Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Buckle und Darwin

Ähnlich verhält es sich mit der Litteratur, deren Nutzen weit weniger von
ihrem Inhalt abhängt -- überliefert sie doch das Abgeschmackteste so gewissenhaft
wie die wertvollsten Kenntnisse -- als von dem Geiste, in dem sie studirt
wird. Wäre im siebenten und achten Jahrhundert das Alphabet verloren ge¬
gangen, und hätten die Leute ihre mit Wundergeschichten angefüllten Heiligen¬
legenden nicht mehr lesen können, so würde später der Fortschritt in Enropn
schneller von statten gegangen sein. Und auch heute noch findet man Männer
genug, deren Gelehrsamkeit nur ihrer Unwissenheit dient, und die desto dümmer
werden, je mehr sie lesen (je gelehrter, desto verkehrter; xiü niveo, xiü oorrotto).
Keine von außen eingeführte Litteratur kann einem Volke etwas nützen, wenn
sie es nicht vorbereitet findet. Ebensowenig ist der Fortschritt den Regierungen
zu verdanken. Ihre Leistung beschränkt sich nach Buckles Ansicht im allgemeinen
darauf, daß sie durch verkehrte Maßregeln den Fortschritt aufhalten, und die
englische ist in dieser unheilvollen Thätigkeit sogar vom Parlament unterstützt
worden. Deu heutigen Regierungen und Parlamenten allerdings kann das
Lob gespendet werden, daß sie hie und da etwas Gutes und Vernünftiges
thun, indem sie nämlich die von ihren Vorgängern erlassenen Gesetze abschaffen.
Heilsame Gedanken Pflegen zuerst in den Köpfen großer Denker aufzusteigen.
Werden sie ausgesprochen, so werden ihre Urheber und Anhänger verfolgt.
Allmählich brechen sie sich Bahn, und erst nachdem sie die Macht der öffent¬
lichen Meinung für sich gewonnen haben, überwältigen sie den Widerstand des
Parlaments und zu allerletzt den der Regierung.

Wie uach diesem Programm die Dinge verlaufen sind, wird nnn an der
Geschichte Englands und Frankreichs gezeigt. Unter allen englischen Staats¬
männern wird dein hvchliberalen Burke (1730--1797) der Ruhm höchster
Weisheit zugesprochen, besonders wegen eines Grundsatzes, den er einmal fol¬
gendermaßen aussprach: "Es wäre schrecklich, wenn es irgend eine Gewalt im
Staate gäbe, die imstande wäre, dem einstimmigen Wunsche des Volkes oder
anch nur den Wünschen einer großen Mehrheit desselben Widerstand zu leisten.
Das Volk kann sich in der Wahl seines Zweckes täuschen. Aber ich kann mir
keine Wahl vorstellen, die so schädlich zu wirken vermöchte, wie eine Macht,
die stark genng wäre, sich dieser Wahl zu widersetzen." Auch habe Burke zuerst
die große Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt, daß in der Gesetzgebung
nicht die Wahrheit, sondern die Zwecknüißigkeit zu entscheiden habe. (Mit
"Wahrheit" ist hier wohl das an sich vernünftige gemeint.) Die Franzosen
wurden länger als die Engländer von der Priesterschaft in ihrem Fortschritt
aufgehalten, schlugen aber schließlich denselben Weg des wissenschaftlichen Fort¬
schrittes und der religiösen Duldung ein wie jene. Buckle fragt, wie es ge¬
kommen sei, daß sie trotzdem "Sklaven an Leib und Seele, auf einen Zustand
noch stolz waren, deu der geringste Engländer als unerträgliche Knechtschaft
von sich gestoßen hätte"; woraus sich als unvermeidliche Folge ergab, daß sich


Buckle und Darwin

Ähnlich verhält es sich mit der Litteratur, deren Nutzen weit weniger von
ihrem Inhalt abhängt — überliefert sie doch das Abgeschmackteste so gewissenhaft
wie die wertvollsten Kenntnisse — als von dem Geiste, in dem sie studirt
wird. Wäre im siebenten und achten Jahrhundert das Alphabet verloren ge¬
gangen, und hätten die Leute ihre mit Wundergeschichten angefüllten Heiligen¬
legenden nicht mehr lesen können, so würde später der Fortschritt in Enropn
schneller von statten gegangen sein. Und auch heute noch findet man Männer
genug, deren Gelehrsamkeit nur ihrer Unwissenheit dient, und die desto dümmer
werden, je mehr sie lesen (je gelehrter, desto verkehrter; xiü niveo, xiü oorrotto).
