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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Znrechnungsfcihigkeit nach geltendem Recht

oder sogenannte Blödsiunigkeitserkläruug. Blödsinnig im Sinne des Gesetzes
ist nach Paragraph 27 des Allgemeinen Landrechts derjenige, welcher unfähig
ist, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Diese Erklärung ist die Bor¬
bedingung der gerichtlichen Entmündigung, sonnt derjenigen Maßregel, die das
Recht, frei und auf eigne Verantwortung innerhalb der Gesellschaft zu
handeln, aufhebt oder einschränkt. Richter und Sachverständige brauchen sich also
nur die Frage vorzulegen, ob der. Schwachsinn dem Blödsinn im Sinne des
Gesetzes gleichkommt, um sich darüber klar zu werden, ob ein bestimmter, im
Gesetz schon als solcher anerkannter höherer Grad desselben vorhanden ist, oder
ob er unter dieser gesetzlichen Feststellung bleibt. Daß die Anwendung dieser
dein Zivilrecht entnommenen Bestimmung ans das Strafrecht unbedenklich ist,
geht auch ans folgender Erwägung hervor. Auch unser deutsches Strafgesetzbuch
handelt von gewissen Fällen zweifelhafter ^ilrechnnngsfähigteit. Die gesetzliche
Annahme, das; die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft sei, wird aber nur für
Personen jugendlichen Alters, und zwar zwischen vollendetem siebenten und
vollendetem achtzehnten Jahre, und für Taubstumme aufgestellt. Diese sollen
nach Paragraph 56 und 58 des deutschen Strafgesetzbuches freigesprochen
werden, wenn sie bei Begehung der That die zur Erkenntnis ihrer Strafbar¬
keit erforderliche Einsicht nicht besessen habe". Nach Ansicht hervorragender Strnf-
rechtslehrer ist aber der Besitz der erforderlichen Einsicht, wenn auch hier
nur auf bestimmte Klassen von Personen angewendet, ganz allgemein eine
Voraussetzung der Schuld, es wird also auch den Schwachsinnigen gegenüber
anwendbar sein. Kein Arzt aber wird bezweifeln, daß demjenigen Schwach¬
sinnigen, der ganz allgemein unfähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu
überlegen, auch die Einsicht nicht zugesprochen werden kann, die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit einer Handlung erforderlich ist. Es entspricht also, wie ich
dargethan zu haben glaube, durchaus dem geltenden Rechte, "nenn der ärztliche
Sachverständige zur Unterscheidung von Schwachsinn hohen und niedern Grades
die zivilrechtliche Definition des Blödsinns zur Richtschnur nimmt und sich in
jedem Falle die Frage vorlegt- Ist hier die Entmündigung gerechtfertigt
oder nicht?

Die vorstehenden Erwägungen haben mir in einer Reihe von schwierigen
Fällen zu einem richtigen Urteil verholfen. So in folgendem Falle. Ein
junger Bursche im Beginn der zwanziger Jahre erstach ohne bekannten -- auch
später nicht ermittelten -- Beweggrund auf der Straße einen Mann, dem er
augenscheinlich aufgelauert hatte. Seine Aussagen waren vielfach lügenhaft.
Er war ganz zweifellos schwachsinnig, hatte einen schiefen Schädel und andre
sogenannte Degenerationszeichen. Ans der Schule und in der Lehre war er
zurückgeblieben und hatte unter seinen Genossen als beschränkt gegolten, er
hatte aber als Arbeiter sein Brot verdienen und noch seine Mutter unterstützen
könne". Bis zur Begehung der That hatte er ohne Austand in der mersch-


Die Znrechnungsfcihigkeit nach geltendem Recht

oder sogenannte Blödsiunigkeitserkläruug. Blödsinnig im Sinne des Gesetzes
ist nach Paragraph 27 des Allgemeinen Landrechts derjenige, welcher unfähig
ist, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Diese Erklärung ist die Bor¬
bedingung der gerichtlichen Entmündigung, sonnt derjenigen Maßregel, die das
Recht, frei und auf eigne Verantwortung innerhalb der Gesellschaft zu
handeln, aufhebt oder einschränkt. Richter und Sachverständige brauchen sich also
nur die Frage vorzulegen, ob der. Schwachsinn dem Blödsinn im Sinne des
Gesetzes gleichkommt, um sich darüber klar zu werden, ob ein bestimmter, im
Gesetz schon als solcher anerkannter höherer Grad desselben vorhanden ist, oder
ob er unter dieser gesetzlichen Feststellung bleibt. Daß die Anwendung dieser
dein Zivilrecht entnommenen Bestimmung ans das Strafrecht unbedenklich ist,
geht auch ans folgender Erwägung hervor. Auch unser deutsches Strafgesetzbuch
handelt von gewissen Fällen zweifelhafter ^ilrechnnngsfähigteit. Die gesetzliche
Annahme, das; die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft sei, wird aber nur für
Personen jugendlichen Alters, und zwar zwischen vollendetem siebenten und
vollendetem achtzehnten Jahre, und für Taubstumme aufgestellt. Diese sollen
nach Paragraph 56 und 58 des deutschen Strafgesetzbuches freigesprochen
werden, wenn sie bei Begehung der That die zur Erkenntnis ihrer Strafbar¬
keit erforderliche Einsicht nicht besessen habe». Nach Ansicht hervorragender Strnf-
rechtslehrer ist aber der Besitz der erforderlichen Einsicht, wenn auch hier
nur auf bestimmte Klassen von Personen angewendet, ganz allgemein eine
Voraussetzung der Schuld, es wird also auch den Schwachsinnigen gegenüber
anwendbar sein. Kein Arzt aber wird bezweifeln, daß demjenigen Schwach¬
sinnigen, der ganz allgemein unfähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu
überlegen, auch die Einsicht nicht zugesprochen werden kann, die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit einer Handlung erforderlich ist. Es entspricht also, wie ich
dargethan zu haben glaube, durchaus dem geltenden Rechte, »nenn der ärztliche
Sachverständige zur Unterscheidung von Schwachsinn hohen und niedern Grades
die zivilrechtliche Definition des Blödsinns zur Richtschnur nimmt und sich in
jedem Falle die Frage vorlegt- Ist hier die Entmündigung gerechtfertigt
oder nicht?

