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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

unumgänglich notwendige Änderungen bei ihnen nuf keinem andern Wege als
auf dem des gewaltsamen Umsturzes vollziehen konnten. Er antwortet, daran
sei die ewige Bevormundung schuld gewesen. "Die ganze Staatsverwaltung
geht von der Boraussetzung aus, daß kein Mensch sein eignes Interesse kenne.
Selbst bei seineu gewöhnlichsten Belustigungen wird das Volk aufs sorgfältigste
bewacht. Damit die Leute einander nicht aus Unbesonnenheit irgend ein Leid
zufügen, werden sie mit jenen Vorsichtsmaßregeln gehütet, mit denen ein ängst¬
licher Vater seine kleine" Kinder zu umgeben pflegt. Auf ihren Jahrmärkten,
in ihren Theatern und Kvnzertsäleu werden stets Soldaten aufgestellt, die auf¬
passen müssen, daß kein Schaden angerichtet werde, kein Gedränge entstehe und
keiner der Anwesenden mit seinem Nachbar in Streit gerate. Selbst die Er¬
ziehung der .Kinder wird unter die Aufsicht des Staates gestellt, anstatt nach
der Einsicht der Eltern und Lehrer geleitet zu werden. Und mit solcher Folge¬
richtigkeit wird dieser Bevormundungsplan durchgeführt, daß die Franzosen im
Mannesalter sich so wenig selbst überlassen leben wie in der Kindheit. Des¬
halb ist dieses von Aberglauben freieste Volk unfähig, sich selbst zu regieren."
(Freiherr von Nordeuflycht schildert in seinem Buche "Die französische Revo¬
lution von 1789" ebenfalls diese allgemeine Bemutterung der Franzosen des
anoisn rögime durch die Bureaukratie, meint aber, weder die Bürger noch die
Bauern Hütten sich schlecht dabei gestanden; den englischen Urteilen über diese
Verhältnisse dürfe mau nicht trauen.)

Im Eingänge des zweiten Bandes faßt Buckle das Ergebnis des ersten
folgendermaßen zusammen. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf
dem Erfolge, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht, und auf dein Um¬
fange, bis zu dem die .Kenntnis dieser Gesetze verbreitet wird. Ehe die For¬
schung beginne>l kann, muß der Zweifel entstehen, der zuerst die Forschung
fördert und dann von ihr gefördert wird. Durch die Forschung erhält die
Erkenntnis, nicht die Sittlichkeit, stetigen Zuwachs. Der Hauptfeind des Bil¬
dungsfortschrittes ist der bevormundende Geist in Kirche und Staat.

Den Hauptinhalt des zweiten Bandes bildet ein Überblick der spanischen
und der schottischen Geschichte. In Spanien fallen die verheerenden Wirkungen
des bevormundenden Geistes umsomehr auf, als der Charakter des Volkes von
allen Kennern gerühmt wird. Den Schotten schadete ihre Bigotterie weniger,
weil die Unfähigkeit der Regierung das Volk zwang, seine bürgerlichen An¬
gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, und es vor dem "Nationallnster"
der Loyalität bewahrte.




Buckle und Darwin

unumgänglich notwendige Änderungen bei ihnen nuf keinem andern Wege als
auf dem des gewaltsamen Umsturzes vollziehen konnten. Er antwortet, daran
sei die ewige Bevormundung schuld gewesen. „Die ganze Staatsverwaltung
geht von der Boraussetzung aus, daß kein Mensch sein eignes Interesse kenne.
Selbst bei seineu gewöhnlichsten Belustigungen wird das Volk aufs sorgfältigste
bewacht. Damit die Leute einander nicht aus Unbesonnenheit irgend ein Leid
zufügen, werden sie mit jenen Vorsichtsmaßregeln gehütet, mit denen ein ängst¬
licher Vater seine kleine» Kinder zu umgeben pflegt. Auf ihren Jahrmärkten,
in ihren Theatern und Kvnzertsäleu werden stets Soldaten aufgestellt, die auf¬
passen müssen, daß kein Schaden angerichtet werde, kein Gedränge entstehe und
keiner der Anwesenden mit seinem Nachbar in Streit gerate. Selbst die Er¬
ziehung der .Kinder wird unter die Aufsicht des Staates gestellt, anstatt nach
der Einsicht der Eltern und Lehrer geleitet zu werden. Und mit solcher Folge¬
richtigkeit wird dieser Bevormundungsplan durchgeführt, daß die Franzosen im
Mannesalter sich so wenig selbst überlassen leben wie in der Kindheit. Des¬
halb ist dieses von Aberglauben freieste Volk unfähig, sich selbst zu regieren."
(Freiherr von Nordeuflycht schildert in seinem Buche „Die französische Revo¬
lution von 1789" ebenfalls diese allgemeine Bemutterung der Franzosen des
anoisn rögime durch die Bureaukratie, meint aber, weder die Bürger noch die
Bauern Hütten sich schlecht dabei gestanden; den englischen Urteilen über diese
Verhältnisse dürfe mau nicht trauen.)

Im Eingänge des zweiten Bandes faßt Buckle das Ergebnis des ersten
folgendermaßen zusammen. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf
dem Erfolge, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht, und auf dein Um¬
fange, bis zu dem die .Kenntnis dieser Gesetze verbreitet wird. Ehe die For¬
schung beginne>l kann, muß der Zweifel entstehen, der zuerst die Forschung
fördert und dann von ihr gefördert wird. Durch die Forschung erhält die
Erkenntnis, nicht die Sittlichkeit, stetigen Zuwachs. Der Hauptfeind des Bil¬
dungsfortschrittes ist der bevormundende Geist in Kirche und Staat.

Den Hauptinhalt des zweiten Bandes bildet ein Überblick der spanischen
und der schottischen Geschichte. In Spanien fallen die verheerenden Wirkungen
des bevormundenden Geistes umsomehr auf, als der Charakter des Volkes von
allen Kennern gerühmt wird. Den Schotten schadete ihre Bigotterie weniger,
weil die Unfähigkeit der Regierung das Volk zwang, seine bürgerlichen An¬
gelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, und es vor dem „Nationallnster"
der Loyalität bewahrte.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/386>, abgerufen am 02.07.2024.