throne, bereit, mit seinem Schilde oder auch mit
seinem Leibe jeden Streich aufzufangen, den die Feinde gegen den Herrn und
König führten, dem er Mannentreue geschworen hatte bis in den Tod. Und
als dann die Zeit gekommen war, mit Ehren den Gegnern die Hand zum
Frieden zu bieten, da riet er sofort seinem Könige und Gebieter, dessen ehr¬
würdiges Haupt eben mit neuem, unvergänglichen Lorbeer umkränzt war, diesen
Schritt zu thun. Begonnen hat Bismarck den Konflikt nicht, aber ruhmreich


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[0465] Der Verfassungsstreit in j)reußen ganze Verfassung mindestens „sistiren" und in rückschrittlichen Sinne „revi- diren," oder am liebsten gleich ganz aufheben. Es ist eine ganz auffallende Erscheinung, wie gering uicht nur unter den Anhängern, sondern selbst auch unter den Führern der demokratischen Parteien, die Anzahl der Männer ist, die auch nur einigermaßen eingehende Kenntnis der neuern und neuesten Ge¬ schichte haben. Aber eigentlich haben sie Recht: sie suhlen, daß ihre Partei keine schlimmere und gefährlichere Feindin hat, als diese Wissenschaft. Wer die Geschichte kennt und so viel Verstand hat, daß er aus ihr lernen, d. h. selbständig Schlüsse ziehen und sich Urteile bilden kann, der kann kein Anhänger der Fortschrittspartei sein. Würde erst einmal die Kenntnis der wirklichen geschichtlichen Vorgänge Allgemeingut der Nation, dann wäre es mit dieser Partei ans, rein aus. Aber das erleben Nur nicht. Die wenigen Fortschrittler oder Freisinnigen aber, die es besser wissen, hüten sich wohl, jenes Tendenz- märcheu über den schlimmen Bismarck der Konfliktszeit zu zerstören. Die eben angeführte Ansicht paßt zu gut in ihren Kram. Die gegebene Dar¬ stellung der Thatsachen — und an den Thatsache» ist uicht zu rühren und zu rütteln - beweist aufs schlagendste, wie völlig unrichtig jene Anschauung ist. Als Bismarck die Leitung der Regierung im Namen seines .Königs übernahm, fand er den Konflikt in allerbester Form vor, so scharf ausgeprägt wie nur irgend denkbar, so heftig und leidenschaftlich, wie es nur irgend möglich war, so lange die streitenden Mächte im Staatsleben noch nicht, wie etwa zu den Zeiten des langen Parlaments in England, zu den Waffen gegriffen hatten, um ihren vermeintlichen Rechtsstandpunkt zu wahren. Mau darf sogar, wenn auch nicht voraussetzen, so doch wenigstens für möglich halten, daß er Mittel und Wege gefunden hätte, den ganzen häßlichen Verfassungsstreit zu vermeiden, wenn er zwei Jahre früher am Ruder gewesen wäre. Daß er in diesem Sinne gewirkt haben würde, geht unzweifelhaft hervor aus einer Äußerung, die er am 19. November 18ki3 dem damaligen Abgeordneten und frühern Minister von Bernuth gegenüber that: „Wenn irgend jemand die Verpflichtung hat, uns zu unterstützen bei Lösung desjenigen Knotens, den jene Herren mit mehr Leichtigkeit als Geschick schürzten, so glaube ich, sind es die Mitglieder der vorigen Regierung." Als er aber den Streit, der der Regierung mutwillig aufgedrängt war, einmal vorfand, da hat er ihn geführt wie ein Mann, ein ganzer Mann, ein Deutscher und ein Preuße. Wie ein germanischer Recke der alten Zeit stand er vor dem Throne, bereit, mit seinem Schilde oder auch mit seinem Leibe jeden Streich aufzufangen, den die Feinde gegen den Herrn und König führten, dem er Mannentreue geschworen hatte bis in den Tod. Und als dann die Zeit gekommen war, mit Ehren den Gegnern die Hand zum Frieden zu bieten, da riet er sofort seinem Könige und Gebieter, dessen ehr¬ würdiges Haupt eben mit neuem, unvergänglichen Lorbeer umkränzt war, diesen Schritt zu thun. Begonnen hat Bismarck den Konflikt nicht, aber ruhmreich Grenzboten IV 1889 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/465>, abgerufen am 22.12.2024.