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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungsstreit in Preußen

nicht Umstände herbeizuführen, "unter denen etwas geschehen müsse, was nicht
ausdrücklich in der Verfassung geschrieben sei," stimmten für die Regierungs¬
vorlage nur 11 Mitglieder ("Feudale" natürlich!), dagegen 308. Die gesamten
Kosten der Reorganisation wurden im Ordinarium gestrichen und in das Extra-
ordinarium verwiesen ("erhöhte Kriegsbereitschaft" lautete die schöne Redensart,
die man dafür erfunden hatte), und um keinen Menschen in Zweifel darüber
zu lassen, was man auf dieser "Seite des Hauses" unter erhöhter Kriegsbereit¬
schaft verstand, wurde dann die gesamte Summe im Extraordinarium einfach
gestrichen. Mit diesem Beschlusse war, wie man im gewöhnlichen Leben zu
sagen Pflegt, dem Fasse der Boden aufgeschlagen. Aus dem klaffenden Riß
war jetzt ein gähnender Schlund geworden.

Was dachte sich wohl das Abgeordnetenhaus eigentlich bei diesem Be¬
schlusse? Glaubte die Mehrheit wirklich, daß die Regierung sich dem fügen
und das nun ausführen würde, was die notwendige Folge davon war? Die
preußische Geschichte kennt nur einen Fall von einer wesentlichen Verminderung
des Heeres. Das war damals, als ein übermütiger und übermächtiger Sieger
und Eroberer seinen Fuß auf den Nacken des bis dahin freien Preußenvolkes
gesetzt hatte, es war bei dein schmachvollen Frieden zu Tilsit, dem sich das
zertretene Land fügen mußte. Jedem Vaterlandsfreunde blutete damals das
Herz, und es blutete lange, schwere Jahre, bis das fließende Herzblut der
Feinde die Wunden heilte. Und wenn wir jetzt, wo unsre Nation auf der
Höhe der Macht und des Ruhmes steht, an Tilsit denken oder davon lesen,
dann ballt sich unwillkürlich die Faust, und jeder, der ein Deutscher ist, denkt:
"Lieber soll alles, was im Vaterlande Wehr und Waffen tragen kann, auf
dem Schlachtfelde bluten, als daß eine solche Schmach noch einmal über uns
kommt!" Und zu einer ähnlichen Maßregel wollte eine sogenannte preußische
Volksvertretung die Regierung des eignen Landes zwingen! Auch der ver-
blendetste und verrannteste Parteifanatiker konnte unmöglich glauben, daß König
Wilhelm das jemals zugeben würde, ja mehr noch, daß die Durchführung einer
solchen Maßregel überhaupt möglich wäre. Es sollte z. B. fast der halbe
Bestand der Infanterie entlassen, aufgelöst werden, jenes Fußvolkes, das bald
darauf in drei blutigen Kriegen im Sturme mit "Gewehr rechts!" siegreich alle
Feinde des Vaterlandes zu Boden warf. Eher wären unsre Ströme rückwärts
geflossen! Wollte denn die Mehrheit des Hanfes auch wirklich und ernstlich,
daß ihr Beschluß durchgeführt wurde? Auch diese Frage muß verneint werden.
Denn unter den Männern, die damals gegen die Regierung stimmten, waren
doch recht viele, die nicht beabsichtigten, ihr Land ungerüstet oder doch wenigstens
höchst mangelhaft gerüstet seinen Feinden preiszugeben. Es gab, wie der Ver¬
lauf der Geschichte nachher unwiderleglich bewiesen hat, unter ihnen doch recht
viele, in deren Herzen die Parteiieidenschaft den alten, braven Preußensinn
zwar für den Augenblick überwuchert, aber keineswegs erstickt hatte. Vielen


Der Verfassungsstreit in Preußen

nicht Umstände herbeizuführen, „unter denen etwas geschehen müsse, was nicht
ausdrücklich in der Verfassung geschrieben sei," stimmten für die Regierungs¬
vorlage nur 11 Mitglieder („Feudale" natürlich!), dagegen 308. Die gesamten
Kosten der Reorganisation wurden im Ordinarium gestrichen und in das Extra-
ordinarium verwiesen („erhöhte Kriegsbereitschaft" lautete die schöne Redensart,
die man dafür erfunden hatte), und um keinen Menschen in Zweifel darüber
zu lassen, was man auf dieser „Seite des Hauses" unter erhöhter Kriegsbereit¬
schaft verstand, wurde dann die gesamte Summe im Extraordinarium einfach
gestrichen. Mit diesem Beschlusse war, wie man im gewöhnlichen Leben zu
sagen Pflegt, dem Fasse der Boden aufgeschlagen. Aus dem klaffenden Riß
war jetzt ein gähnender Schlund geworden.

