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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungsstreit in Preußen

oder auch nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb
eines Zeitraums von sechzig Tagen nach der Auflösung die Wähler und
innerhalb eines Zeitraums von neunzig Tagen nach der Auflösung die Kammern
versammelt werden." Der Konflikt war somit offenkundig und handgreiflich
geworden; von einem Verkleistern konnte nicht mehr die Rede sein. Aus dem
kleinen Riß war ein klaffender Spalt geworden.

Die Wahlbewegung begann sofort mit einer seit 1848 nicht wieder da¬
gewesenen Heftigkeit. Erlasse der Regierung und der einzelnen Minister, Auf¬
rufe der einzelnen Parteien, namentlich der Fortschrittspartei vom 14. und
ZI. Mürz, Erklärungen, Resolutionen, Adressen aller möglichen, natürlich
meistens völlig unberufenen Körperschaften u. f. w., das alles nahm kein Ende.
Der Ton dieser Schriftstücke war durchweg scharf; sie sind jedoch ausnahms¬
los zu langatmig, als daß hier auf ihren Inhalt näher eingegangen werden
könnte. Inzwischen waren am 18. März die Minister von Auerswald, von
Pntow, Graf Schwerin, von Bernuth, Graf Pückler entlassen worden. Der
bisherige Handelsminister von der Heydt wurde Finanzminister; nen traten ein:
Graf Jtzenplitz, von Muster (bisher Oberkvusistorialrat), Graf Lippe (bisher
Oberstaatsanwalt) und vou Jagow. Am 28. April wurden die Wahlmänner,
am 6. Mai die Abgeordneten in ganz Preußen gewählt. Die Niederlage der
Parteien, die entschlossen waren, die Regierung zu unterstützen, war so voll¬
ständig wie nur möglich. Die wenigen Anhänger des Ministeriums wurden
fast allgemein uur noch als Feudale und Reaktionäre bezeichnet; "Aristokraten"
nud "Junker" wäre zu gut für sie gewesen.

Am 19. Mai wurde der neue Landtag eröffnet, nicht durch den König
in Person, sondern dnrch den Präsidenten des Staatsministeriums. Die
Thronrede war wieder in dem allerversöhulichsten Tone gehalten; sie schloß
mit den Worten: "Die Negierung wird diesen Grundsätzen ^die der König bei
Übernahme der Regentschaft ausgesprochen hatte^ gemäß wie die Rechte der
Krone so auch die Rechte der Landesvertretung gewissenhaft wahren; sie giebt
sich aber auch der Hoffnung hin, daß Sie, meine Herren, ihr bei den zur Auf¬
rechterhaltung der Ehre und Würde Preußens, sowie zur Förderung aller
Zweige friedlicher Thätigkeit nötigen Maßregeln patriotische Unterstützung nicht
versagen." Diese schönen Worte, so redlich und aufrichtig sie auch waren, ver¬
hallten fast ungehört in dem Sturme der entfesselten Parteileideuschaft und
Parteiwut.

Die erste Antwort, die das Abgeordnetenhaus gab, bestand darin, daß
mit 276 von 288 Stimmen Grnbvw zum Präsidenten erwählt wurde; Vize-
präsidenteu wurden wieder Behrend und von Bockum-Dvlffs. Unter den Er¬
örterungen der ersten Wochen nahm die dreitägige Adreßdebatte einen breiten
Raum ein. Die Adresse, der ein Entwurf Twestens zu Grunde lag. lautete
recht hübsch und strömte über von Versicherungen der Loyalität. Wenn mau


Der Verfassungsstreit in Preußen

oder auch nur eine auflösen. Es müssen aber in einem solchen Falle innerhalb
eines Zeitraums von sechzig Tagen nach der Auflösung die Wähler und
innerhalb eines Zeitraums von neunzig Tagen nach der Auflösung die Kammern
versammelt werden." Der Konflikt war somit offenkundig und handgreiflich
geworden; von einem Verkleistern konnte nicht mehr die Rede sein. Aus dem
kleinen Riß war ein klaffender Spalt geworden.

Die Wahlbewegung begann sofort mit einer seit 1848 nicht wieder da¬
gewesenen Heftigkeit. Erlasse der Regierung und der einzelnen Minister, Auf¬
rufe der einzelnen Parteien, namentlich der Fortschrittspartei vom 14. und
ZI. Mürz, Erklärungen, Resolutionen, Adressen aller möglichen, natürlich
meistens völlig unberufenen Körperschaften u. f. w., das alles nahm kein Ende.
Der Ton dieser Schriftstücke war durchweg scharf; sie sind jedoch ausnahms¬
los zu langatmig, als daß hier auf ihren Inhalt näher eingegangen werden
könnte. Inzwischen waren am 18. März die Minister von Auerswald, von
Pntow, Graf Schwerin, von Bernuth, Graf Pückler entlassen worden. Der
bisherige Handelsminister von der Heydt wurde Finanzminister; nen traten ein:
Graf Jtzenplitz, von Muster (bisher Oberkvusistorialrat), Graf Lippe (bisher
Oberstaatsanwalt) und vou Jagow. Am 28. April wurden die Wahlmänner,
am 6. Mai die Abgeordneten in ganz Preußen gewählt. Die Niederlage der
Parteien, die entschlossen waren, die Regierung zu unterstützen, war so voll¬
ständig wie nur möglich. Die wenigen Anhänger des Ministeriums wurden
fast allgemein uur noch als Feudale und Reaktionäre bezeichnet; „Aristokraten"
nud „Junker" wäre zu gut für sie gewesen.

Am 19. Mai wurde der neue Landtag eröffnet, nicht durch den König
in Person, sondern dnrch den Präsidenten des Staatsministeriums. Die
Thronrede war wieder in dem allerversöhulichsten Tone gehalten; sie schloß
mit den Worten: „Die Negierung wird diesen Grundsätzen ^die der König bei
Übernahme der Regentschaft ausgesprochen hatte^ gemäß wie die Rechte der
Krone so auch die Rechte der Landesvertretung gewissenhaft wahren; sie giebt
sich aber auch der Hoffnung hin, daß Sie, meine Herren, ihr bei den zur Auf¬
rechterhaltung der Ehre und Würde Preußens, sowie zur Förderung aller
Zweige friedlicher Thätigkeit nötigen Maßregeln patriotische Unterstützung nicht
versagen." Diese schönen Worte, so redlich und aufrichtig sie auch waren, ver¬
hallten fast ungehört in dem Sturme der entfesselten Parteileideuschaft und
Parteiwut.

Die erste Antwort, die das Abgeordnetenhaus gab, bestand darin, daß
mit 276 von 288 Stimmen Grnbvw zum Präsidenten erwählt wurde; Vize-
präsidenteu wurden wieder Behrend und von Bockum-Dvlffs. Unter den Er¬
örterungen der ersten Wochen nahm die dreitägige Adreßdebatte einen breiten
Raum ein. Die Adresse, der ein Entwurf Twestens zu Grunde lag. lautete
recht hübsch und strömte über von Versicherungen der Loyalität. Wenn mau


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/459>, abgerufen am 22.12.2024.