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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Buckle und Darwin

Wir geben zunächst einen kurzen Abriß von Buckles Gedankengang. Wenn
wir nur vereinzelt hie und da eine Bemerkung einschieben, so darf daraus
nicht geschlossen werden, daß wir mit allem übrigen vollkommen einverstanden
wären.

Entstehung und Fortschritt der Zivilisation hängt einerseits vom Einfluß
der Natur, anderseits von der Beschaffenheit des Geistes ab. In ersterer Be¬
ziehung fällt zunächst der Unterschied zwischen den asiatischen und den euro¬
päischen Kulturstaaten ans. Jene liegen im allgemeinen südlicher, daher er¬
zeugt ihr Boden mehr Nahrung, während zugleich die Bewohner weniger
brauchen. Daher die Neigung zu stärkerer Volksvermehrung und niedrigen
Arbeitslöhnen. Da nun der Ertrag des Bodens und der Arbeit in drei Teile
zerfällt: Grundrente, Unternehmergewinn und Arbeitslohn, so müssen die ersten
beiden Teile in dem Maße anschwellen, als der dritte sinkt. So beansprucht
z. B. in Indien der Grundherr vom Pächter die volle Hälfte der Ernte und
darüber. Das Ergebnis ist die Spaltung des Volkes in eine proletarische
Arbeiterbevölkerung und einen Stand der Reichen, die immer reicher werden.
Da ferner der Reichtum Macht verleiht, so hat die Armut der Volksmasse
deren Ausschließung von allen politischen Rechte" zur Folge; sie versinkt in
sklavische Abhängigkeit und entsprechende Dummheit.

Ein andrer Nachteil des südlichen Klimas, der in geringerem Grade auch
die südlichen Länder Europas trifft, besteht in der Beförderung der Phantasie
auf Kosten des Verstandes. In dieser Richtung ist nicht bloß der über¬
wältigende und überwuchernde Reichtum um Erzeugnissen wirksam. Es kommt
drzu, daß Erdbeben, feuerspeiende Berge, wilde und giftige Tiere, verpestete
Ausdünstungen den Menschen häufiger als im Norden mit Todesgefahr be¬
drohen. Daher mehr Furcht vor dem Tode, mehr Gedanken ans Jenseits,
die eine nie versiegende Quelle abergläubischer Einbildungen sind. "Fassen wir
dies alles zusammen, so können wir sagen, daß in den außereuropäischen Kultur¬
ländern die ganze Natur verschworen war, die Macht der Phantasie zu er¬
höhen und die des Verstandes zu schwächen," während in Europa "die Natur¬
erscheinungen im ganzen dahin zielen, die Phantasie zu beschränken, den Verstand
hingegen kühn zu macheu und den Menschen mit Vertrauen auf seine eignen
Hilfsmittel zu erfüllen. Welche Bedeutung für die geistige Entwicklung der
Inder und der Griechen noch überdies die verschiedne Größe der beiderseitigen
Länder hatte, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Der Grieche fühlte sich
sehr bald als Herr seines Ländchens, von dem er jeden Winkel kannte, dessen
Flüßchen und Berge seinen Reisen und sonstigen Unternehmungen keine unüber-
steiglichen Hindernisse bereiteten. Der Inder versank mit seiner hilflosen Klein¬
heit ins Nichts vor seinem ungeheuern Lande, dessen Entfernungen er nicht
zu durchmessen, dessen Berge er nicht zu übersteigen, dessen Ströme er nicht
zu bändigen vermochte."


Buckle und Darwin

Wir geben zunächst einen kurzen Abriß von Buckles Gedankengang. Wenn
wir nur vereinzelt hie und da eine Bemerkung einschieben, so darf daraus
nicht geschlossen werden, daß wir mit allem übrigen vollkommen einverstanden
wären.

Entstehung und Fortschritt der Zivilisation hängt einerseits vom Einfluß
der Natur, anderseits von der Beschaffenheit des Geistes ab. In ersterer Be¬
ziehung fällt zunächst der Unterschied zwischen den asiatischen und den euro¬
päischen Kulturstaaten ans. Jene liegen im allgemeinen südlicher, daher er¬
zeugt ihr Boden mehr Nahrung, während zugleich die Bewohner weniger
brauchen. Daher die Neigung zu stärkerer Volksvermehrung und niedrigen
Arbeitslöhnen. Da nun der Ertrag des Bodens und der Arbeit in drei Teile
zerfällt: Grundrente, Unternehmergewinn und Arbeitslohn, so müssen die ersten
beiden Teile in dem Maße anschwellen, als der dritte sinkt. So beansprucht
z. B. in Indien der Grundherr vom Pächter die volle Hälfte der Ernte und
darüber. Das Ergebnis ist die Spaltung des Volkes in eine proletarische
Arbeiterbevölkerung und einen Stand der Reichen, die immer reicher werden.
Da ferner der Reichtum Macht verleiht, so hat die Armut der Volksmasse
deren Ausschließung von allen politischen Rechte» zur Folge; sie versinkt in
sklavische Abhängigkeit und entsprechende Dummheit.