Was dachte sich wohl das Abgeordnetenhaus eigentlich bei diesem Be¬
schlusse? Glaubte die Mehrheit wirklich, daß die Regierung sich dem fügen
und das nun ausführen würde, was die notwendige Folge davon war? Die
preußische Geschichte kennt nur einen Fall von einer wesentlichen Verminderung
des Heeres. Das war damals, als ein übermütiger und übermächtiger Sieger
und Eroberer seinen Fuß auf den Nacken des bis dahin freien Preußenvolkes
gesetzt hatte, es war bei dein schmachvollen Frieden zu Tilsit, dem sich das
zertretene Land fügen mußte. Jedem Vaterlandsfreunde blutete damals das
Herz, und es blutete lange, schwere Jahre, bis das fließende Herzblut der
Feinde die Wunden heilte. Und wenn wir jetzt, wo unsre Nation auf der
Höhe der Macht und des Ruhmes steht, an Tilsit denken oder davon lesen,
dann ballt sich unwillkürlich die Faust, und jeder, der ein Deutscher ist, denkt:
„Lieber soll alles, was im Vaterlande Wehr und Waffen tragen kann, auf
dem Schlachtfelde bluten, als daß eine solche Schmach noch einmal über uns
kommt!" Und zu einer ähnlichen Maßregel wollte eine sogenannte preußische
Volksvertretung die Regierung des eignen Landes zwingen! Auch der ver-
blendetste und verrannteste Parteifanatiker konnte unmöglich glauben, daß König
Wilhelm das jemals zugeben würde, ja mehr noch, daß die Durchführung einer
solchen Maßregel überhaupt möglich wäre. Es sollte z. B. fast der halbe
Bestand der Infanterie entlassen, aufgelöst werden, jenes Fußvolkes, das bald
darauf in drei blutigen Kriegen im Sturme mit „Gewehr rechts!" siegreich alle
Feinde des Vaterlandes zu Boden warf. Eher wären unsre Ströme rückwärts
geflossen! Wollte denn die Mehrheit des Hanfes auch wirklich und ernstlich,
daß ihr Beschluß durchgeführt wurde? Auch diese Frage muß verneint werden.
Denn unter den Männern, die damals gegen die Regierung stimmten, waren
doch recht viele, die nicht beabsichtigten, ihr Land ungerüstet oder doch wenigstens
höchst mangelhaft gerüstet seinen Feinden preiszugeben. Es gab, wie der Ver¬
lauf der Geschichte nachher unwiderleglich bewiesen hat, unter ihnen doch recht
viele, in deren Herzen die Parteiieidenschaft den alten, braven Preußensinn
zwar für den Augenblick überwuchert, aber keineswegs erstickt hatte. Vielen


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[0461] Der Verfassungsstreit in Preußen nicht Umstände herbeizuführen, „unter denen etwas geschehen müsse, was nicht ausdrücklich in der Verfassung geschrieben sei," stimmten für die Regierungs¬ vorlage nur 11 Mitglieder („Feudale" natürlich!), dagegen 308. Die gesamten Kosten der Reorganisation wurden im Ordinarium gestrichen und in das Extra- ordinarium verwiesen („erhöhte Kriegsbereitschaft" lautete die schöne Redensart, die man dafür erfunden hatte), und um keinen Menschen in Zweifel darüber zu lassen, was man auf dieser „Seite des Hauses" unter erhöhter Kriegsbereit¬ schaft verstand, wurde dann die gesamte Summe im Extraordinarium einfach gestrichen. Mit diesem Beschlusse war, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen Pflegt, dem Fasse der Boden aufgeschlagen. Aus dem klaffenden Riß war jetzt ein gähnender Schlund geworden. Was dachte sich wohl das Abgeordnetenhaus eigentlich bei diesem Be¬ schlusse? Glaubte die Mehrheit wirklich, daß die Regierung sich dem fügen und das nun ausführen würde, was die notwendige Folge davon war? Die preußische Geschichte kennt nur einen Fall von einer wesentlichen Verminderung des Heeres. Das war damals, als ein übermütiger und übermächtiger Sieger und Eroberer seinen Fuß auf den Nacken des bis dahin freien Preußenvolkes gesetzt hatte, es war bei dein schmachvollen Frieden zu Tilsit, dem sich das zertretene Land fügen mußte. Jedem Vaterlandsfreunde blutete damals das Herz, und es blutete lange, schwere Jahre, bis das fließende Herzblut der Feinde die Wunden heilte. Und wenn wir jetzt, wo unsre Nation auf der Höhe der Macht und des Ruhmes steht, an Tilsit denken oder davon lesen, dann ballt sich unwillkürlich die Faust, und jeder, der ein Deutscher ist, denkt: „Lieber soll alles, was im Vaterlande Wehr und Waffen tragen kann, auf dem Schlachtfelde bluten, als daß eine solche Schmach noch einmal über uns kommt!" Und zu einer ähnlichen Maßregel wollte eine sogenannte preußische Volksvertretung die Regierung des eignen Landes zwingen! Auch der ver- blendetste und verrannteste Parteifanatiker konnte unmöglich glauben, daß König Wilhelm das jemals zugeben würde, ja mehr noch, daß die Durchführung einer solchen Maßregel überhaupt möglich wäre. Es sollte z. B. fast der halbe Bestand der Infanterie entlassen, aufgelöst werden, jenes Fußvolkes, das bald darauf in drei blutigen Kriegen im Sturme mit „Gewehr rechts!" siegreich alle Feinde des Vaterlandes zu Boden warf. Eher wären unsre Ströme rückwärts geflossen! Wollte denn die Mehrheit des Hanfes auch wirklich und ernstlich, daß ihr Beschluß durchgeführt wurde? Auch diese Frage muß verneint werden. Denn unter den Männern, die damals gegen die Regierung stimmten, waren doch recht viele, die nicht beabsichtigten, ihr Land ungerüstet oder doch wenigstens höchst mangelhaft gerüstet seinen Feinden preiszugeben. Es gab, wie der Ver¬ lauf der Geschichte nachher unwiderleglich bewiesen hat, unter ihnen doch recht viele, in deren Herzen die Parteiieidenschaft den alten, braven Preußensinn zwar für den Augenblick überwuchert, aber keineswegs erstickt hatte. Vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/461>, abgerufen am 02.07.2024.