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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

Augenscheinlich erfordert die Gesellschaftsordnung, daß in beiden Fällen der
gleiche Maßstab angelegt werde, oder wenigstens, wer in die vollen Rechte ein¬
tritt, auch die vollen Pflichten auf sich nehme.*) Mit andern Worten, wessen
Geisteszustand derart ist, daß er bevormundet werden oder bleiben, in der
Freiheit seiner Handlungen also beschränkt werden muß, der darf auch dem
Strafrecht nicht verfallen, das nur die freien Handlungen treffen will. Wer
eines Vormundes nicht bedarf, muß dem Strafrecht unterworfen sein. Eine
verminderte Zurechnungsfähigkeit ist von diesem Standpunkt aus nicht denkbar;
sie würde nur dann in Geltung treten können, wenn mehr als eine Gesellschaft
in Frage käme, d. h. gegenüber bestimmten, an sich ja möglichen Strafmitteln,
wie Verbannung und Deportation. Ein weiteres Eingehen auf diese Gesichts¬
punkte und namentlich die nähere Untersuchung darüber, wie weit der über¬
wiegende Staatsgedanke im römischen Recht dazu führen mußte, daß für die
Zurechnungsfähigkeit auf zivilrechtlichen und strafrechtlichen Gebiete thatsäch¬
lich ein verschiedner Maßstab angelegt worden ist, kann hier füglich unter¬
bleiben. Es genügt den Leser, darauf vorbereitet zu haben, daß die Zurech'
nungsfähigkeitsfrage auch ganz anders lauten könnte, als sie im 5)1. Paragraphen
des deutschen Strafgesetzbuches gefaßt ist; sie könnte nämlich lauten: "Gehört
der Mensch, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, in die Gesellschaft
oder nicht? Ist es nicht vielleicht nach dem Maße seiner geistigen Begabung
sein gutes Recht, bestraft zu werden?"

Wenden wir uns aber der besondern uns obliegenden Aufgabe zu, zwischen
Schwachsinn hohen Grades und niedern Grades zu unterscheiden, so wird es
nun der Leser verstehen, wenn wir vorschlagen, als Schwachsinn hohen Grades
den zu betrachten, der nicht gesellschaftsfähig ist, als Schwachsinn niedern
Grades den, der noch innerhalb der Gesellschaft bestehen kann. Natürlich giebt
es anch hier Gegensätze. Die beiden äußersten Grenzen werden einerseits durch
solche Schwachsinnige dargestellt, bei denen die Anstaltsversvrgung in Jdioten-
anstalten n. dergl. in. erforderlich ist, anderseits von solchen, die es trotz anerkannter
Beschränktheit bis zu einem selbständigen bürgerlichen Dasein gebracht haben.

Dazwischen besteht eine Stufenleiter der verschiedensten Grade. Liegt denn
aber hier uicht dieselbe Schwierigkeit vor, wird man fragen, eine Grenzlinie
ziehen zu müssen, die in der Natur nicht vorhanden ist und nicht vorhanden
sein kann? Darauf kann man antworten: Für die Gesellschaftsfähigkeit giebt
es bereits eine Regel, die äußerst glücklich gefaßt ist und sich durchaus
bewährt hat, wenn sie auch bisher mir auf zivilrechtlichen Gebiet Anwendung
gefunden hat.

Es ist die in. Landrecht enthaltene Bestimmung über die Entmündigung



Das Umgekehrte, daß nämlich der dem Strafrecht unterworfene auch alle bürgerlichen
".'echte habe, ist offenbar für die Gesellschaft nicht in gleicher Weise unumgänglich.
Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

Augenscheinlich erfordert die Gesellschaftsordnung, daß in beiden Fällen der
gleiche Maßstab angelegt werde, oder wenigstens, wer in die vollen Rechte ein¬
tritt, auch die vollen Pflichten auf sich nehme.*) Mit andern Worten, wessen
Geisteszustand derart ist, daß er bevormundet werden oder bleiben, in der
Freiheit seiner Handlungen also beschränkt werden muß, der darf auch dem
Strafrecht nicht verfallen, das nur die freien Handlungen treffen will. Wer
eines Vormundes nicht bedarf, muß dem Strafrecht unterworfen sein. Eine
verminderte Zurechnungsfähigkeit ist von diesem Standpunkt aus nicht denkbar;
sie würde nur dann in Geltung treten können, wenn mehr als eine Gesellschaft
in Frage käme, d. h. gegenüber bestimmten, an sich ja möglichen Strafmitteln,
wie Verbannung und Deportation. Ein weiteres Eingehen auf diese Gesichts¬
punkte und namentlich die nähere Untersuchung darüber, wie weit der über¬
wiegende Staatsgedanke im römischen Recht dazu führen mußte, daß für die
Zurechnungsfähigkeit auf zivilrechtlichen und strafrechtlichen Gebiete thatsäch¬
lich ein verschiedner Maßstab angelegt worden ist, kann hier füglich unter¬
bleiben. Es genügt den Leser, darauf vorbereitet zu haben, daß die Zurech'
nungsfähigkeitsfrage auch ganz anders lauten könnte, als sie im 5)1. Paragraphen
des deutschen Strafgesetzbuches gefaßt ist; sie könnte nämlich lauten: „Gehört
der Mensch, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, in die Gesellschaft
oder nicht? Ist es nicht vielleicht nach dem Maße seiner geistigen Begabung
sein gutes Recht, bestraft zu werden?"