Keine von außen eingeführte Litteratur kann einem Volke etwas nützen, wenn
sie es nicht vorbereitet findet. Ebensowenig ist der Fortschritt den Regierungen
zu verdanken. Ihre Leistung beschränkt sich nach Buckles Ansicht im allgemeinen
darauf, daß sie durch verkehrte Maßregeln den Fortschritt aufhalten, und die
englische ist in dieser unheilvollen Thätigkeit sogar vom Parlament unterstützt
worden. Deu heutigen Regierungen und Parlamenten allerdings kann das
Lob gespendet werden, daß sie hie und da etwas Gutes und Vernünftiges
thun, indem sie nämlich die von ihren Vorgängern erlassenen Gesetze abschaffen.
Heilsame Gedanken Pflegen zuerst in den Köpfen großer Denker aufzusteigen.
Werden sie ausgesprochen, so werden ihre Urheber und Anhänger verfolgt.
Allmählich brechen sie sich Bahn, und erst nachdem sie die Macht der öffent¬
lichen Meinung für sich gewonnen haben, überwältigen sie den Widerstand des
Parlaments und zu allerletzt den der Regierung.

Wie uach diesem Programm die Dinge verlaufen sind, wird nnn an der
Geschichte Englands und Frankreichs gezeigt. Unter allen englischen Staats¬
männern wird dein hvchliberalen Burke (1730—1797) der Ruhm höchster
Weisheit zugesprochen, besonders wegen eines Grundsatzes, den er einmal fol¬
gendermaßen aussprach: „Es wäre schrecklich, wenn es irgend eine Gewalt im
Staate gäbe, die imstande wäre, dem einstimmigen Wunsche des Volkes oder
anch nur den Wünschen einer großen Mehrheit desselben Widerstand zu leisten.
Das Volk kann sich in der Wahl seines Zweckes täuschen. Aber ich kann mir
keine Wahl vorstellen, die so schädlich zu wirken vermöchte, wie eine Macht,
die stark genng wäre, sich dieser Wahl zu widersetzen." Auch habe Burke zuerst
die große Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt, daß in der Gesetzgebung
nicht die Wahrheit, sondern die Zwecknüißigkeit zu entscheiden habe. (Mit
„Wahrheit" ist hier wohl das an sich vernünftige gemeint.) Die Franzosen
wurden länger als die Engländer von der Priesterschaft in ihrem Fortschritt
aufgehalten, schlugen aber schließlich denselben Weg des wissenschaftlichen Fort¬
schrittes und der religiösen Duldung ein wie jene. Buckle fragt, wie es ge¬
kommen sei, daß sie trotzdem „Sklaven an Leib und Seele, auf einen Zustand
noch stolz waren, deu der geringste Engländer als unerträgliche Knechtschaft
von sich gestoßen hätte"; woraus sich als unvermeidliche Folge ergab, daß sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206385"/>
          <fw type="header" place="top"> Buckle und Darwin</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1309"> Ähnlich verhält es sich mit der Litteratur, deren Nutzen weit weniger von<lb/>
ihrem Inhalt abhängt &#x2014; überliefert sie doch das Abgeschmackteste so gewissenhaft<lb/>
wie die wertvollsten Kenntnisse &#x2014; als von dem Geiste, in dem sie studirt<lb/>
wird. Wäre im siebenten und achten Jahrhundert das Alphabet verloren ge¬<lb/>
gangen, und hätten die Leute ihre mit Wundergeschichten angefüllten Heiligen¬<lb/>
legenden nicht mehr lesen können, so würde später der Fortschritt in Enropn<lb/>
