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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Sprachduininheiten

fühlen, daß sie sich dabei zusammennehmen müssen, daß sie vor einer gewissen
Aufgabe stehen, die eigentlich nicht ihre Sache sei. Wallte man sie fragen,
worin sie diese ungewöhnliche Aufgabe erblickten, so würden sie vielleicht ant¬
worten, daß man "doch nicht so schreiben könne, wie man spricht." Jeder
hat denn auch gewiß den redlichen Willen, seine Sache so gut und schön als
möglich zu machen. Denn das ist klar: absichtlich schreibt niemand falsch oder
häßlich, absichtlich giebt sich niemand Blößen, jeder macht eS so gut, wie er
kaun; aber so, wie ers gemacht hat, halt ers dann auch für gut und tadel¬
los. Mit diesem guten Willen ist es aber eben nicht gethan. Seine Mutter¬
sprache richtig und schön zu brauchen, dazu bedarf es einer gar nicht unbe¬
trächtliche" Menge von Kenntnissen. Aber nicht nur daß die allerwenigsten
hente diese Kenntnisse haben, die meisten wissen gar nicht, daß diese Kenntnisse
nötig sind, und wie viel ihnen davon fehlt. Wenn in einer Gesellschaft von
zehn Personen die Aufgabe gestellt würde, mit dem Bleistift ein Bild zu
zeichne", ein ganz einfaches Bild (etwa wie ein paar Jungen uns der Straße
sich balge", oder wie zwei um Tische sitzen und sich bei einer Flasche Wein
unterhalten, oder etwas noch einfacheres: ein Pferd, einen Hund, einen Baum,
eine Rose), so würden die meisten Anwesenden sicherlich sofort ihre Unfähigkeit
eingestehe": Zeichnen habe ich nicht gelernt, würden sie alle sagen. Wenn aber
die ganze Gesellschaft Scherzes halber doch ein und denselben Gegenstaud oder
Vorgang n"fs Papier brächte, ""d die Zeichnnngett dann von Hand zu Hand
gingen, so würde immer einer den andern auslachen, denn alle können be¬
urteilen: so sieht ein Hund, ein Pferd nicht ans, so sehen noch viel weniger
ein paar Meuscheu aus, die am Tische sitzen und sich unterhalten; sie Nüssen
alle recht gut, daß man, um so etwas zeichnen zu können, etwas ganz be¬
stimmtes gelernt haben muß, was sie alle mit einander nicht gelernt haben.
Wenn dagegen in derselben Gesellschaft die Aufgabe gestellt würde, über irgend
ein einfaches Thema (etwa über ein Theaterstück, das sie alle am Abend zuvor
gesehen haben, oder über die Frage: Wie schützt man sich vor Erkältung?)
ans einer Quartseite seine Gedanken niederzuschreiben, so würde gewiß nicht ein
einziger darunter sein, der das nicht sehr gut und schön leisten zu können
glaubte. Daß das eben so gut gelernt werden muß wie einen Hund zu
zeichnen, daß es an sich nicht schwerer und -- nicht leichter ist als jenes, und
daß sie es höchst wahrscheinlich alle mit einander eben so wenig gelernt
haben wie einen Hund zu zeichnen, dessen sind sich die guten Leute nicht be¬
wußt. Wem, dann die beschriebenen Quartblätter herumgingen und einer den
andern beurteilte, so würden sie alle gegenseitig ihre kleinen Aufsätze wahr-
scheinlich ganz wundervoll finden. Jeder würde vielleicht in den Aufsätzen der
andern einige Stellen bemerke", die er anders schreiben würde, es würde zu
einem lebhaften Meinungsaustausch, vielleicht zu heftigem Streit kommen --
denn das Interesse an der Sprache und ihren Erscheinungen ist in alleu Kreisen