Die vorstehenden Erwägungen haben mir in einer Reihe von schwierigen
Fällen zu einem richtigen Urteil verholfen. So in folgendem Falle. Ein
junger Bursche im Beginn der zwanziger Jahre erstach ohne bekannten — auch
später nicht ermittelten — Beweggrund auf der Straße einen Mann, dem er
augenscheinlich aufgelauert hatte. Seine Aussagen waren vielfach lügenhaft.
Er war ganz zweifellos schwachsinnig, hatte einen schiefen Schädel und andre
sogenannte Degenerationszeichen. Ans der Schule und in der Lehre war er
zurückgeblieben und hatte unter seinen Genossen als beschränkt gegolten, er
hatte aber als Arbeiter sein Brot verdienen und noch seine Mutter unterstützen
könne». Bis zur Begehung der That hatte er ohne Austand in der mersch-


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[0376] Die Znrechnungsfcihigkeit nach geltendem Recht oder sogenannte Blödsiunigkeitserkläruug. Blödsinnig im Sinne des Gesetzes ist nach Paragraph 27 des Allgemeinen Landrechts derjenige, welcher unfähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Diese Erklärung ist die Bor¬ bedingung der gerichtlichen Entmündigung, sonnt derjenigen Maßregel, die das Recht, frei und auf eigne Verantwortung innerhalb der Gesellschaft zu handeln, aufhebt oder einschränkt. Richter und Sachverständige brauchen sich also nur die Frage vorzulegen, ob der. Schwachsinn dem Blödsinn im Sinne des Gesetzes gleichkommt, um sich darüber klar zu werden, ob ein bestimmter, im Gesetz schon als solcher anerkannter höherer Grad desselben vorhanden ist, oder ob er unter dieser gesetzlichen Feststellung bleibt. Daß die Anwendung dieser dein Zivilrecht entnommenen Bestimmung ans das Strafrecht unbedenklich ist, geht auch ans folgender Erwägung hervor. Auch unser deutsches Strafgesetzbuch handelt von gewissen Fällen zweifelhafter ^ilrechnnngsfähigteit. Die gesetzliche Annahme, das; die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft sei, wird aber nur für Personen jugendlichen Alters, und zwar zwischen vollendetem siebenten und vollendetem achtzehnten Jahre, und für Taubstumme aufgestellt. Diese sollen nach Paragraph 56 und 58 des deutschen Strafgesetzbuches freigesprochen werden, wenn sie bei Begehung der That die zur Erkenntnis ihrer Strafbar¬ keit erforderliche Einsicht nicht besessen habe». Nach Ansicht hervorragender Strnf- rechtslehrer ist aber der Besitz der erforderlichen Einsicht, wenn auch hier nur auf bestimmte Klassen von Personen angewendet, ganz allgemein eine Voraussetzung der Schuld, es wird also auch den Schwachsinnigen gegenüber anwendbar sein. Kein Arzt aber wird bezweifeln, daß demjenigen Schwach¬ sinnigen, der ganz allgemein unfähig ist, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, auch die Einsicht nicht zugesprochen werden kann, die zur Erkenntnis der Strafbarkeit einer Handlung erforderlich ist. Es entspricht also, wie ich dargethan zu haben glaube, durchaus dem geltenden Rechte, »nenn der ärztliche Sachverständige zur Unterscheidung von Schwachsinn hohen und niedern Grades die zivilrechtliche Definition des Blödsinns zur Richtschnur nimmt und sich in jedem Falle die Frage vorlegt- Ist hier die Entmündigung gerechtfertigt oder nicht? Die vorstehenden Erwägungen haben mir in einer Reihe von schwierigen Fällen zu einem richtigen Urteil verholfen. So in folgendem Falle. Ein junger Bursche im Beginn der zwanziger Jahre erstach ohne bekannten — auch später nicht ermittelten — Beweggrund auf der Straße einen Mann, dem er augenscheinlich aufgelauert hatte. Seine Aussagen waren vielfach lügenhaft. Er war ganz zweifellos schwachsinnig, hatte einen schiefen Schädel und andre sogenannte Degenerationszeichen. Ans der Schule und in der Lehre war er zurückgeblieben und hatte unter seinen Genossen als beschränkt gegolten, er hatte aber als Arbeiter sein Brot verdienen und noch seine Mutter unterstützen könne». Bis zur Begehung der That hatte er ohne Austand in der mersch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/376>, abgerufen am 02.07.2024.