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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Znrechmmgsfähigkeit iwch geltendem Recht

lichen Gesellschaft gelebt, und nie our ein Bedenken an seiner bürgerlichen
Selbständigkeit laut geworden; erst die That selbst erweckte Zweifel an seiner
Zurechnungsfähigkeit. Ich beschränkte mich darauf, den Schwachsinn als einen
solchen, der nachweislich in der Gesellschaft noch geduldet werden müsse, zu
bestimmen und überließ im übrigen das Urteil dem Gerichtshöfe, worauf die
Verurteilung erfolgte. Ein andrer Sachverständiger hatte sich wegen des
Schwachsinns für Unzurechnungsfähigkeit ausgesprochen. Auch ich würde heute
mein Urteil bestimmter abgeben, denn erst nachträglich ist mir klar geworden,
daß er auf keine Weise hätte entmündigt werden können und deshalb, wenn
auch schwachsinnig, doch nur den geringern Graden des Schwachsinns zu¬
zurechnen war.

In einem andern Falle sollte ein junger Manu, der seinen Vater bedroht
hatte, festgenommen werden und leistete dabei thätlichen Widerstand. Es stellte
sich heraus, daß er el" sogenannter Verlorner Sohn war, der, innerhalb einer
anständigen Familie aufgewachsen, trotz Belehrung und Beispiel niemals etwas
getaugt hatte und schließlich seiner Streiche wegen nach Amerika geschickt worden
war, wo er ein wüstes Vagabundenleben geführt hatte, ohne jemals etwas
werden zu können. Aus seinem ganzen Lebenslaufe ließ sich mit Klarheit der
Nachweis führen, daß er nie imstande gewesen war, die Folgen seiner Hand¬
lungen zu überlegen. Wenn es mir in diesem Falle auch nicht gelang, den
Richter von meiner Ansicht zu überzeugen, so hat doch das spätere Verhalten
des Gefangnen mein Urteil über jeden Zweifel erhoben.

Wie das letzte Beispiel beweist, lasse ich die oben ausgesprochenen Er¬
wägungen auch für den sogenannten "moralisch Schwachsinnigen" gelten. Dem
moralischen Schwachsinn oder der nor-U inWiiitv gegenüber befindet sich der
Richter in einer besonders schwierigen Lage, weil ja das Strafrecht gerade
die Bestimmung hat, auf moralische Mängel angewandt zu werden. Wenn
aber die Erfahrung lehrt, daß ein Mangel auf vorwiegend moralischem Gebiete
angeboren vorkommt, ein Mangel, der sich darin äußert, daß der Mensch trotz
aller aufgewandten Mühe, trotz besten Beispiels nicht zu Anstand und Ge¬
sittung erzogen werden, also die für die Gesellschaft erforderlichen Eigenschaften
nicht erwerben kann, so wird sich unser naturwissenschaftliches Jahrhundert auf
die Dauer der Wahrheit nicht verschließen können, daß dies eine besondre Art
des Schwachsinns ist, woran der Betroffene ebenso unschuldig ist wie sonst bei
angebornen Schwachsinn. Den entehrenden Strafen gegenüber, denen solche
Menschen ausgesetzt sind, und durch die auch die Ehrenstellung der Angehörigen
und Eltern angetastet wird, entspricht es unserm Rechtsgefühl, in solchen Fällen
auf Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen; wird doch durch die entehrende Strafe
jedes Familienglied mit betroffen. Es dürfte ein Vorzug unsers Stand¬
punktes sein, daß sich auch in diesen Fällen jene von uns gezogene Grenzlinie
bewährt. Es wird sich nämlich herausstellen, daß mich hier nur die ge-


Greuzkwten IV 5689 47
Die Znrechmmgsfähigkeit iwch geltendem Recht

lichen Gesellschaft gelebt, und nie our ein Bedenken an seiner bürgerlichen
Selbständigkeit laut geworden; erst die That selbst erweckte Zweifel an seiner
Zurechnungsfähigkeit. Ich beschränkte mich darauf, den Schwachsinn als einen
solchen, der nachweislich in der Gesellschaft noch geduldet werden müsse, zu
bestimmen und überließ im übrigen das Urteil dem Gerichtshöfe, worauf die
Verurteilung erfolgte. Ein andrer Sachverständiger hatte sich wegen des
Schwachsinns für Unzurechnungsfähigkeit ausgesprochen. Auch ich würde heute
mein Urteil bestimmter abgeben, denn erst nachträglich ist mir klar geworden,
daß er auf keine Weise hätte entmündigt werden können und deshalb, wenn
auch schwachsinnig, doch nur den geringern Graden des Schwachsinns zu¬
zurechnen war.

In einem andern Falle sollte ein junger Manu, der seinen Vater bedroht
hatte, festgenommen werden und leistete dabei thätlichen Widerstand. Es stellte
sich heraus, daß er el» sogenannter Verlorner Sohn war, der, innerhalb einer
anständigen Familie aufgewachsen, trotz Belehrung und Beispiel niemals etwas
getaugt hatte und schließlich seiner Streiche wegen nach Amerika geschickt worden
war, wo er ein wüstes Vagabundenleben geführt hatte, ohne jemals etwas
werden zu können. Aus seinem ganzen Lebenslaufe ließ sich mit Klarheit der
Nachweis führen, daß er nie imstande gewesen war, die Folgen seiner Hand¬
lungen zu überlegen. Wenn es mir in diesem Falle auch nicht gelang, den
Richter von meiner Ansicht zu überzeugen, so hat doch das spätere Verhalten
des Gefangnen mein Urteil über jeden Zweifel erhoben.

