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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Der verfassnngsstreit in Preußen

folgte in dieser Beziehung ihrem großen Muster in der Paulskirche zu Frankfurt.
In der Zeit vom 12. bis zum 23. Oktober hatte das Plenum mir über den
Eingang und die vier ersten Artikel des Entwurfs beraten. Obgleich die Er¬
örterungen, die mich und uach immer mehr durch lärmende und aufrührerische
Volksmassen beeinflnht wurden, stürmisch genug waren, kam man nicht weiter.
Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel beschloß, diesem unerträglichen Zu¬
stand ein Ende zu machen. Am 9. November wurde durch königliche Bot¬
schaft die Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt und bis zum
22. November vertagt. Die große Mehrheit bestritt der Krone das Recht
hierzu und beschloß, der Votschaft keine Folge zu leisten. Doch nun änderte
sich plötzlich das Bild. Am 10. November rückte der alte Wrangel mit
Truppen in Berlin ein, ohne Widerstand zu finden; dem Soldatenspielen der
Vürgerwehr wurde durch Entwaffnung ein Ende gemacht, der Belagerungs¬
zustand über die Hauptstadt verhängt, und bald darauf das Forttagen der Ver¬
sammlung mit Gewalt verhindert. Diese hatte jedoch noch am 15. November
beschlossen: "Das Ministerium Brandenburg ist nicht berechtigt, über die
Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben."

Am 5. Dezember 1848 erfolgte durch königliche Verordnung die Auf¬
lösung der Nationalversammlung, und nnter demselben Datum erschien in der
Gesetzsammlung die Verfassungsurkunde als Gesetz. Mau nennt diese Ver¬
fassung gewöhnlich die "oktrvhirte," weil sie nicht mit der Volksvertretung
vereinbart war. Der in der Neuzeit oft gebrauchte Ausdruck "oktrvhireu"
wird aber sehr vielfach falsch verstanden und falsch angewandt. In diesen:
Falle ist die Bezeichnung sicherlich so unpassend wie möglich. Das Wort
kommt her von dein allerdings höchst unklassischen, aber im mittelalter-
lichen Latein gebräuchlichen Verbum muztorin-o und bedeutet als Anktor
oder kraft der Auktorität etwas gewähren, bewilligen oder verleihen. Eine
Vereinbarung über die Verfassung mit der Nationalversammlung war uicht zu
erzielen gewesen, weil diese den Standpunkt einnahm, "als ob das ganze
Stnatsrecht ans der Barrikade beruhe," wie sich Bismarck in einer Rede vom
22. März 184!" sehr treffend ausdrückte. Anders als auf Grund der Macht¬
vollkommenheit des Königs, der unbestritten alleiniger Inhaber der ganzen
Staatsgewalt war, war die Einführung einer Verfassung gar nicht möglich.
Daher war schließlich jedes bis dahin in Preußen erlassene Staatsgesetz
"oktrohirt," und man könnte z. B. mit demselben Rechte behaupten, daß das
ganze preußische Landrecht, das bis ans den heutigen Tag in dem größern
Teile des Staates gilt, auch "oktrohirt" worden sei.

Diese Verfassung vom 5. Dezember 1848 ist aber nicht die, die jetzt in
Preußen zu Rechte besteht. Sie sollte, wie in der Einleitung ausdrücklich
betont ist, nur eine vorläufige sein, und "ihre Revision im ordentlichen Wege
der Gesetzgebung" war von vornherein vorbehalten. Die damals berufene


Grenzboten IV 18M
Der verfassnngsstreit in Preußen

folgte in dieser Beziehung ihrem großen Muster in der Paulskirche zu Frankfurt.
In der Zeit vom 12. bis zum 23. Oktober hatte das Plenum mir über den
Eingang und die vier ersten Artikel des Entwurfs beraten. Obgleich die Er¬
örterungen, die mich und uach immer mehr durch lärmende und aufrührerische
Volksmassen beeinflnht wurden, stürmisch genug waren, kam man nicht weiter.
Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel beschloß, diesem unerträglichen Zu¬
stand ein Ende zu machen. Am 9. November wurde durch königliche Bot¬
schaft die Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt und bis zum
22. November vertagt. Die große Mehrheit bestritt der Krone das Recht
hierzu und beschloß, der Votschaft keine Folge zu leisten. Doch nun änderte
sich plötzlich das Bild. Am 10. November rückte der alte Wrangel mit
Truppen in Berlin ein, ohne Widerstand zu finden; dem Soldatenspielen der
Vürgerwehr wurde durch Entwaffnung ein Ende gemacht, der Belagerungs¬
zustand über die Hauptstadt verhängt, und bald darauf das Forttagen der Ver¬
sammlung mit Gewalt verhindert. Diese hatte jedoch noch am 15. November
beschlossen: „Das Ministerium Brandenburg ist nicht berechtigt, über die
Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben."

