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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

davon, Wie wenig Buckle bei seiner Vielleserei seinen ungeheuern Stoff innerlich
zu bewältigen vermochte. Der metaphysischen Methode ähnlich, meint er, ist
die, nach der die Physiologen das Gesetz des Verhältnisses der männlichen
und der weiblichen Geburten zu einander gesucht haben; sie konnten es nicht
finden, erst die Statistik hat es gefunden durch Überschau über das Ganze, in
dem sich das Gesetz der großen Zahl geltend macht. Was die Physiologen
suchten, war aber doch nicht das Gesetz! Dieses brauchte niemand zu suchen,
denn jedermann steht es vor seiner Nase liegen. Sondern sie untersuchten, wie
die Natur es anfängt, trotz aller Ungleichheit in den einzelnen Familien, doch
im großen und ganzen das Zahlengleichgewicht zwischen beiden Geschlechtern
aufrecht zu erhalten; und diese Vorkehrungen der Natur können, wenn über¬
haupt, nur auf physiologischen Wege gefunden werden.)

Beim Blick auf das Ganze bemerken wir nun zunächst, daß sich das
geistige Leben aus dem sittlichen und intellektuellen zusammensetzt. Zu¬
nächst meint Buckle hier die nüßverständliche Deutung des Wortes Fortschritt
abzuweisen, als ob die Menschennatur selbst fortschreite, die Gesamtheit seiner
sittlichen und intellektuellen Kräfte und Anlagen sich vermehre, steigere oder
sonstwie vervollkommne. Die Möglichkeit eiuer solchen Vervollkommnung kann
freilich nicht in Abrede gestellt, aber daß sie wirklich vorgekommen sei, nicht
nachgewiesen werden. Weder erscheint der heutige Kulturmensch mit mehr
Verstand, Gedächtnis u. s. w. ausgerüstet als der des Altertums, noch stehen
die heutigen Negerkinder an Begabung hinter den europäischen in auffälliger
Weise zurück. Der Fortschritt liegt demnach nicht in der Erhöhung oder
sonstigen Vervollkommnung unsrer natürlichen Anlagen, sondern in der Ver¬
besserung der Umstände, unter denen die geistigen Fähigkeiten gleich nach der
Geburt in Wirksamkeit treten. Die häufige Ausicht von der Vererbung ge¬
steigerter Fähigkeiten wird durch die Erfahrung so wenig bestätigt wie die von
der Vererbung der Laster und Tugenden; die Kinder schlagen im guten wie
im bösen ebenso oft aus der Art wie in die Art. Weit weniger durch erblich
überkommene Eigenschaften wird das Denken, Empfinden und Handeln des
Einzelnen bestimmt, als durch die sittlichen Grundsätze und die Meinungen der
Zeit und Umgebung, in der jeder lebt; die sich darüber erheben oder dahinter
zurückbleiben, bilden die Ausnahmen. Die Masse lebt schläfrig in der
herrschenden Meinung dahin. Diese Meinung aber, der Zeitgeist, ändert sich
fortwährend. Was heute als Unsinn verspottet oder als Ketzerei verfolgt wird,
gilt morgen als ausgemachte Wahrheit, um übermorgen wieder einer neuen
Meinung zu weichen.

Diese immerwährende Veränderung kann um offenbar nicht durch ein Un¬
veränderliches bewirkt werden. Also liegt der Grund der Veränderung nicht
in den sittlichen Gefühlen, denn die sind im ganzen unveränderlich. "Andern
Gutes thun, zu ihrem Beste" unsre eignen Wünsche opfern, unsern Nächsten


Buckle und Darwin

davon, Wie wenig Buckle bei seiner Vielleserei seinen ungeheuern Stoff innerlich
zu bewältigen vermochte. Der metaphysischen Methode ähnlich, meint er, ist
die, nach der die Physiologen das Gesetz des Verhältnisses der männlichen
und der weiblichen Geburten zu einander gesucht haben; sie konnten es nicht
finden, erst die Statistik hat es gefunden durch Überschau über das Ganze, in
dem sich das Gesetz der großen Zahl geltend macht. Was die Physiologen
suchten, war aber doch nicht das Gesetz! Dieses brauchte niemand zu suchen,
denn jedermann steht es vor seiner Nase liegen. Sondern sie untersuchten, wie
die Natur es anfängt, trotz aller Ungleichheit in den einzelnen Familien, doch
im großen und ganzen das Zahlengleichgewicht zwischen beiden Geschlechtern
aufrecht zu erhalten; und diese Vorkehrungen der Natur können, wenn über¬
haupt, nur auf physiologischen Wege gefunden werden.)

