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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Sprachdmnmheiten

Es, ist traurig, zu sehe", wie in unserm heutigen Schriftdeutsch die Un¬
sicherheit, die Fehlerhaftigkeit und die Geschmacklosigkeit im Zunehmen begriffen
sind. Es vergeht kein Monat, ja fast keine Woche, wo nicht neue Verstöße
auftauchten, die man früher nie gelesen zu haben sich erinnert. Kaum aber
sind sie da, so greifen sie riesenschnell um sich, niemand fragt nach ihrer Be¬
rechtigung, niemand bekämpft sie, in kurzem haben sie sich festgesetzt, und das
Richtige und Gute ist wie verschüttet lind begraben. Auch solche, die den Fehler,
wenn er sich zum erstenmale hervorwagt, peinlich empfinden, denen es fast weh¬
thut, wenn sie ihn zum erstenmale lesen, werden, wenn sie ihn öfter hören und
sehen, in ihrem Sprachgefühl erschüttert, werden unsicher und allmählich stumpf
dagegen. Unbegreiflich ist es, daß man diese Beobachtung selbst an gescheiten,
ja geistvollen Leuten machen muß, noch unbegreiflicher, daß man sie machen
muß an hochbejahrten Leuten, von denen man glauben sollte, daß ihr Sprach¬
gebrauch einen fest abgeschlossenen Kreis darstelle, in den so leicht keine schlimme
Neuerung Eingang finden könne. Als das dumme Wort selbstredend auf¬
kam (für selbstverständlich), brauchte es einmal in der Unterhaltung mit mir
ein Mann nahe den Siebzigern. Ich sprach ihm bescheiden meine Verwunderung
darüber aus. Was erwiderte er? Er wisse gar nicht, daß er das Wort ge¬
braucht habe! Wenn einem vor dreißig Jahren ein Ausdruck hätte wollen in die
Feder laufen, wie die stattgefundene Versammlung, die Feder hätte sich
dagegen gesträubt, auch beim eiligsten Schreiben, man wäre rot geworden,
hätte sich einen Augenblick besonnen und dann geschrieben, wie es einzig richtig
ist: die einberufene Versammlung, die veranstaltete Versammlung, die
abgehaltene Versammlung, kurz ein wirkliches Passiv, wie es das xartieixinm
vonjnnewm erfordert. Heute ist alle Scham dahin. Die Zeitungen wimmeln
von stattgefundenen Bersaimnlungen, Beratungen, Verhandlungen, Abstim¬
mungen, und Professoren und "erste" Schriftsteller Schreibens schamlos nach.
Noch keine fünf Jahre ist es her, daß ich in einer Konzertanzeige einer der vor¬
nehmsten deutschen Konzertgesellschafteu zum erstenmale den gemeinen Schnitzer
las: Am Donnerstag, den 21. Oktober, während man bis dahin richtig gesagt
hatte: Donnerstag, den 21. Oktober. Heute schreiben bereits alle Zeitungen
so. Man sollte denken, für jeden, der nicht in völligen Sprachstumpfsinn ver¬
sunken ist, müßte eine solche Zusammenschweißuug von Accusativ und Dativ
wie ein Schlag ins Gesicht sein. Bewahre, mau hält das jetzt offenbar für
eine besondre Feinheit, das Richtige ist vollständig vergessen und verloren.