Ein andrer Nachteil des südlichen Klimas, der in geringerem Grade auch
die südlichen Länder Europas trifft, besteht in der Beförderung der Phantasie
auf Kosten des Verstandes. In dieser Richtung ist nicht bloß der über¬
wältigende und überwuchernde Reichtum um Erzeugnissen wirksam. Es kommt
drzu, daß Erdbeben, feuerspeiende Berge, wilde und giftige Tiere, verpestete
Ausdünstungen den Menschen häufiger als im Norden mit Todesgefahr be¬
drohen. Daher mehr Furcht vor dem Tode, mehr Gedanken ans Jenseits,
die eine nie versiegende Quelle abergläubischer Einbildungen sind. „Fassen wir
dies alles zusammen, so können wir sagen, daß in den außereuropäischen Kultur¬
ländern die ganze Natur verschworen war, die Macht der Phantasie zu er¬
höhen und die des Verstandes zu schwächen," während in Europa „die Natur¬
erscheinungen im ganzen dahin zielen, die Phantasie zu beschränken, den Verstand
hingegen kühn zu macheu und den Menschen mit Vertrauen auf seine eignen
Hilfsmittel zu erfüllen. Welche Bedeutung für die geistige Entwicklung der
Inder und der Griechen noch überdies die verschiedne Größe der beiderseitigen
Länder hatte, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Der Grieche fühlte sich
sehr bald als Herr seines Ländchens, von dem er jeden Winkel kannte, dessen
Flüßchen und Berge seinen Reisen und sonstigen Unternehmungen keine unüber-
steiglichen Hindernisse bereiteten. Der Inder versank mit seiner hilflosen Klein¬
heit ins Nichts vor seinem ungeheuern Lande, dessen Entfernungen er nicht
zu durchmessen, dessen Berge er nicht zu übersteigen, dessen Ströme er nicht
zu bändigen vermochte."


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[0379] Buckle und Darwin Wir geben zunächst einen kurzen Abriß von Buckles Gedankengang. Wenn wir nur vereinzelt hie und da eine Bemerkung einschieben, so darf daraus nicht geschlossen werden, daß wir mit allem übrigen vollkommen einverstanden wären. Entstehung und Fortschritt der Zivilisation hängt einerseits vom Einfluß der Natur, anderseits von der Beschaffenheit des Geistes ab. In ersterer Be¬ ziehung fällt zunächst der Unterschied zwischen den asiatischen und den euro¬ päischen Kulturstaaten ans. Jene liegen im allgemeinen südlicher, daher er¬ zeugt ihr Boden mehr Nahrung, während zugleich die Bewohner weniger brauchen. Daher die Neigung zu stärkerer Volksvermehrung und niedrigen Arbeitslöhnen. Da nun der Ertrag des Bodens und der Arbeit in drei Teile zerfällt: Grundrente, Unternehmergewinn und Arbeitslohn, so müssen die ersten beiden Teile in dem Maße anschwellen, als der dritte sinkt. So beansprucht z. B. in Indien der Grundherr vom Pächter die volle Hälfte der Ernte und darüber. Das Ergebnis ist die Spaltung des Volkes in eine proletarische Arbeiterbevölkerung und einen Stand der Reichen, die immer reicher werden. Da ferner der Reichtum Macht verleiht, so hat die Armut der Volksmasse deren Ausschließung von allen politischen Rechte» zur Folge; sie versinkt in sklavische Abhängigkeit und entsprechende Dummheit. Ein andrer Nachteil des südlichen Klimas, der in geringerem Grade auch die südlichen Länder Europas trifft, besteht in der Beförderung der Phantasie auf Kosten des Verstandes. In dieser Richtung ist nicht bloß der über¬ wältigende und überwuchernde Reichtum um Erzeugnissen wirksam. Es kommt drzu, daß Erdbeben, feuerspeiende Berge, wilde und giftige Tiere, verpestete Ausdünstungen den Menschen häufiger als im Norden mit Todesgefahr be¬ drohen. Daher mehr Furcht vor dem Tode, mehr Gedanken ans Jenseits, die eine nie versiegende Quelle abergläubischer Einbildungen sind. „Fassen wir dies alles zusammen, so können wir sagen, daß in den außereuropäischen Kultur¬ ländern die ganze Natur verschworen war, die Macht der Phantasie zu er¬ höhen und die des Verstandes zu schwächen," während in Europa „die Natur¬ erscheinungen im ganzen dahin zielen, die Phantasie zu beschränken, den Verstand hingegen kühn zu macheu und den Menschen mit Vertrauen auf seine eignen Hilfsmittel zu erfüllen. Welche Bedeutung für die geistige Entwicklung der Inder und der Griechen noch überdies die verschiedne Größe der beiderseitigen Länder hatte, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Der Grieche fühlte sich sehr bald als Herr seines Ländchens, von dem er jeden Winkel kannte, dessen Flüßchen und Berge seinen Reisen und sonstigen Unternehmungen keine unüber- steiglichen Hindernisse bereiteten. Der Inder versank mit seiner hilflosen Klein¬ heit ins Nichts vor seinem ungeheuern Lande, dessen Entfernungen er nicht zu durchmessen, dessen Berge er nicht zu übersteigen, dessen Ströme er nicht zu bändigen vermochte."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/379>, abgerufen am 02.07.2024.