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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungsstreit in Preußen

kam wohl auch schon damals in stiller Stunde einmal der Gedanke: "Wenn
die Männer, die Preußen groß gemacht haben, die Fürsten und Feldherren,


Die Helden, so einst uns geführet,

herabschauten aus himmlischen Höhen ans das erbarmenswürdige Schauspiel,
wie die eignen Söhne des Vaterlandes förmlich mit Wollust in seinen Ein¬
geweiden wühlten, so müßten wir doch vergehen vor Scham." Preußen wehrlos
machen -- Preußen ehrlos machen, das wollten die meisten entschieden nicht.
Aber sie faßten jenen Beschluß einfach, um den Konflikt zu verschärfen, zu ver¬
tiefen und dauernd zu machen. Sie wollten eben den Konflikt um seiner selbst
willen; denn durch den Konflikt glaubten sie nach und nach den König und
die Negierung zwingen zu können, den wahren Parlamentarismus, d. h.
die unbedingte Pnrlamentsherrschaft, herzustellen. Die Herren hatten gut ge¬
lernt in der französischen Schule: Opposition gegen jede Regierung, bis das
jeweilige Ministerium gestürzt war, und bis die Opposition selbst die Macht
in den Händen hatte, um allerdings nach längerer oder kürzerer Zeit von
einer uoch fortgeschritteneren Opposition dasselbe Schicksal zu erleiden. In
Frankreich ging man dann freilich noch einen Schritt weiter: waren ver-
schiedne Ministerien nach und nach gefallen, so stürzte man von Zeit zu Zeit
der Abwechslung wegen die Dynastie. Bis zu dieser Höhe war man in
Preußen noch nicht gediehen; das hätten sogar die entschiedensten Republi¬
kaner aus der 48er Zeit nicht zugestanden. Aber Parlamentsherrschaft um
jeden Preis wollte man; darum Konflikt um jeden Preis. War der echte
Parlamentarismus erst da, dann kam alles übrige, was zu wünschen war, von
selbst nach. Natürlich bestritt der "Fortschritt" aufs lebhafteste und mit dem
sogenannten Brusttöne der Überzeugung, der den Herren bekanntlich so gut
steht, daß er jemals nach Machterweiterung für den Landtag gestrebt habe;
natürlich bestreitet er das bis auf den heutigen Tag. Das thut aber nichts,
die Sache ist doch einmal so. Wenn dem Beschlusse vom 2Z. September 1862
dieses uneingestaudene Streben nicht zu Grunde lag, so lag einfach gar keine
Vernunft darin; er war dann völlig zwecklos und sinnlos, ja geradezu widersinnig.

Die Fortschrittspartei, die ganz in den demokratischen Anschauungen von
1848 wurzelte und daher, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, auf dem
Standpunkte der unbedingten Volkssouveränität stand, war rasch genug fertig
mit der Antwort: Ist eine Einigung der drei Faktoren der Gesetzgebung nicht
zu erzielen, so muß nicht nur das Herrenhaus, sondern so muß auch der König
einfach nachgeben und sich dem Willen des Unterhauses fügen. So unumwunden,
oder sagen wir geradezu: so grob drückte sie das nicht aus. Denn gegen die
Person des Königs hegte der Fortschritt von jeher und hegt er noch heute
die unbedingteste Hochachtung, in Worten natürlich. Eine Person hat nnn
aber eignes Urteil, freien Willen, selbständige Entschließungen u. s. w., und
gerade bei den Männern des Hauses Hohenzollern sind diese Weseuseigen-


Der Verfassungsstreit in Preußen

kam wohl auch schon damals in stiller Stunde einmal der Gedanke: „Wenn
die Männer, die Preußen groß gemacht haben, die Fürsten und Feldherren,


Die Helden, so einst uns geführet,

herabschauten aus himmlischen Höhen ans das erbarmenswürdige Schauspiel,
wie die eignen Söhne des Vaterlandes förmlich mit Wollust in seinen Ein¬
geweiden wühlten, so müßten wir doch vergehen vor Scham." Preußen wehrlos
machen — Preußen ehrlos machen, das wollten die meisten entschieden nicht.
Aber sie faßten jenen Beschluß einfach, um den Konflikt zu verschärfen, zu ver¬
tiefen und dauernd zu machen. Sie wollten eben den Konflikt um seiner selbst
willen; denn durch den Konflikt glaubten sie nach und nach den König und
die Negierung zwingen zu können, den wahren Parlamentarismus, d. h.
die unbedingte Pnrlamentsherrschaft, herzustellen. Die Herren hatten gut ge¬
lernt in der französischen Schule: Opposition gegen jede Regierung, bis das
jeweilige Ministerium gestürzt war, und bis die Opposition selbst die Macht
in den Händen hatte, um allerdings nach längerer oder kürzerer Zeit von
einer uoch fortgeschritteneren Opposition dasselbe Schicksal zu erleiden. In
Frankreich ging man dann freilich noch einen Schritt weiter: waren ver-
schiedne Ministerien nach und nach gefallen, so stürzte man von Zeit zu Zeit
der Abwechslung wegen die Dynastie. Bis zu dieser Höhe war man in
Preußen noch nicht gediehen; das hätten sogar die entschiedensten Republi¬
kaner aus der 48er Zeit nicht zugestanden. Aber Parlamentsherrschaft um
jeden Preis wollte man; darum Konflikt um jeden Preis. War der echte
Parlamentarismus erst da, dann kam alles übrige, was zu wünschen war, von
selbst nach. Natürlich bestritt der „Fortschritt" aufs lebhafteste und mit dem
sogenannten Brusttöne der Überzeugung, der den Herren bekanntlich so gut
steht, daß er jemals nach Machterweiterung für den Landtag gestrebt habe;
natürlich bestreitet er das bis auf den heutigen Tag. Das thut aber nichts,
die Sache ist doch einmal so. Wenn dem Beschlusse vom 2Z. September 1862
dieses uneingestaudene Streben nicht zu Grunde lag, so lag einfach gar keine
Vernunft darin; er war dann völlig zwecklos und sinnlos, ja geradezu widersinnig.