Ich gehe eine Wette mit ein. Man nehme aus dem Schaufenster einer
Buchhandlung ein beliebiges neu erschienenes, in deutscher Prosa geschriebenes
Buch, gleichviel, welches Inhalts, gleichviel, von wem verfaßt, von einem Nni-
versttätsprvfessor, einem Schulmann, einen: unsrer "führenden" Schriftsteller,
unen Juristen, einem Baumeister, einem Musiker, einem, Techniker, einem Fa¬
brikanten, einem Blaustrumpf; mau schlage mirs auf, wo man will, und


Allerhand Sprachdmnmheiten

Es, ist traurig, zu sehe», wie in unserm heutigen Schriftdeutsch die Un¬
sicherheit, die Fehlerhaftigkeit und die Geschmacklosigkeit im Zunehmen begriffen
sind. Es vergeht kein Monat, ja fast keine Woche, wo nicht neue Verstöße
auftauchten, die man früher nie gelesen zu haben sich erinnert. Kaum aber
sind sie da, so greifen sie riesenschnell um sich, niemand fragt nach ihrer Be¬
rechtigung, niemand bekämpft sie, in kurzem haben sie sich festgesetzt, und das
Richtige und Gute ist wie verschüttet lind begraben. Auch solche, die den Fehler,
wenn er sich zum erstenmale hervorwagt, peinlich empfinden, denen es fast weh¬
thut, wenn sie ihn zum erstenmale lesen, werden, wenn sie ihn öfter hören und
sehen, in ihrem Sprachgefühl erschüttert, werden unsicher und allmählich stumpf
dagegen. Unbegreiflich ist es, daß man diese Beobachtung selbst an gescheiten,
ja geistvollen Leuten machen muß, noch unbegreiflicher, daß man sie machen
muß an hochbejahrten Leuten, von denen man glauben sollte, daß ihr Sprach¬
gebrauch einen fest abgeschlossenen Kreis darstelle, in den so leicht keine schlimme
Neuerung Eingang finden könne. Als das dumme Wort selbstredend auf¬
kam (für selbstverständlich), brauchte es einmal in der Unterhaltung mit mir
ein Mann nahe den Siebzigern. Ich sprach ihm bescheiden meine Verwunderung
darüber aus. Was erwiderte er? Er wisse gar nicht, daß er das Wort ge¬
braucht habe! Wenn einem vor dreißig Jahren ein Ausdruck hätte wollen in die
Feder laufen, wie die stattgefundene Versammlung, die Feder hätte sich
dagegen gesträubt, auch beim eiligsten Schreiben, man wäre rot geworden,
hätte sich einen Augenblick besonnen und dann geschrieben, wie es einzig richtig
ist: die einberufene Versammlung, die veranstaltete Versammlung, die
abgehaltene Versammlung, kurz ein wirkliches Passiv, wie es das xartieixinm
vonjnnewm erfordert. Heute ist alle Scham dahin. Die Zeitungen wimmeln
von stattgefundenen Bersaimnlungen, Beratungen, Verhandlungen, Abstim¬
mungen, und Professoren und „erste" Schriftsteller Schreibens schamlos nach.
Noch keine fünf Jahre ist es her, daß ich in einer Konzertanzeige einer der vor¬
nehmsten deutschen Konzertgesellschafteu zum erstenmale den gemeinen Schnitzer
las: Am Donnerstag, den 21. Oktober, während man bis dahin richtig gesagt
hatte: Donnerstag, den 21. Oktober. Heute schreiben bereits alle Zeitungen
so. Man sollte denken, für jeden, der nicht in völligen Sprachstumpfsinn ver¬
sunken ist, müßte eine solche Zusammenschweißuug von Accusativ und Dativ
wie ein Schlag ins Gesicht sein. Bewahre, mau hält das jetzt offenbar für
eine besondre Feinheit, das Richtige ist vollständig vergessen und verloren.

