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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften im Zaume
halten, unsre Eltern ehren, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der
Moral. Sie sind Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten, Homilien und Bibelerklärungen der Moralisten und Theologen
ihnen hinzuzufügen vermocht." Dagegen ist die Wissenschaft im höchsten Grade
veränderlich; von ihr allein also können jene Veränderungen herrühren, die den
Fortschritt ausmachen.

Und hier finden wir auch etwas, was wirklich vererbt werden kann. Gute
Thaten können nicht vererbt werden, jeder muß die seinigen selber ausführen;
die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung hingegen werden in Formeln
gebracht und so von einem Geschlecht auf das andre überliefert, Daher wirken
die guten wie die schlechten Handlungen nur vorübergehend und bringen in
dem jeweiligen Zustande des Menschengeschlechts keine bemerkbare Veränderung
hervor; nur die Erkenntnis wirkt mächtig aufs Ganze. Nicht böser Wille,
sondern mangelhafte Erkenntnis war es, was das meiste und größte Unheil
über die Welt gebracht hat. Die große Mehrheit derer, die religiöse Ver¬
folgungen angestiftet haben, sind Menschen von reiner Absicht und tadelloser
Sittlichkeit gewesen. Bekanntlich waren gerade die besten nnter den römischen
Kaisern die eifrigsten Christenverfolger, während Lumpen wie Heliogabcil sich
an die Religion ihrer Unterthanen gar nicht kümmerten. Wer sest überzeugt
ist, daß er sich im Besitze des allein wahren Glaubens befinde und daß jeder
Andersgläubige ewigen Qualen verfalle, der hält sich natürlich für verpflichtet,
seine Mitmenschen um jeden Preis und selbst mit den grausamsten Strafen
vor dem noch grausamem jenseitigen Schicksal zu retten. Je aufrichtiger ein
solcher Mensch es meint, je feuriger er seine Mitmenschen liebt, desto eifriger
wird er verfolgen; nur durch Verminderung seines Seeleneifers oder feiner
Aufrichtigkeit, also seiner Tugend, oder durch Aufklärung könne" nur dem Übel
Einhalt thun. Die Leute der spanischen Inquisition waren keine Heuchler,
sondern Schwärmer. Heuchler siud gewöhnlich zu weich, um grausam zu sein.
Zwei entschiedne Feinde der Inquisition, Llvrente nud Townsend, geben den
Inquisitoren das Zeugnis, daß sie meist nicht allein ehrenwerte, sondern auch
menschenfreundliche Männer gewesen seien, daß sie sich durch unbestechliche Recht¬
schaffenheit ausgezeichnet und ihre verkehrten Gesetze mit der größten Gewissen¬
haftigkeit angewandt haben. Religiöse Verfolgung ist eben das größte aller
Übel, weil sie nicht allein Tausende einem grausamen Tode überliefert, sondern
eine noch weit größere Zahl zu lebenslänglicher Heuchelei zwingt, sodaß Betrug
tägliche Notdurft und die Geistesverfassung des ganzen Volkes verderbt wird.
Das zweitgrößte Übel ist der Krieg, und auch für dessen Verminderung hat
die Moral gar nichts gethan. In dem Maße dagegen, als die geistigen Schätze
einer Nation anwachsen, vermindert sich ihre Neigung zum Kriege. Bei den
Wilden gilt nur der Mann, der mindestens einen Feind getötet hat. Mit


Buckle und Darwin

lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften im Zaume
halten, unsre Eltern ehren, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der
Moral. Sie sind Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten, Homilien und Bibelerklärungen der Moralisten und Theologen
ihnen hinzuzufügen vermocht." Dagegen ist die Wissenschaft im höchsten Grade
veränderlich; von ihr allein also können jene Veränderungen herrühren, die den
Fortschritt ausmachen.

Und hier finden wir auch etwas, was wirklich vererbt werden kann. Gute
Thaten können nicht vererbt werden, jeder muß die seinigen selber ausführen;
die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung hingegen werden in Formeln
gebracht und so von einem Geschlecht auf das andre überliefert, Daher wirken
die guten wie die schlechten Handlungen nur vorübergehend und bringen in
dem jeweiligen Zustande des Menschengeschlechts keine bemerkbare Veränderung
hervor; nur die Erkenntnis wirkt mächtig aufs Ganze. Nicht böser Wille,
sondern mangelhafte Erkenntnis war es, was das meiste und größte Unheil
über die Welt gebracht hat. Die große Mehrheit derer, die religiöse Ver¬
folgungen angestiftet haben, sind Menschen von reiner Absicht und tadelloser
Sittlichkeit gewesen. Bekanntlich waren gerade die besten nnter den römischen
Kaisern die eifrigsten Christenverfolger, während Lumpen wie Heliogabcil sich
an die Religion ihrer Unterthanen gar nicht kümmerten. Wer sest überzeugt
ist, daß er sich im Besitze des allein wahren Glaubens befinde und daß jeder
Andersgläubige ewigen Qualen verfalle, der hält sich natürlich für verpflichtet,
seine Mitmenschen um jeden Preis und selbst mit den grausamsten Strafen
vor dem noch grausamem jenseitigen Schicksal zu retten. Je aufrichtiger ein
solcher Mensch es meint, je feuriger er seine Mitmenschen liebt, desto eifriger
wird er verfolgen; nur durch Verminderung seines Seeleneifers oder feiner
Aufrichtigkeit, also seiner Tugend, oder durch Aufklärung könne» nur dem Übel
Einhalt thun. Die Leute der spanischen Inquisition waren keine Heuchler,
sondern Schwärmer. Heuchler siud gewöhnlich zu weich, um grausam zu sein.
Zwei entschiedne Feinde der Inquisition, Llvrente nud Townsend, geben den
Inquisitoren das Zeugnis, daß sie meist nicht allein ehrenwerte, sondern auch
menschenfreundliche Männer gewesen seien, daß sie sich durch unbestechliche Recht¬
schaffenheit ausgezeichnet und ihre verkehrten Gesetze mit der größten Gewissen¬
haftigkeit angewandt haben. Religiöse Verfolgung ist eben das größte aller
Übel, weil sie nicht allein Tausende einem grausamen Tode überliefert, sondern
eine noch weit größere Zahl zu lebenslänglicher Heuchelei zwingt, sodaß Betrug
tägliche Notdurft und die Geistesverfassung des ganzen Volkes verderbt wird.
Das zweitgrößte Übel ist der Krieg, und auch für dessen Verminderung hat
die Moral gar nichts gethan. In dem Maße dagegen, als die geistigen Schätze
einer Nation anwachsen, vermindert sich ihre Neigung zum Kriege. Bei den
Wilden gilt nur der Mann, der mindestens einen Feind getötet hat. Mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/382>, abgerufen am 22.12.2024.