Wie das letzte Beispiel beweist, lasse ich die oben ausgesprochenen Er¬
wägungen auch für den sogenannten „moralisch Schwachsinnigen" gelten. Dem
moralischen Schwachsinn oder der nor-U inWiiitv gegenüber befindet sich der
Richter in einer besonders schwierigen Lage, weil ja das Strafrecht gerade
die Bestimmung hat, auf moralische Mängel angewandt zu werden. Wenn
aber die Erfahrung lehrt, daß ein Mangel auf vorwiegend moralischem Gebiete
angeboren vorkommt, ein Mangel, der sich darin äußert, daß der Mensch trotz
aller aufgewandten Mühe, trotz besten Beispiels nicht zu Anstand und Ge¬
sittung erzogen werden, also die für die Gesellschaft erforderlichen Eigenschaften
nicht erwerben kann, so wird sich unser naturwissenschaftliches Jahrhundert auf
die Dauer der Wahrheit nicht verschließen können, daß dies eine besondre Art
des Schwachsinns ist, woran der Betroffene ebenso unschuldig ist wie sonst bei
angebornen Schwachsinn. Den entehrenden Strafen gegenüber, denen solche
Menschen ausgesetzt sind, und durch die auch die Ehrenstellung der Angehörigen
und Eltern angetastet wird, entspricht es unserm Rechtsgefühl, in solchen Fällen
auf Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen; wird doch durch die entehrende Strafe
jedes Familienglied mit betroffen. Es dürfte ein Vorzug unsers Stand¬
punktes sein, daß sich auch in diesen Fällen jene von uns gezogene Grenzlinie
bewährt. Es wird sich nämlich herausstellen, daß mich hier nur die ge-


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[0377] Die Znrechmmgsfähigkeit iwch geltendem Recht lichen Gesellschaft gelebt, und nie our ein Bedenken an seiner bürgerlichen Selbständigkeit laut geworden; erst die That selbst erweckte Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. Ich beschränkte mich darauf, den Schwachsinn als einen solchen, der nachweislich in der Gesellschaft noch geduldet werden müsse, zu bestimmen und überließ im übrigen das Urteil dem Gerichtshöfe, worauf die Verurteilung erfolgte. Ein andrer Sachverständiger hatte sich wegen des Schwachsinns für Unzurechnungsfähigkeit ausgesprochen. Auch ich würde heute mein Urteil bestimmter abgeben, denn erst nachträglich ist mir klar geworden, daß er auf keine Weise hätte entmündigt werden können und deshalb, wenn auch schwachsinnig, doch nur den geringern Graden des Schwachsinns zu¬ zurechnen war. In einem andern Falle sollte ein junger Manu, der seinen Vater bedroht hatte, festgenommen werden und leistete dabei thätlichen Widerstand. Es stellte sich heraus, daß er el» sogenannter Verlorner Sohn war, der, innerhalb einer anständigen Familie aufgewachsen, trotz Belehrung und Beispiel niemals etwas getaugt hatte und schließlich seiner Streiche wegen nach Amerika geschickt worden war, wo er ein wüstes Vagabundenleben geführt hatte, ohne jemals etwas werden zu können. Aus seinem ganzen Lebenslaufe ließ sich mit Klarheit der Nachweis führen, daß er nie imstande gewesen war, die Folgen seiner Hand¬ lungen zu überlegen. Wenn es mir in diesem Falle auch nicht gelang, den Richter von meiner Ansicht zu überzeugen, so hat doch das spätere Verhalten des Gefangnen mein Urteil über jeden Zweifel erhoben. Wie das letzte Beispiel beweist, lasse ich die oben ausgesprochenen Er¬ wägungen auch für den sogenannten „moralisch Schwachsinnigen" gelten. Dem moralischen Schwachsinn oder der nor-U inWiiitv gegenüber befindet sich der Richter in einer besonders schwierigen Lage, weil ja das Strafrecht gerade die Bestimmung hat, auf moralische Mängel angewandt zu werden. Wenn aber die Erfahrung lehrt, daß ein Mangel auf vorwiegend moralischem Gebiete angeboren vorkommt, ein Mangel, der sich darin äußert, daß der Mensch trotz aller aufgewandten Mühe, trotz besten Beispiels nicht zu Anstand und Ge¬ sittung erzogen werden, also die für die Gesellschaft erforderlichen Eigenschaften nicht erwerben kann, so wird sich unser naturwissenschaftliches Jahrhundert auf die Dauer der Wahrheit nicht verschließen können, daß dies eine besondre Art des Schwachsinns ist, woran der Betroffene ebenso unschuldig ist wie sonst bei angebornen Schwachsinn. Den entehrenden Strafen gegenüber, denen solche Menschen ausgesetzt sind, und durch die auch die Ehrenstellung der Angehörigen und Eltern angetastet wird, entspricht es unserm Rechtsgefühl, in solchen Fällen auf Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen; wird doch durch die entehrende Strafe jedes Familienglied mit betroffen. Es dürfte ein Vorzug unsers Stand¬ punktes sein, daß sich auch in diesen Fällen jene von uns gezogene Grenzlinie bewährt. Es wird sich nämlich herausstellen, daß mich hier nur die ge- Greuzkwten IV 5689 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/377>, abgerufen am 02.07.2024.