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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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schärft Scheidung für die notwendige Folge des Rechtsprinzips halten müssen.
Es ist dann in neuester Zeit versucht worden, unter Anpassung an die bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen demselben Prinzip der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit dadurch Eingang zu verschaffen, daß man für Zuerkennung mildernder
Umstände in einschlägigen Fällen platirt hat, da aber diese im Gesetze nicht
durchweg vorgesehen sind, die allgemeine Zulassung mildernder Umstände bei
allen Verbrechen befürwortet hat. Von meinem Standpunkt aus kann ich in
alledem keine Hilfe erblicken. Richter und Sachverständige werden sich der ganz
bestimmten Grenzbeftimmnng, ob Schwachsinn hohen Grades oder niedern Grades
im Sinne des Gesetzes vorliegt, nicht entziehen dürfen, zumal da ihnen, wie
ich zeigen werde, Hilfsmittel, die für die meisten Fälle ausreichen, schon durch
das geltende Recht in die Hand gegeben werden.

Vorher noch eine kurze Abschweifung. Bei allein Respekt vor dem historisch
gewordene!?, zumal dem Ergebnis einer vielhundertjährigen Kulturarbeit, wie
es sich im römischen Recht verkörpert, wird es doch gestattet sein, unser heutiges
Recht auch von einem weniger voreingenommeuen, mehr naturwissenschaftlichen
Standpunkt aus zu betrachten. Durchdringen doch die Naturwissenschaft
und ihre praktischen Errungenschaften unser modernes Leben in einem nie
geahnten Maße, sodaß einer der berufensten Vertreter dieser Wissenschaft unser
Zeitalter als das nnturwisfeuschaftliche Jahrhundert feiern zu müssen geglaubt
hat. Gerade das Recht aber mit seinen vielfachen Berührungen mit Sitte und
Volksgebrauch wird durch das Zeitalter beeinflußt. Wir sprechen von einem
Rechte, das weder römisch noch deutsch ist, noch modernes napoleonisches
Recht, auch nicht jenes absolute Recht, das sich immer verflüchtigt, sobald es
in die Praxis übergeführt werden soll, sondern von demjenigen Rechtsbewußt-
sein, das jedes Zeitalter für sich in Anspruch nehmen muß. Und so erscheint
es uur selbstverständlich, daß unsre Zeit, so wie sie ist, mit dein festgefügten
Staate, mit der Gleichheit der Einzelwesen vor dem Gesetz, mit dem weitge-
getriebenen Maße persönlicher Freiheit und dementsprechend gesteigerten
Bedürfnis nach fester Gesellschaftsordnung ihr eignes von dem aller ander"
Zeiten verschiednes Rechtsgefühl erzeugt. Geht man diesem auf den Grund,
so erkennt man Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als seine Grundlagen.
An die Stelle von recht und unrecht tritt sozial und antisozial. Was
darf nicht geschehen, fragt in diesem Sinne das Strafrecht, damit die Gesell¬
schaft und der Einzelne vor der Willkür gesellschaftsfeindlicher Elemente geschlitzt
bleibe? Was alles darf und wie soll es geschehen, fragt das Zivilrecht, damit
jedes Mitglied der Gesellschaft ihrer Vorteile möglichst teilhaftig werde? Und
so wird die Zurechnungsfähigkeit ein Zweckmäßigkeitsbegriff, indem er einer¬
seits den Geisteszustand feststellt, der als Vorbedingung erachtet wird, um die
Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits jenen Zustand, wo der Einzelne
die Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen muß.


schärft Scheidung für die notwendige Folge des Rechtsprinzips halten müssen.
Es ist dann in neuester Zeit versucht worden, unter Anpassung an die bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen demselben Prinzip der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit dadurch Eingang zu verschaffen, daß man für Zuerkennung mildernder
Umstände in einschlägigen Fällen platirt hat, da aber diese im Gesetze nicht
durchweg vorgesehen sind, die allgemeine Zulassung mildernder Umstände bei
allen Verbrechen befürwortet hat. Von meinem Standpunkt aus kann ich in
alledem keine Hilfe erblicken. Richter und Sachverständige werden sich der ganz
bestimmten Grenzbeftimmnng, ob Schwachsinn hohen Grades oder niedern Grades
im Sinne des Gesetzes vorliegt, nicht entziehen dürfen, zumal da ihnen, wie
ich zeigen werde, Hilfsmittel, die für die meisten Fälle ausreichen, schon durch
das geltende Recht in die Hand gegeben werden.

Vorher noch eine kurze Abschweifung. Bei allein Respekt vor dem historisch
gewordene!?, zumal dem Ergebnis einer vielhundertjährigen Kulturarbeit, wie
es sich im römischen Recht verkörpert, wird es doch gestattet sein, unser heutiges
Recht auch von einem weniger voreingenommeuen, mehr naturwissenschaftlichen
Standpunkt aus zu betrachten. Durchdringen doch die Naturwissenschaft
und ihre praktischen Errungenschaften unser modernes Leben in einem nie
geahnten Maße, sodaß einer der berufensten Vertreter dieser Wissenschaft unser
Zeitalter als das nnturwisfeuschaftliche Jahrhundert feiern zu müssen geglaubt
hat. Gerade das Recht aber mit seinen vielfachen Berührungen mit Sitte und
Volksgebrauch wird durch das Zeitalter beeinflußt. Wir sprechen von einem
Rechte, das weder römisch noch deutsch ist, noch modernes napoleonisches
Recht, auch nicht jenes absolute Recht, das sich immer verflüchtigt, sobald es
in die Praxis übergeführt werden soll, sondern von demjenigen Rechtsbewußt-
sein, das jedes Zeitalter für sich in Anspruch nehmen muß. Und so erscheint
es uur selbstverständlich, daß unsre Zeit, so wie sie ist, mit dein festgefügten
Staate, mit der Gleichheit der Einzelwesen vor dem Gesetz, mit dem weitge-
getriebenen Maße persönlicher Freiheit und dementsprechend gesteigerten
Bedürfnis nach fester Gesellschaftsordnung ihr eignes von dem aller ander»
Zeiten verschiednes Rechtsgefühl erzeugt. Geht man diesem auf den Grund,
so erkennt man Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als seine Grundlagen.
An die Stelle von recht und unrecht tritt sozial und antisozial. Was
darf nicht geschehen, fragt in diesem Sinne das Strafrecht, damit die Gesell¬
schaft und der Einzelne vor der Willkür gesellschaftsfeindlicher Elemente geschlitzt
bleibe? Was alles darf und wie soll es geschehen, fragt das Zivilrecht, damit
jedes Mitglied der Gesellschaft ihrer Vorteile möglichst teilhaftig werde? Und
so wird die Zurechnungsfähigkeit ein Zweckmäßigkeitsbegriff, indem er einer¬
seits den Geisteszustand feststellt, der als Vorbedingung erachtet wird, um die
Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits jenen Zustand, wo der Einzelne
die Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen muß.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/374>, abgerufen am 02.07.2024.