Am 5. Dezember 1848 erfolgte durch königliche Verordnung die Auf¬
lösung der Nationalversammlung, und nnter demselben Datum erschien in der
Gesetzsammlung die Verfassungsurkunde als Gesetz. Mau nennt diese Ver¬
fassung gewöhnlich die „oktrvhirte," weil sie nicht mit der Volksvertretung
vereinbart war. Der in der Neuzeit oft gebrauchte Ausdruck „oktrvhireu"
wird aber sehr vielfach falsch verstanden und falsch angewandt. In diesen:
Falle ist die Bezeichnung sicherlich so unpassend wie möglich. Das Wort
kommt her von dein allerdings höchst unklassischen, aber im mittelalter-
lichen Latein gebräuchlichen Verbum muztorin-o und bedeutet als Anktor
oder kraft der Auktorität etwas gewähren, bewilligen oder verleihen. Eine
Vereinbarung über die Verfassung mit der Nationalversammlung war uicht zu
erzielen gewesen, weil diese den Standpunkt einnahm, „als ob das ganze
Stnatsrecht ans der Barrikade beruhe," wie sich Bismarck in einer Rede vom
22. März 184!» sehr treffend ausdrückte. Anders als auf Grund der Macht¬
vollkommenheit des Königs, der unbestritten alleiniger Inhaber der ganzen
Staatsgewalt war, war die Einführung einer Verfassung gar nicht möglich.
Daher war schließlich jedes bis dahin in Preußen erlassene Staatsgesetz
„oktrohirt," und man könnte z. B. mit demselben Rechte behaupten, daß das
ganze preußische Landrecht, das bis ans den heutigen Tag in dem größern
Teile des Staates gilt, auch „oktrohirt" worden sei.

Diese Verfassung vom 5. Dezember 1848 ist aber nicht die, die jetzt in
Preußen zu Rechte besteht. Sie sollte, wie in der Einleitung ausdrücklich
betont ist, nur eine vorläufige sein, und „ihre Revision im ordentlichen Wege
der Gesetzgebung" war von vornherein vorbehalten. Die damals berufene


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[0417] Der verfassnngsstreit in Preußen folgte in dieser Beziehung ihrem großen Muster in der Paulskirche zu Frankfurt. In der Zeit vom 12. bis zum 23. Oktober hatte das Plenum mir über den Eingang und die vier ersten Artikel des Entwurfs beraten. Obgleich die Er¬ örterungen, die mich und uach immer mehr durch lärmende und aufrührerische Volksmassen beeinflnht wurden, stürmisch genug waren, kam man nicht weiter. Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel beschloß, diesem unerträglichen Zu¬ stand ein Ende zu machen. Am 9. November wurde durch königliche Bot¬ schaft die Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt und bis zum 22. November vertagt. Die große Mehrheit bestritt der Krone das Recht hierzu und beschloß, der Votschaft keine Folge zu leisten. Doch nun änderte sich plötzlich das Bild. Am 10. November rückte der alte Wrangel mit Truppen in Berlin ein, ohne Widerstand zu finden; dem Soldatenspielen der Vürgerwehr wurde durch Entwaffnung ein Ende gemacht, der Belagerungs¬ zustand über die Hauptstadt verhängt, und bald darauf das Forttagen der Ver¬ sammlung mit Gewalt verhindert. Diese hatte jedoch noch am 15. November beschlossen: „Das Ministerium Brandenburg ist nicht berechtigt, über die Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben." Am 5. Dezember 1848 erfolgte durch königliche Verordnung die Auf¬ lösung der Nationalversammlung, und nnter demselben Datum erschien in der Gesetzsammlung die Verfassungsurkunde als Gesetz. Mau nennt diese Ver¬ fassung gewöhnlich die „oktrvhirte," weil sie nicht mit der Volksvertretung vereinbart war. Der in der Neuzeit oft gebrauchte Ausdruck „oktrvhireu" wird aber sehr vielfach falsch verstanden und falsch angewandt. In diesen: Falle ist die Bezeichnung sicherlich so unpassend wie möglich. Das Wort kommt her von dein allerdings höchst unklassischen, aber im mittelalter- lichen Latein gebräuchlichen Verbum muztorin-o und bedeutet als Anktor oder kraft der Auktorität etwas gewähren, bewilligen oder verleihen. Eine Vereinbarung über die Verfassung mit der Nationalversammlung war uicht zu erzielen gewesen, weil diese den Standpunkt einnahm, „als ob das ganze Stnatsrecht ans der Barrikade beruhe," wie sich Bismarck in einer Rede vom 22. März 184!» sehr treffend ausdrückte. Anders als auf Grund der Macht¬ vollkommenheit des Königs, der unbestritten alleiniger Inhaber der ganzen Staatsgewalt war, war die Einführung einer Verfassung gar nicht möglich. Daher war schließlich jedes bis dahin in Preußen erlassene Staatsgesetz „oktrohirt," und man könnte z. B. mit demselben Rechte behaupten, daß das ganze preußische Landrecht, das bis ans den heutigen Tag in dem größern Teile des Staates gilt, auch „oktrohirt" worden sei. Diese Verfassung vom 5. Dezember 1848 ist aber nicht die, die jetzt in Preußen zu Rechte besteht. Sie sollte, wie in der Einleitung ausdrücklich betont ist, nur eine vorläufige sein, und „ihre Revision im ordentlichen Wege der Gesetzgebung" war von vornherein vorbehalten. Die damals berufene Grenzboten IV 18M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/417>, abgerufen am 02.07.2024.