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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

"Neben den Franzosen und Engländern kommt keine Nation weiter in
Betracht; die Deutschen werden noch mehr bevormundet als die Franzosen."
Da mußte er ja nun eigentlich die deutsche Entwicklung als Typus dessen,
was nicht sein soll, darstellen! Aber es ist ein wenig Heuchelei dabei im
Spiele; er will nicht geradezu eingestehen, daß er von Deutschland weniger
weiß als von Frankreich und selbst von Spanien. Dem kleinen Zerrbilde
deutscher Zustände, das er bei dieser Gelegenheit hinwirft, liegen neben ein¬
gebildeten natürlich auch einige echte Züge zu Grunde. Vor der Mitte des
vorigen Jahrhunderts hatten die Deutschen keine Litteratur gehabt, erst durch
den Anstoß eine bekommen, der von Friedrichs des Großen Franzosen ausging;
seitdem sei dann Berlin das Hauptquartier deutscher Wissenschaft geworden.
"Der deutsche Geist, durch den französischen zu plötzlicher Entfaltung angeregt,
hat sich unregelmäßig entwickelt und in eine Thätigkeit gestürzt, die größer ist,
als die durchschnittliche Zivilisation des Landes es erfordert." Die Folge
davon sei eine tiefe Kluft zwischen den höchsten und den niedrigsten Geistern.
Die deutsche Philosophie stehe an der Spitze der zivilisirten Welt. "Das
deutsche Volk hingegen wird mehr von Vorurteilen und Aberglauben beherrscht
und ist ungeachtet aller Sorge, die seine Regierungen für seine Erziehung auf¬
wenden, unwissender und unfähiger, sich selbst zu regieren, als die Einwohner
von Frankreich und England. Seine großen Schriftsteller schreiben nicht für
ihr Land, sondern für einander."

Unter den Mächten um, die auf den Erkenutnisfvrtschritt einwirken, sind
als höchst wichtige zu nenne" die Religion, die Litteratur und die Regierungen.
Bleibe jedes Volk sich selbst überlassen, so würden eines jeden Religion, Litteratur
lind Regierung nicht die Ursachen, sondern Wirkungen seiner Zivilisation sein.
Die häufige Umkehrung des natürlichen Verhältnisses stiftet große Verwirrung.
Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts z. B. war ein notwendiges
Ergebnis des Zivilisationsfvrtschritts, der das Bedürfnis einer weniger aber¬
gläubischen und weniger unbequemen Religion erzeugte. Wären nun die
Völker sich selbst überlassen geblieben, so würden jetzt alle nnfgeklärten und
duldsamer Nationen protestantisch, alle zurückgebliebenen, abergläubische" und
unduldsamen katholisch sein. Allein unglücklicherweise haben sich die Regierungen,
"die sich immer in Dinge mischen, die sie nichts angehen," berufen gefühlt, die
religiösen Interessen ihrer Unterthanen in ihren Schutz zu nehmen, und so
hing denn die Wahl der Religion nicht vom Volke selbst und seinem Bildungs¬
standpunkte ab. So ist es gekommen, daß die aufgeklärten und duldsamer
Frauzosen Katholiken bleiben mußte", während die Schotten und die Schweden,
die in Aberglauben und Unduldsamkeit mit den Spaniern wetteifern, Prote¬
stanten geworden sind. Die Franzosen haben nun eine Religion, die für sie
zu schlecht, und die Schotten eine, die für sie zu gut ist, die ihnen auch gar
nichts nützt.


Greazlwleu IV 18L9 ^lL
Buckle und Darwin

„Neben den Franzosen und Engländern kommt keine Nation weiter in
Betracht; die Deutschen werden noch mehr bevormundet als die Franzosen."
Da mußte er ja nun eigentlich die deutsche Entwicklung als Typus dessen,
was nicht sein soll, darstellen! Aber es ist ein wenig Heuchelei dabei im
Spiele; er will nicht geradezu eingestehen, daß er von Deutschland weniger
weiß als von Frankreich und selbst von Spanien. Dem kleinen Zerrbilde
deutscher Zustände, das er bei dieser Gelegenheit hinwirft, liegen neben ein¬
gebildeten natürlich auch einige echte Züge zu Grunde. Vor der Mitte des
vorigen Jahrhunderts hatten die Deutschen keine Litteratur gehabt, erst durch
den Anstoß eine bekommen, der von Friedrichs des Großen Franzosen ausging;
seitdem sei dann Berlin das Hauptquartier deutscher Wissenschaft geworden.
„Der deutsche Geist, durch den französischen zu plötzlicher Entfaltung angeregt,
hat sich unregelmäßig entwickelt und in eine Thätigkeit gestürzt, die größer ist,
als die durchschnittliche Zivilisation des Landes es erfordert." Die Folge
davon sei eine tiefe Kluft zwischen den höchsten und den niedrigsten Geistern.
Die deutsche Philosophie stehe an der Spitze der zivilisirten Welt. „Das
deutsche Volk hingegen wird mehr von Vorurteilen und Aberglauben beherrscht
und ist ungeachtet aller Sorge, die seine Regierungen für seine Erziehung auf¬
wenden, unwissender und unfähiger, sich selbst zu regieren, als die Einwohner
von Frankreich und England. Seine großen Schriftsteller schreiben nicht für
ihr Land, sondern für einander."