schneller von statten gegangen sein. Und auch heute noch findet man Männer<lb/>
genug, deren Gelehrsamkeit nur ihrer Unwissenheit dient, und die desto dümmer<lb/>
werden, je mehr sie lesen (je gelehrter, desto verkehrter; xiü niveo, xiü oorrotto).<lb/>
Keine von außen eingeführte Litteratur kann einem Volke etwas nützen, wenn<lb/>
sie es nicht vorbereitet findet. Ebensowenig ist der Fortschritt den Regierungen<lb/>
zu verdanken. Ihre Leistung beschränkt sich nach Buckles Ansicht im allgemeinen<lb/>
darauf, daß sie durch verkehrte Maßregeln den Fortschritt aufhalten, und die<lb/>
englische ist in dieser unheilvollen Thätigkeit sogar vom Parlament unterstützt<lb/>
worden. Deu heutigen Regierungen und Parlamenten allerdings kann das<lb/>
Lob gespendet werden, daß sie hie und da etwas Gutes und Vernünftiges<lb/>
thun, indem sie nämlich die von ihren Vorgängern erlassenen Gesetze abschaffen.<lb/>
Heilsame Gedanken Pflegen zuerst in den Köpfen großer Denker aufzusteigen.<lb/>
Werden sie ausgesprochen, so werden ihre Urheber und Anhänger verfolgt.<lb/>
Allmählich brechen sie sich Bahn, und erst nachdem sie die Macht der öffent¬<lb/>
lichen Meinung für sich gewonnen haben, überwältigen sie den Widerstand des<lb/>
Parlaments und zu allerletzt den der Regierung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1310" next="#ID_1311"> Wie uach diesem Programm die Dinge verlaufen sind, wird nnn an der<lb/>
Geschichte Englands und Frankreichs gezeigt. Unter allen englischen Staats¬<lb/>
männern wird dein hvchliberalen Burke (1730&#x2014;1797) der Ruhm höchster<lb/>
Weisheit zugesprochen, besonders wegen eines Grundsatzes, den er einmal fol¬<lb/>
gendermaßen aussprach: &#x201E;Es wäre schrecklich, wenn es irgend eine Gewalt im<lb/>
Staate gäbe, die imstande wäre, dem einstimmigen Wunsche des Volkes oder<lb/>
anch nur den Wünschen einer großen Mehrheit desselben Widerstand zu leisten.<lb/>
Das Volk kann sich in der Wahl seines Zweckes täuschen. Aber ich kann mir<lb/>
keine Wahl vorstellen, die so schädlich zu wirken vermöchte, wie eine Macht,<lb/>
die stark genng wäre, sich dieser Wahl zu widersetzen." Auch habe Burke zuerst<lb/>
die große Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt, daß in der Gesetzgebung<lb/>
nicht die Wahrheit, sondern die Zwecknüißigkeit zu entscheiden habe. (Mit<lb/>
&#x201E;Wahrheit" ist hier wohl das an sich vernünftige gemeint.) Die Franzosen<lb/>
wurden länger als die Engländer von der Priesterschaft in ihrem Fortschritt<lb/>
aufgehalten, schlugen aber schließlich denselben Weg des wissenschaftlichen Fort¬<lb/>
schrittes und der religiösen Duldung ein wie jene. Buckle fragt, wie es ge¬<lb/>
kommen sei, daß sie trotzdem &#x201E;Sklaven an Leib und Seele, auf einen Zustand<lb/>
noch stolz waren, deu der geringste Engländer als unerträgliche Knechtschaft<lb/>