Beim Blick auf das Ganze bemerken wir nun zunächst, daß sich das
geistige Leben aus dem sittlichen und intellektuellen zusammensetzt. Zu¬
nächst meint Buckle hier die nüßverständliche Deutung des Wortes Fortschritt
abzuweisen, als ob die Menschennatur selbst fortschreite, die Gesamtheit seiner
sittlichen und intellektuellen Kräfte und Anlagen sich vermehre, steigere oder
sonstwie vervollkommne. Die Möglichkeit eiuer solchen Vervollkommnung kann
freilich nicht in Abrede gestellt, aber daß sie wirklich vorgekommen sei, nicht
nachgewiesen werden. Weder erscheint der heutige Kulturmensch mit mehr
Verstand, Gedächtnis u. s. w. ausgerüstet als der des Altertums, noch stehen
die heutigen Negerkinder an Begabung hinter den europäischen in auffälliger
Weise zurück. Der Fortschritt liegt demnach nicht in der Erhöhung oder
sonstigen Vervollkommnung unsrer natürlichen Anlagen, sondern in der Ver¬
besserung der Umstände, unter denen die geistigen Fähigkeiten gleich nach der
Geburt in Wirksamkeit treten. Die häufige Ausicht von der Vererbung ge¬
steigerter Fähigkeiten wird durch die Erfahrung so wenig bestätigt wie die von
der Vererbung der Laster und Tugenden; die Kinder schlagen im guten wie
im bösen ebenso oft aus der Art wie in die Art. Weit weniger durch erblich
überkommene Eigenschaften wird das Denken, Empfinden und Handeln des
Einzelnen bestimmt, als durch die sittlichen Grundsätze und die Meinungen der
Zeit und Umgebung, in der jeder lebt; die sich darüber erheben oder dahinter
zurückbleiben, bilden die Ausnahmen. Die Masse lebt schläfrig in der
herrschenden Meinung dahin. Diese Meinung aber, der Zeitgeist, ändert sich
fortwährend. Was heute als Unsinn verspottet oder als Ketzerei verfolgt wird,
gilt morgen als ausgemachte Wahrheit, um übermorgen wieder einer neuen
Meinung zu weichen.

Diese immerwährende Veränderung kann um offenbar nicht durch ein Un¬
veränderliches bewirkt werden. Also liegt der Grund der Veränderung nicht
in den sittlichen Gefühlen, denn die sind im ganzen unveränderlich. „Andern
Gutes thun, zu ihrem Beste« unsre eignen Wünsche opfern, unsern Nächsten


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[0381] Buckle und Darwin davon, Wie wenig Buckle bei seiner Vielleserei seinen ungeheuern Stoff innerlich zu bewältigen vermochte. Der metaphysischen Methode ähnlich, meint er, ist die, nach der die Physiologen das Gesetz des Verhältnisses der männlichen und der weiblichen Geburten zu einander gesucht haben; sie konnten es nicht finden, erst die Statistik hat es gefunden durch Überschau über das Ganze, in dem sich das Gesetz der großen Zahl geltend macht. Was die Physiologen suchten, war aber doch nicht das Gesetz! Dieses brauchte niemand zu suchen, denn jedermann steht es vor seiner Nase liegen. Sondern sie untersuchten, wie die Natur es anfängt, trotz aller Ungleichheit in den einzelnen Familien, doch im großen und ganzen das Zahlengleichgewicht zwischen beiden Geschlechtern aufrecht zu erhalten; und diese Vorkehrungen der Natur können, wenn über¬ haupt, nur auf physiologischen Wege gefunden werden.) Beim Blick auf das Ganze bemerken wir nun zunächst, daß sich das geistige Leben aus dem sittlichen und intellektuellen zusammensetzt. Zu¬ nächst meint Buckle hier die nüßverständliche Deutung des Wortes Fortschritt abzuweisen, als ob die Menschennatur selbst fortschreite, die Gesamtheit seiner sittlichen und intellektuellen Kräfte und Anlagen sich vermehre, steigere oder sonstwie vervollkommne. Die Möglichkeit eiuer solchen Vervollkommnung kann freilich nicht in Abrede gestellt, aber daß sie wirklich vorgekommen sei, nicht nachgewiesen werden. Weder erscheint der heutige Kulturmensch mit mehr Verstand, Gedächtnis u. s. w. ausgerüstet als der des Altertums, noch stehen die heutigen Negerkinder an Begabung hinter den europäischen in auffälliger Weise zurück. Der Fortschritt liegt demnach nicht in der Erhöhung oder sonstigen Vervollkommnung unsrer natürlichen Anlagen, sondern in der Ver¬ besserung der Umstände, unter denen die geistigen Fähigkeiten gleich nach der Geburt in Wirksamkeit treten. Die häufige Ausicht von der Vererbung ge¬ steigerter Fähigkeiten wird durch die Erfahrung so wenig bestätigt wie die von der Vererbung der Laster und Tugenden; die Kinder schlagen im guten wie im bösen ebenso oft aus der Art wie in die Art. Weit weniger durch erblich überkommene Eigenschaften wird das Denken, Empfinden und Handeln des Einzelnen bestimmt, als durch die sittlichen Grundsätze und die Meinungen der Zeit und Umgebung, in der jeder lebt; die sich darüber erheben oder dahinter zurückbleiben, bilden die Ausnahmen. Die Masse lebt schläfrig in der herrschenden Meinung dahin. Diese Meinung aber, der Zeitgeist, ändert sich fortwährend. Was heute als Unsinn verspottet oder als Ketzerei verfolgt wird, gilt morgen als ausgemachte Wahrheit, um übermorgen wieder einer neuen Meinung zu weichen. Diese immerwährende Veränderung kann um offenbar nicht durch ein Un¬ veränderliches bewirkt werden. Also liegt der Grund der Veränderung nicht in den sittlichen Gefühlen, denn die sind im ganzen unveränderlich. „Andern Gutes thun, zu ihrem Beste« unsre eignen Wünsche opfern, unsern Nächsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/381>, abgerufen am 02.07.2024.