Ich gehe eine Wette mit ein. Man nehme aus dem Schaufenster einer
Buchhandlung ein beliebiges neu erschienenes, in deutscher Prosa geschriebenes
Buch, gleichviel, welches Inhalts, gleichviel, von wem verfaßt, von einem Nni-
versttätsprvfessor, einem Schulmann, einen: unsrer „führenden" Schriftsteller,
unen Juristen, einem Baumeister, einem Musiker, einem, Techniker, einem Fa¬
brikanten, einem Blaustrumpf; mau schlage mirs auf, wo man will, und


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[0427] Allerhand Sprachdmnmheiten Es, ist traurig, zu sehe», wie in unserm heutigen Schriftdeutsch die Un¬ sicherheit, die Fehlerhaftigkeit und die Geschmacklosigkeit im Zunehmen begriffen sind. Es vergeht kein Monat, ja fast keine Woche, wo nicht neue Verstöße auftauchten, die man früher nie gelesen zu haben sich erinnert. Kaum aber sind sie da, so greifen sie riesenschnell um sich, niemand fragt nach ihrer Be¬ rechtigung, niemand bekämpft sie, in kurzem haben sie sich festgesetzt, und das Richtige und Gute ist wie verschüttet lind begraben. Auch solche, die den Fehler, wenn er sich zum erstenmale hervorwagt, peinlich empfinden, denen es fast weh¬ thut, wenn sie ihn zum erstenmale lesen, werden, wenn sie ihn öfter hören und sehen, in ihrem Sprachgefühl erschüttert, werden unsicher und allmählich stumpf dagegen. Unbegreiflich ist es, daß man diese Beobachtung selbst an gescheiten, ja geistvollen Leuten machen muß, noch unbegreiflicher, daß man sie machen muß an hochbejahrten Leuten, von denen man glauben sollte, daß ihr Sprach¬ gebrauch einen fest abgeschlossenen Kreis darstelle, in den so leicht keine schlimme Neuerung Eingang finden könne. Als das dumme Wort selbstredend auf¬ kam (für selbstverständlich), brauchte es einmal in der Unterhaltung mit mir ein Mann nahe den Siebzigern. Ich sprach ihm bescheiden meine Verwunderung darüber aus. Was erwiderte er? Er wisse gar nicht, daß er das Wort ge¬ braucht habe! Wenn einem vor dreißig Jahren ein Ausdruck hätte wollen in die Feder laufen, wie die stattgefundene Versammlung, die Feder hätte sich dagegen gesträubt, auch beim eiligsten Schreiben, man wäre rot geworden, hätte sich einen Augenblick besonnen und dann geschrieben, wie es einzig richtig ist: die einberufene Versammlung, die veranstaltete Versammlung, die abgehaltene Versammlung, kurz ein wirkliches Passiv, wie es das xartieixinm vonjnnewm erfordert. Heute ist alle Scham dahin. Die Zeitungen wimmeln von stattgefundenen Bersaimnlungen, Beratungen, Verhandlungen, Abstim¬ mungen, und Professoren und „erste" Schriftsteller Schreibens schamlos nach. Noch keine fünf Jahre ist es her, daß ich in einer Konzertanzeige einer der vor¬ nehmsten deutschen Konzertgesellschafteu zum erstenmale den gemeinen Schnitzer las: Am Donnerstag, den 21. Oktober, während man bis dahin richtig gesagt hatte: Donnerstag, den 21. Oktober. Heute schreiben bereits alle Zeitungen so. Man sollte denken, für jeden, der nicht in völligen Sprachstumpfsinn ver¬ sunken ist, müßte eine solche Zusammenschweißuug von Accusativ und Dativ wie ein Schlag ins Gesicht sein. Bewahre, mau hält das jetzt offenbar für eine besondre Feinheit, das Richtige ist vollständig vergessen und verloren. Ich gehe eine Wette mit ein. Man nehme aus dem Schaufenster einer Buchhandlung ein beliebiges neu erschienenes, in deutscher Prosa geschriebenes Buch, gleichviel, welches Inhalts, gleichviel, von wem verfaßt, von einem Nni- versttätsprvfessor, einem Schulmann, einen: unsrer „führenden" Schriftsteller, unen Juristen, einem Baumeister, einem Musiker, einem, Techniker, einem Fa¬ brikanten, einem Blaustrumpf; mau schlage mirs auf, wo man will, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/427>, abgerufen am 02.07.2024.