Wenden wir uns aber der besondern uns obliegenden Aufgabe zu, zwischen
Schwachsinn hohen Grades und niedern Grades zu unterscheiden, so wird es
nun der Leser verstehen, wenn wir vorschlagen, als Schwachsinn hohen Grades
den zu betrachten, der nicht gesellschaftsfähig ist, als Schwachsinn niedern
Grades den, der noch innerhalb der Gesellschaft bestehen kann. Natürlich giebt
es anch hier Gegensätze. Die beiden äußersten Grenzen werden einerseits durch
solche Schwachsinnige dargestellt, bei denen die Anstaltsversvrgung in Jdioten-
anstalten n. dergl. in. erforderlich ist, anderseits von solchen, die es trotz anerkannter
Beschränktheit bis zu einem selbständigen bürgerlichen Dasein gebracht haben.

Dazwischen besteht eine Stufenleiter der verschiedensten Grade. Liegt denn
aber hier uicht dieselbe Schwierigkeit vor, wird man fragen, eine Grenzlinie
ziehen zu müssen, die in der Natur nicht vorhanden ist und nicht vorhanden
sein kann? Darauf kann man antworten: Für die Gesellschaftsfähigkeit giebt
es bereits eine Regel, die äußerst glücklich gefaßt ist und sich durchaus
bewährt hat, wenn sie auch bisher mir auf zivilrechtlichen Gebiet Anwendung
gefunden hat.

Es ist die in. Landrecht enthaltene Bestimmung über die Entmündigung



Das Umgekehrte, daß nämlich der dem Strafrecht unterworfene auch alle bürgerlichen
».'echte habe, ist offenbar für die Gesellschaft nicht in gleicher Weise unumgänglich.
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[0375] Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht Augenscheinlich erfordert die Gesellschaftsordnung, daß in beiden Fällen der gleiche Maßstab angelegt werde, oder wenigstens, wer in die vollen Rechte ein¬ tritt, auch die vollen Pflichten auf sich nehme.*) Mit andern Worten, wessen Geisteszustand derart ist, daß er bevormundet werden oder bleiben, in der Freiheit seiner Handlungen also beschränkt werden muß, der darf auch dem Strafrecht nicht verfallen, das nur die freien Handlungen treffen will. Wer eines Vormundes nicht bedarf, muß dem Strafrecht unterworfen sein. Eine verminderte Zurechnungsfähigkeit ist von diesem Standpunkt aus nicht denkbar; sie würde nur dann in Geltung treten können, wenn mehr als eine Gesellschaft in Frage käme, d. h. gegenüber bestimmten, an sich ja möglichen Strafmitteln, wie Verbannung und Deportation. Ein weiteres Eingehen auf diese Gesichts¬ punkte und namentlich die nähere Untersuchung darüber, wie weit der über¬ wiegende Staatsgedanke im römischen Recht dazu führen mußte, daß für die Zurechnungsfähigkeit auf zivilrechtlichen und strafrechtlichen Gebiete thatsäch¬ lich ein verschiedner Maßstab angelegt worden ist, kann hier füglich unter¬ bleiben. Es genügt den Leser, darauf vorbereitet zu haben, daß die Zurech' nungsfähigkeitsfrage auch ganz anders lauten könnte, als sie im 5)1. Paragraphen des deutschen Strafgesetzbuches gefaßt ist; sie könnte nämlich lauten: „Gehört der Mensch, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, in die Gesellschaft oder nicht? Ist es nicht vielleicht nach dem Maße seiner geistigen Begabung sein gutes Recht, bestraft zu werden?" Wenden wir uns aber der besondern uns obliegenden Aufgabe zu, zwischen Schwachsinn hohen Grades und niedern Grades zu unterscheiden, so wird es nun der Leser verstehen, wenn wir vorschlagen, als Schwachsinn hohen Grades den zu betrachten, der nicht gesellschaftsfähig ist, als Schwachsinn niedern Grades den, der noch innerhalb der Gesellschaft bestehen kann. Natürlich giebt es anch hier Gegensätze. Die beiden äußersten Grenzen werden einerseits durch solche Schwachsinnige dargestellt, bei denen die Anstaltsversvrgung in Jdioten- anstalten n. dergl. in. erforderlich ist, anderseits von solchen, die es trotz anerkannter Beschränktheit bis zu einem selbständigen bürgerlichen Dasein gebracht haben. Dazwischen besteht eine Stufenleiter der verschiedensten Grade. Liegt denn aber hier uicht dieselbe Schwierigkeit vor, wird man fragen, eine Grenzlinie ziehen zu müssen, die in der Natur nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann? Darauf kann man antworten: Für die Gesellschaftsfähigkeit giebt es bereits eine Regel, die äußerst glücklich gefaßt ist und sich durchaus bewährt hat, wenn sie auch bisher mir auf zivilrechtlichen Gebiet Anwendung gefunden hat. Es ist die in. Landrecht enthaltene Bestimmung über die Entmündigung Das Umgekehrte, daß nämlich der dem Strafrecht unterworfene auch alle bürgerlichen ».'echte habe, ist offenbar für die Gesellschaft nicht in gleicher Weise unumgänglich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/375>, abgerufen am 02.07.2024.