von sich gestoßen hätte"; woraus sich als unvermeidliche Folge ergab, daß sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] Buckle und Darwin Ähnlich verhält es sich mit der Litteratur, deren Nutzen weit weniger von ihrem Inhalt abhängt — überliefert sie doch das Abgeschmackteste so gewissenhaft wie die wertvollsten Kenntnisse — als von dem Geiste, in dem sie studirt wird. Wäre im siebenten und achten Jahrhundert das Alphabet verloren ge¬ gangen, und hätten die Leute ihre mit Wundergeschichten angefüllten Heiligen¬ legenden nicht mehr lesen können, so würde später der Fortschritt in Enropn schneller von statten gegangen sein. Und auch heute noch findet man Männer genug, deren Gelehrsamkeit nur ihrer Unwissenheit dient, und die desto dümmer werden, je mehr sie lesen (je gelehrter, desto verkehrter; xiü niveo, xiü oorrotto). Keine von außen eingeführte Litteratur kann einem Volke etwas nützen, wenn sie es nicht vorbereitet findet. Ebensowenig ist der Fortschritt den Regierungen zu verdanken. Ihre Leistung beschränkt sich nach Buckles Ansicht im allgemeinen darauf, daß sie durch verkehrte Maßregeln den Fortschritt aufhalten, und die englische ist in dieser unheilvollen Thätigkeit sogar vom Parlament unterstützt worden. Deu heutigen Regierungen und Parlamenten allerdings kann das Lob gespendet werden, daß sie hie und da etwas Gutes und Vernünftiges thun, indem sie nämlich die von ihren Vorgängern erlassenen Gesetze abschaffen. Heilsame Gedanken Pflegen zuerst in den Köpfen großer Denker aufzusteigen. Werden sie ausgesprochen, so werden ihre Urheber und Anhänger verfolgt. Allmählich brechen sie sich Bahn, und erst nachdem sie die Macht der öffent¬ lichen Meinung für sich gewonnen haben, überwältigen sie den Widerstand des Parlaments und zu allerletzt den der Regierung. Wie uach diesem Programm die Dinge verlaufen sind, wird nnn an der Geschichte Englands und Frankreichs gezeigt. Unter allen englischen Staats¬ männern wird dein hvchliberalen Burke (1730—1797) der Ruhm höchster Weisheit zugesprochen, besonders wegen eines Grundsatzes, den er einmal fol¬ gendermaßen aussprach: „Es wäre schrecklich, wenn es irgend eine Gewalt im Staate gäbe, die imstande wäre, dem einstimmigen Wunsche des Volkes oder anch nur den Wünschen einer großen Mehrheit desselben Widerstand zu leisten. Das Volk kann sich in der Wahl seines Zweckes täuschen. Aber ich kann mir keine Wahl vorstellen, die so schädlich zu wirken vermöchte, wie eine Macht, die stark genng wäre, sich dieser Wahl zu widersetzen." Auch habe Burke zuerst die große Wahrheit in ihrer ganzen Tragweite erkannt, daß in der Gesetzgebung nicht die Wahrheit, sondern die Zwecknüißigkeit zu entscheiden habe. (Mit „Wahrheit" ist hier wohl das an sich vernünftige gemeint.) Die Franzosen wurden länger als die Engländer von der Priesterschaft in ihrem Fortschritt aufgehalten, schlugen aber schließlich denselben Weg des wissenschaftlichen Fort¬ schrittes und der religiösen Duldung ein wie jene. Buckle fragt, wie es ge¬ kommen sei, daß sie trotzdem „Sklaven an Leib und Seele, auf einen Zustand noch stolz waren, deu der geringste Engländer als unerträgliche Knechtschaft von sich gestoßen hätte"; woraus sich als unvermeidliche Folge ergab, daß sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/385>, abgerufen am 02.07.2024.