Unter den Mächten um, die auf den Erkenutnisfvrtschritt einwirken, sind
als höchst wichtige zu nenne» die Religion, die Litteratur und die Regierungen.
Bleibe jedes Volk sich selbst überlassen, so würden eines jeden Religion, Litteratur
lind Regierung nicht die Ursachen, sondern Wirkungen seiner Zivilisation sein.
Die häufige Umkehrung des natürlichen Verhältnisses stiftet große Verwirrung.
Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts z. B. war ein notwendiges
Ergebnis des Zivilisationsfvrtschritts, der das Bedürfnis einer weniger aber¬
gläubischen und weniger unbequemen Religion erzeugte. Wären nun die
Völker sich selbst überlassen geblieben, so würden jetzt alle nnfgeklärten und
duldsamer Nationen protestantisch, alle zurückgebliebenen, abergläubische« und
unduldsamen katholisch sein. Allein unglücklicherweise haben sich die Regierungen,
„die sich immer in Dinge mischen, die sie nichts angehen," berufen gefühlt, die
religiösen Interessen ihrer Unterthanen in ihren Schutz zu nehmen, und so
hing denn die Wahl der Religion nicht vom Volke selbst und seinem Bildungs¬
standpunkte ab. So ist es gekommen, daß die aufgeklärten und duldsamer
Frauzosen Katholiken bleiben mußte», während die Schotten und die Schweden,
die in Aberglauben und Unduldsamkeit mit den Spaniern wetteifern, Prote¬
stanten geworden sind. Die Franzosen haben nun eine Religion, die für sie
zu schlecht, und die Schotten eine, die für sie zu gut ist, die ihnen auch gar
nichts nützt.


Greazlwleu IV 18L9 ^lL
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[0384] Buckle und Darwin „Neben den Franzosen und Engländern kommt keine Nation weiter in Betracht; die Deutschen werden noch mehr bevormundet als die Franzosen." Da mußte er ja nun eigentlich die deutsche Entwicklung als Typus dessen, was nicht sein soll, darstellen! Aber es ist ein wenig Heuchelei dabei im Spiele; er will nicht geradezu eingestehen, daß er von Deutschland weniger weiß als von Frankreich und selbst von Spanien. Dem kleinen Zerrbilde deutscher Zustände, das er bei dieser Gelegenheit hinwirft, liegen neben ein¬ gebildeten natürlich auch einige echte Züge zu Grunde. Vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten die Deutschen keine Litteratur gehabt, erst durch den Anstoß eine bekommen, der von Friedrichs des Großen Franzosen ausging; seitdem sei dann Berlin das Hauptquartier deutscher Wissenschaft geworden. „Der deutsche Geist, durch den französischen zu plötzlicher Entfaltung angeregt, hat sich unregelmäßig entwickelt und in eine Thätigkeit gestürzt, die größer ist, als die durchschnittliche Zivilisation des Landes es erfordert." Die Folge davon sei eine tiefe Kluft zwischen den höchsten und den niedrigsten Geistern. Die deutsche Philosophie stehe an der Spitze der zivilisirten Welt. „Das deutsche Volk hingegen wird mehr von Vorurteilen und Aberglauben beherrscht und ist ungeachtet aller Sorge, die seine Regierungen für seine Erziehung auf¬ wenden, unwissender und unfähiger, sich selbst zu regieren, als die Einwohner von Frankreich und England. Seine großen Schriftsteller schreiben nicht für ihr Land, sondern für einander." Unter den Mächten um, die auf den Erkenutnisfvrtschritt einwirken, sind als höchst wichtige zu nenne» die Religion, die Litteratur und die Regierungen. Bleibe jedes Volk sich selbst überlassen, so würden eines jeden Religion, Litteratur lind Regierung nicht die Ursachen, sondern Wirkungen seiner Zivilisation sein. Die häufige Umkehrung des natürlichen Verhältnisses stiftet große Verwirrung. Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts z. B. war ein notwendiges Ergebnis des Zivilisationsfvrtschritts, der das Bedürfnis einer weniger aber¬ gläubischen und weniger unbequemen Religion erzeugte. Wären nun die Völker sich selbst überlassen geblieben, so würden jetzt alle nnfgeklärten und duldsamer Nationen protestantisch, alle zurückgebliebenen, abergläubische« und unduldsamen katholisch sein. Allein unglücklicherweise haben sich die Regierungen, „die sich immer in Dinge mischen, die sie nichts angehen," berufen gefühlt, die religiösen Interessen ihrer Unterthanen in ihren Schutz zu nehmen, und so hing denn die Wahl der Religion nicht vom Volke selbst und seinem Bildungs¬ standpunkte ab. So ist es gekommen, daß die aufgeklärten und duldsamer Frauzosen Katholiken bleiben mußte», während die Schotten und die Schweden, die in Aberglauben und Unduldsamkeit mit den Spaniern wetteifern, Prote¬ stanten geworden sind. Die Franzosen haben nun eine Religion, die für sie zu schlecht, und die Schotten eine, die für sie zu gut ist, die ihnen auch gar nichts nützt. Greazlwleu IV 18L9 ^lL

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/384>, abgerufen am 02.07.2024.