Allerhand Sprachduininheiten

fühlen, daß sie sich dabei zusammennehmen müssen, daß sie vor einer gewissen
Aufgabe stehen, die eigentlich nicht ihre Sache sei. Wallte man sie fragen,
worin sie diese ungewöhnliche Aufgabe erblickten, so würden sie vielleicht ant¬
worten, daß man „doch nicht so schreiben könne, wie man spricht." Jeder
hat denn auch gewiß den redlichen Willen, seine Sache so gut und schön als
möglich zu machen. Denn das ist klar: absichtlich schreibt niemand falsch oder
häßlich, absichtlich giebt sich niemand Blößen, jeder macht eS so gut, wie er
kaun; aber so, wie ers gemacht hat, halt ers dann auch für gut und tadel¬
los. Mit diesem guten Willen ist es aber eben nicht gethan. Seine Mutter¬
sprache richtig und schön zu brauchen, dazu bedarf es einer gar nicht unbe¬
trächtliche« Menge von Kenntnissen. Aber nicht nur daß die allerwenigsten
hente diese Kenntnisse haben, die meisten wissen gar nicht, daß diese Kenntnisse
nötig sind, und wie viel ihnen davon fehlt. Wenn in einer Gesellschaft von
zehn Personen die Aufgabe gestellt würde, mit dem Bleistift ein Bild zu
zeichne», ein ganz einfaches Bild (etwa wie ein paar Jungen uns der Straße
sich balge», oder wie zwei um Tische sitzen und sich bei einer Flasche Wein
unterhalten, oder etwas noch einfacheres: ein Pferd, einen Hund, einen Baum,
eine Rose), so würden die meisten Anwesenden sicherlich sofort ihre Unfähigkeit
eingestehe»: Zeichnen habe ich nicht gelernt, würden sie alle sagen. Wenn aber
die ganze Gesellschaft Scherzes halber doch ein und denselben Gegenstaud oder
Vorgang n»fs Papier brächte, »»d die Zeichnnngett dann von Hand zu Hand
gingen, so würde immer einer den andern auslachen, denn alle können be¬
urteilen: so sieht ein Hund, ein Pferd nicht ans, so sehen noch viel weniger
ein paar Meuscheu aus, die am Tische sitzen und sich unterhalten; sie Nüssen
alle recht gut, daß man, um so etwas zeichnen zu können, etwas ganz be¬
stimmtes gelernt haben muß, was sie alle mit einander nicht gelernt haben.
Wenn dagegen in derselben Gesellschaft die Aufgabe gestellt würde, über irgend
ein einfaches Thema (etwa über ein Theaterstück, das sie alle am Abend zuvor
gesehen haben, oder über die Frage: Wie schützt man sich vor Erkältung?)
ans einer Quartseite seine Gedanken niederzuschreiben, so würde gewiß nicht ein
einziger darunter sein, der das nicht sehr gut und schön leisten zu können
glaubte. Daß das eben so gut gelernt werden muß wie einen Hund zu
zeichnen, daß es an sich nicht schwerer und — nicht leichter ist als jenes, und
daß sie es höchst wahrscheinlich alle mit einander eben so wenig gelernt
haben wie einen Hund zu zeichnen, dessen sind sich die guten Leute nicht be¬
wußt. Wem, dann die beschriebenen Quartblätter herumgingen und einer den
andern beurteilte, so würden sie alle gegenseitig ihre kleinen Aufsätze wahr-
scheinlich ganz wundervoll finden. Jeder würde vielleicht in den Aufsätzen der
andern einige Stellen bemerke», die er anders schreiben würde, es würde zu
einem lebhaften Meinungsaustausch, vielleicht zu heftigem Streit kommen —
denn das Interesse an der Sprache und ihren Erscheinungen ist in alleu Kreisen


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[0429] Allerhand Sprachduininheiten fühlen, daß sie sich dabei zusammennehmen müssen, daß sie vor einer gewissen Aufgabe stehen, die eigentlich nicht ihre Sache sei. Wallte man sie fragen, worin sie diese ungewöhnliche Aufgabe erblickten, so würden sie vielleicht ant¬ worten, daß man „doch nicht so schreiben könne, wie man spricht." Jeder hat denn auch gewiß den redlichen Willen, seine Sache so gut und schön als möglich zu machen. Denn das ist klar: absichtlich schreibt niemand falsch oder häßlich, absichtlich giebt sich niemand Blößen, jeder macht eS so gut, wie er kaun; aber so, wie ers gemacht hat, halt ers dann auch für gut und tadel¬ los. Mit diesem guten Willen ist es aber eben nicht gethan. Seine Mutter¬ sprache richtig und schön zu brauchen, dazu bedarf es einer gar nicht unbe¬ trächtliche« Menge von Kenntnissen. Aber nicht nur daß die allerwenigsten hente diese Kenntnisse haben, die meisten wissen gar nicht, daß diese Kenntnisse nötig sind, und wie viel ihnen davon fehlt. Wenn in einer Gesellschaft von zehn Personen die Aufgabe gestellt würde, mit dem Bleistift ein Bild zu zeichne», ein ganz einfaches Bild (etwa wie ein paar Jungen uns der Straße sich balge», oder wie zwei um Tische sitzen und sich bei einer Flasche Wein unterhalten, oder etwas noch einfacheres: ein Pferd, einen Hund, einen Baum, eine Rose), so würden die meisten Anwesenden sicherlich sofort ihre Unfähigkeit eingestehe»: Zeichnen habe ich nicht gelernt, würden sie alle sagen. Wenn aber die ganze Gesellschaft Scherzes halber doch ein und denselben Gegenstaud oder Vorgang n»fs Papier brächte, »»d die Zeichnnngett dann von Hand zu Hand gingen, so würde immer einer den andern auslachen, denn alle können be¬ urteilen: so sieht ein Hund, ein Pferd nicht ans, so sehen noch viel weniger ein paar Meuscheu aus, die am Tische sitzen und sich unterhalten; sie Nüssen alle recht gut, daß man, um so etwas zeichnen zu können, etwas ganz be¬ stimmtes gelernt haben muß, was sie alle mit einander nicht gelernt haben. Wenn dagegen in derselben Gesellschaft die Aufgabe gestellt würde, über irgend ein einfaches Thema (etwa über ein Theaterstück, das sie alle am Abend zuvor gesehen haben, oder über die Frage: Wie schützt man sich vor Erkältung?) ans einer Quartseite seine Gedanken niederzuschreiben, so würde gewiß nicht ein einziger darunter sein, der das nicht sehr gut und schön leisten zu können glaubte. Daß das eben so gut gelernt werden muß wie einen Hund zu zeichnen, daß es an sich nicht schwerer und — nicht leichter ist als jenes, und daß sie es höchst wahrscheinlich alle mit einander eben so wenig gelernt haben wie einen Hund zu zeichnen, dessen sind sich die guten Leute nicht be¬ wußt. Wem, dann die beschriebenen Quartblätter herumgingen und einer den andern beurteilte, so würden sie alle gegenseitig ihre kleinen Aufsätze wahr- scheinlich ganz wundervoll finden. Jeder würde vielleicht in den Aufsätzen der andern einige Stellen bemerke», die er anders schreiben würde, es würde zu einem lebhaften Meinungsaustausch, vielleicht zu heftigem Streit kommen — denn das Interesse an der Sprache und ihren Erscheinungen ist in alleu Kreisen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/429>, abgerufen am 02.07.2024.