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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungsstreit in Preußen

Versammlung bezeichnet man daher auch wohl als die "Nevisionskammern."
Diese Revision war erst bis zum !N. Januar ZttliO beendet, und an diesem
Tage wurde die vom Könige vollzogene Verfassungsurkunde in ordnungsmäßiger
Weise als Staatsgrundgesetz des Königreichs Preußen veröffentlicht. Am
6. Februar desselbigen Jahres leistete der König im Rittersaale des Residenz-
schlosses zu Berlin in Gegenwart beider Kammern den Eid auf die Nerfassnng,
deren Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit für jeden Preußischen Staatsbürger
somit über jeden Zweifel erhaben ist.

Es war notwendig, diese kurze Übersicht darüber, wie eigentlich die
preußische Verfassung zu stände gekommen ist, zu geben; denn ohne darüber
einigermaßen unterrichtet zu sein, kann sich niemand über die einschlägigen
Fragen ein klares Urteil bilden. Jene Thatsachen aber, die den Eintritt
Preußens in die Reihe der institutionellen Staaten herbeigeführt haben, sind
in weiten Kreisen verhältnismäßig wenig bekannt, anch in Kreisen, die sonst
Wohl Anspruch auf politische Bildung machen dürfen. In Schulen wird so
etwas nicht gelehrt, und die Anzahl derer, die damals schon als gereiftere
Männer jene Vorgänge miterlebt haben, ist allmählich sehr gering geworden.
Bei den wenigen aber, die die Sturm- und Drangperiode von damals mit¬
erlebt haben, ist die Erinnerung daran vielfach geschwunden, oder doch wenigstens
stark verblaßt und unklar geworden. Dagegen würde eS den Rahmen dieser
Arbeit überschreiten, auf den Inhalt der Verfassung näher einzugehen; ihre
wesentlichen Bestimmungen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, und uur
diejenigen können einer genauern Besprechung unterzogen werden, die bei dem
Verfassungsstreite, der seiner Zeit die Gemüter so ungeheuer erhitzt hat, eine
hervorragende Rolle spielten.

Von den hochgespannter, geradezu überschwänglichen Hoffnungen, die der
Liberalismus an die Einführung einer Verfassung geknüpft hatte, verwirklichte
sich zunächst nicht eine einzige. Weder in Bezug auf die innern, noch auf die
äußern Verhältnisse Preußens trat eine Änderung ein, die man als eine Besse¬
rung, als einen wirklichen Fortschritt hätte bezeichnen können. Die folgenden
Jahre bis zum Beginne der sogenannten neuen Ära bezeichnet man Wohl als
die Reaktionszeit in Preußen. Mit dem Worte Reaktion, einem der beliebtesten
Schlagworte de Liberalen, mögen sie sich nun bellte Demokraten, Fortschrittler
oder Freisinnige nennen, ist auch seit geraumer Zeit viel Unfug getrieben
worden, und es geschieht das noch heute. Jedenfalls kann man wohl dreist
behaupten, daß die meisten Bierbankpolitiker, die stets mit dem Worte Reaktion
um sich werfen, auf die Frage, was sie sich denn eigentlich darunter denken,
nnr eine höchst mangelhafte Antwort geben würden. Die damalige Zeit jedoch
verdient einigermaßen diese Bezeichnung, wenn auch nicht in dem Sinne, als
ob damals in den maßgebenden, d. h. den regierenden Kreisen, Leute vorhanden
gewesen wären, die ernsthaft daran gedacht hätten, die Verfassung wieder auf-


Der Verfassungsstreit in Preußen

Versammlung bezeichnet man daher auch wohl als die „Nevisionskammern."
Diese Revision war erst bis zum !N. Januar ZttliO beendet, und an diesem
Tage wurde die vom Könige vollzogene Verfassungsurkunde in ordnungsmäßiger
Weise als Staatsgrundgesetz des Königreichs Preußen veröffentlicht. Am
6. Februar desselbigen Jahres leistete der König im Rittersaale des Residenz-
schlosses zu Berlin in Gegenwart beider Kammern den Eid auf die Nerfassnng,
deren Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit für jeden Preußischen Staatsbürger
somit über jeden Zweifel erhaben ist.

Es war notwendig, diese kurze Übersicht darüber, wie eigentlich die
preußische Verfassung zu stände gekommen ist, zu geben; denn ohne darüber
einigermaßen unterrichtet zu sein, kann sich niemand über die einschlägigen
Fragen ein klares Urteil bilden. Jene Thatsachen aber, die den Eintritt
Preußens in die Reihe der institutionellen Staaten herbeigeführt haben, sind
in weiten Kreisen verhältnismäßig wenig bekannt, anch in Kreisen, die sonst
Wohl Anspruch auf politische Bildung machen dürfen. In Schulen wird so
etwas nicht gelehrt, und die Anzahl derer, die damals schon als gereiftere
Männer jene Vorgänge miterlebt haben, ist allmählich sehr gering geworden.
Bei den wenigen aber, die die Sturm- und Drangperiode von damals mit¬
erlebt haben, ist die Erinnerung daran vielfach geschwunden, oder doch wenigstens
stark verblaßt und unklar geworden. Dagegen würde eS den Rahmen dieser
Arbeit überschreiten, auf den Inhalt der Verfassung näher einzugehen; ihre
wesentlichen Bestimmungen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, und uur
diejenigen können einer genauern Besprechung unterzogen werden, die bei dem
Verfassungsstreite, der seiner Zeit die Gemüter so ungeheuer erhitzt hat, eine
hervorragende Rolle spielten.