Die Fortschrittspartei, die ganz in den demokratischen Anschauungen von
1848 wurzelte und daher, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, auf dem
Standpunkte der unbedingten Volkssouveränität stand, war rasch genug fertig
mit der Antwort: Ist eine Einigung der drei Faktoren der Gesetzgebung nicht
zu erzielen, so muß nicht nur das Herrenhaus, sondern so muß auch der König
einfach nachgeben und sich dem Willen des Unterhauses fügen. So unumwunden,
oder sagen wir geradezu: so grob drückte sie das nicht aus. Denn gegen die
Person des Königs hegte der Fortschritt von jeher und hegt er noch heute
die unbedingteste Hochachtung, in Worten natürlich. Eine Person hat nnn
aber eignes Urteil, freien Willen, selbständige Entschließungen u. s. w., und
gerade bei den Männern des Hauses Hohenzollern sind diese Weseuseigen-


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[0462] Der Verfassungsstreit in Preußen kam wohl auch schon damals in stiller Stunde einmal der Gedanke: „Wenn die Männer, die Preußen groß gemacht haben, die Fürsten und Feldherren, Die Helden, so einst uns geführet, herabschauten aus himmlischen Höhen ans das erbarmenswürdige Schauspiel, wie die eignen Söhne des Vaterlandes förmlich mit Wollust in seinen Ein¬ geweiden wühlten, so müßten wir doch vergehen vor Scham." Preußen wehrlos machen — Preußen ehrlos machen, das wollten die meisten entschieden nicht. Aber sie faßten jenen Beschluß einfach, um den Konflikt zu verschärfen, zu ver¬ tiefen und dauernd zu machen. Sie wollten eben den Konflikt um seiner selbst willen; denn durch den Konflikt glaubten sie nach und nach den König und die Negierung zwingen zu können, den wahren Parlamentarismus, d. h. die unbedingte Pnrlamentsherrschaft, herzustellen. Die Herren hatten gut ge¬ lernt in der französischen Schule: Opposition gegen jede Regierung, bis das jeweilige Ministerium gestürzt war, und bis die Opposition selbst die Macht in den Händen hatte, um allerdings nach längerer oder kürzerer Zeit von einer uoch fortgeschritteneren Opposition dasselbe Schicksal zu erleiden. In Frankreich ging man dann freilich noch einen Schritt weiter: waren ver- schiedne Ministerien nach und nach gefallen, so stürzte man von Zeit zu Zeit der Abwechslung wegen die Dynastie. Bis zu dieser Höhe war man in Preußen noch nicht gediehen; das hätten sogar die entschiedensten Republi¬ kaner aus der 48er Zeit nicht zugestanden. Aber Parlamentsherrschaft um jeden Preis wollte man; darum Konflikt um jeden Preis. War der echte Parlamentarismus erst da, dann kam alles übrige, was zu wünschen war, von selbst nach. Natürlich bestritt der „Fortschritt" aufs lebhafteste und mit dem sogenannten Brusttöne der Überzeugung, der den Herren bekanntlich so gut steht, daß er jemals nach Machterweiterung für den Landtag gestrebt habe; natürlich bestreitet er das bis auf den heutigen Tag. Das thut aber nichts, die Sache ist doch einmal so. Wenn dem Beschlusse vom 2Z. September 1862 dieses uneingestaudene Streben nicht zu Grunde lag, so lag einfach gar keine Vernunft darin; er war dann völlig zwecklos und sinnlos, ja geradezu widersinnig. Die Fortschrittspartei, die ganz in den demokratischen Anschauungen von 1848 wurzelte und daher, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, auf dem Standpunkte der unbedingten Volkssouveränität stand, war rasch genug fertig mit der Antwort: Ist eine Einigung der drei Faktoren der Gesetzgebung nicht zu erzielen, so muß nicht nur das Herrenhaus, sondern so muß auch der König einfach nachgeben und sich dem Willen des Unterhauses fügen. So unumwunden, oder sagen wir geradezu: so grob drückte sie das nicht aus. Denn gegen die Person des Königs hegte der Fortschritt von jeher und hegt er noch heute die unbedingteste Hochachtung, in Worten natürlich. Eine Person hat nnn aber eignes Urteil, freien Willen, selbständige Entschließungen u. s. w., und gerade bei den Männern des Hauses Hohenzollern sind diese Weseuseigen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/462>, abgerufen am 22.12.2024.