Von den hochgespannter, geradezu überschwänglichen Hoffnungen, die der
Liberalismus an die Einführung einer Verfassung geknüpft hatte, verwirklichte
sich zunächst nicht eine einzige. Weder in Bezug auf die innern, noch auf die
äußern Verhältnisse Preußens trat eine Änderung ein, die man als eine Besse¬
rung, als einen wirklichen Fortschritt hätte bezeichnen können. Die folgenden
Jahre bis zum Beginne der sogenannten neuen Ära bezeichnet man Wohl als
die Reaktionszeit in Preußen. Mit dem Worte Reaktion, einem der beliebtesten
Schlagworte de Liberalen, mögen sie sich nun bellte Demokraten, Fortschrittler
oder Freisinnige nennen, ist auch seit geraumer Zeit viel Unfug getrieben
worden, und es geschieht das noch heute. Jedenfalls kann man wohl dreist
behaupten, daß die meisten Bierbankpolitiker, die stets mit dem Worte Reaktion
um sich werfen, auf die Frage, was sie sich denn eigentlich darunter denken,
nnr eine höchst mangelhafte Antwort geben würden. Die damalige Zeit jedoch
verdient einigermaßen diese Bezeichnung, wenn auch nicht in dem Sinne, als
ob damals in den maßgebenden, d. h. den regierenden Kreisen, Leute vorhanden
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[0418] Der Verfassungsstreit in Preußen Versammlung bezeichnet man daher auch wohl als die „Nevisionskammern." Diese Revision war erst bis zum !N. Januar ZttliO beendet, und an diesem Tage wurde die vom Könige vollzogene Verfassungsurkunde in ordnungsmäßiger Weise als Staatsgrundgesetz des Königreichs Preußen veröffentlicht. Am 6. Februar desselbigen Jahres leistete der König im Rittersaale des Residenz- schlosses zu Berlin in Gegenwart beider Kammern den Eid auf die Nerfassnng, deren Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit für jeden Preußischen Staatsbürger somit über jeden Zweifel erhaben ist. Es war notwendig, diese kurze Übersicht darüber, wie eigentlich die preußische Verfassung zu stände gekommen ist, zu geben; denn ohne darüber einigermaßen unterrichtet zu sein, kann sich niemand über die einschlägigen Fragen ein klares Urteil bilden. Jene Thatsachen aber, die den Eintritt Preußens in die Reihe der institutionellen Staaten herbeigeführt haben, sind in weiten Kreisen verhältnismäßig wenig bekannt, anch in Kreisen, die sonst Wohl Anspruch auf politische Bildung machen dürfen. In Schulen wird so etwas nicht gelehrt, und die Anzahl derer, die damals schon als gereiftere Männer jene Vorgänge miterlebt haben, ist allmählich sehr gering geworden. Bei den wenigen aber, die die Sturm- und Drangperiode von damals mit¬ erlebt haben, ist die Erinnerung daran vielfach geschwunden, oder doch wenigstens stark verblaßt und unklar geworden. Dagegen würde eS den Rahmen dieser Arbeit überschreiten, auf den Inhalt der Verfassung näher einzugehen; ihre wesentlichen Bestimmungen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, und uur diejenigen können einer genauern Besprechung unterzogen werden, die bei dem Verfassungsstreite, der seiner Zeit die Gemüter so ungeheuer erhitzt hat, eine hervorragende Rolle spielten. Von den hochgespannter, geradezu überschwänglichen Hoffnungen, die der Liberalismus an die Einführung einer Verfassung geknüpft hatte, verwirklichte sich zunächst nicht eine einzige. Weder in Bezug auf die innern, noch auf die äußern Verhältnisse Preußens trat eine Änderung ein, die man als eine Besse¬ rung, als einen wirklichen Fortschritt hätte bezeichnen können. Die folgenden Jahre bis zum Beginne der sogenannten neuen Ära bezeichnet man Wohl als die Reaktionszeit in Preußen. Mit dem Worte Reaktion, einem der beliebtesten Schlagworte de Liberalen, mögen sie sich nun bellte Demokraten, Fortschrittler oder Freisinnige nennen, ist auch seit geraumer Zeit viel Unfug getrieben worden, und es geschieht das noch heute. Jedenfalls kann man wohl dreist behaupten, daß die meisten Bierbankpolitiker, die stets mit dem Worte Reaktion um sich werfen, auf die Frage, was sie sich denn eigentlich darunter denken, nnr eine höchst mangelhafte Antwort geben würden. Die damalige Zeit jedoch verdient einigermaßen diese Bezeichnung, wenn auch nicht in dem Sinne, als ob damals in den maßgebenden, d. h. den regierenden Kreisen, Leute vorhanden gewesen wären, die ernsthaft daran gedacht hätten, die Verfassung wieder auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/418>, abgerufen am 02.07.2024.