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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

ist. Beruht sie dagegen auf mangelhafter Erziehung, auf Vernachlässigung und
Verwilderung, so kann sie höchstens eine geminderte Zurechnung motivire".
Deal das Unterscheidungsvermögen zwischen Gutem und Bösem und die
Willensfreiheit werden dadurch nicht völlig aufgehoben," Für die Handhabung
des Gesetzes ist diese Motivirung, wie allseitig anerkannt wurden ist, nicht ver¬
bindlich, Sie ist aber auch in sich vollständig unhaltbar. In juristischem
Sinne dürfte es nicht darauf ankommen, wenn die mangelhafte geistige Ent
Wicklung einem hohen Defektznstande entspricht, aus welchen Ursachen sie ent-
standen sein mag. Es kommt nur darauf an, ob ein so großer Maugel vor-
Handen ist oder nicht. Überdies ist dabei von dem Begriffe der geminderten
Zurechnungsfühigkeit Gebrauch gemacht', den das Gesetz nicht kennt, und den
man damals absichtlich nicht in das Gesetz eingefügt hat. Der Schlußsatz
aber ist wohl überhaupt uur Phrase. In medizinischem Sinne stellt diese
Motivirung eine nicht weniger unhaltbare Unterscheidung aus, die sich leider
dnrch das hohe Ansehen der Stelle, von der sie ausgegangen ist, allgemeinere
Geltung verschafft und dadurch schou manches Unheil angerichtet hat. Statt
nämlich die allein dem Rechtsgefühl entsprechende Unterscheidung von Schwach¬
sinn hohen und Schwachsinn geringen Grades zu machen, wird hier der
Schwachsinn infolge krankhafter Störung und der Schwachsinn ohne dieses
Merkmal unterschieden. Wissenschaftlich mag eine solche Unterscheidung gerecht¬
fertigt sein, denn die Erfahrung lehrt, daß ein Teil der von Geburt an schwach¬
sinnigen auch mit andern Gebrechen behaftet ist, die auf eine krankhafte Gehirn¬
entwicklung hinweisen. So sind viele auch gelähmt, mit Unregelmäßigkeit der
Sinne behaftet, epileptisch, oder sie zeigen Abweichungen des Schädelskeletts,
oder sonstige Mißbildungen und "Degenerationszeichen." Wenn die genannten
Fälle immer zugleich die besonders hohen Grade des Schwachsinns aus¬
machten, dann wären solche objektiv auffindbare Merkmale gewiß von schwer¬
wiegender Bedeutung, Aber leider ist dies nicht der Fall, sondern diese Be¬
gleiterscheinungen, die die "krankhafte Störung" im Sinne der wissenschaftlichen
Deputation begründe" würden, sind ebenso oft den Fällen eines geringen als
denen eines hohen Grades von Schwachsinn eigen. Deshalb ist die an die
Hand gegebene Norm juristisch schlechterdings unbrauchbar, und es bleibt die
Schwierigkeit bestehn, eine unserm Rechtsgefühl entsprechende Grenze nach dem
Grade des Schwachsinus festzusetzen.

Die Mehrzahl meiner Fachgenvsseii kann es nicht genng beklagen, daß
ihnen dieser Schwierigkeit gegenüber ein Ausweg verschlossen wird, den sie
für besonders glücklich und geeignet halten, nämlich die Möglichkeit, sich für
eine Verminderung der Znrechnungssühigkeit auszusprechen. Wie schon ange¬
deutet, erkennt das geltende Recht diesen Begriff nicht an und stellt Richter
und Sachverständige mir vor die Wahl: zurechnungsfähig oder nicht- Wir
kommen darauf noch zurück, betonen aber schon hier, daß wir gerade diese


Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

ist. Beruht sie dagegen auf mangelhafter Erziehung, auf Vernachlässigung und
Verwilderung, so kann sie höchstens eine geminderte Zurechnung motivire».
Deal das Unterscheidungsvermögen zwischen Gutem und Bösem und die
Willensfreiheit werden dadurch nicht völlig aufgehoben," Für die Handhabung
des Gesetzes ist diese Motivirung, wie allseitig anerkannt wurden ist, nicht ver¬
bindlich, Sie ist aber auch in sich vollständig unhaltbar. In juristischem
Sinne dürfte es nicht darauf ankommen, wenn die mangelhafte geistige Ent
Wicklung einem hohen Defektznstande entspricht, aus welchen Ursachen sie ent-
standen sein mag. Es kommt nur darauf an, ob ein so großer Maugel vor-
Handen ist oder nicht. Überdies ist dabei von dem Begriffe der geminderten
Zurechnungsfühigkeit Gebrauch gemacht', den das Gesetz nicht kennt, und den
man damals absichtlich nicht in das Gesetz eingefügt hat. Der Schlußsatz
aber ist wohl überhaupt uur Phrase. In medizinischem Sinne stellt diese
Motivirung eine nicht weniger unhaltbare Unterscheidung aus, die sich leider
dnrch das hohe Ansehen der Stelle, von der sie ausgegangen ist, allgemeinere
Geltung verschafft und dadurch schou manches Unheil angerichtet hat. Statt
nämlich die allein dem Rechtsgefühl entsprechende Unterscheidung von Schwach¬
sinn hohen und Schwachsinn geringen Grades zu machen, wird hier der
Schwachsinn infolge krankhafter Störung und der Schwachsinn ohne dieses
Merkmal unterschieden. Wissenschaftlich mag eine solche Unterscheidung gerecht¬
fertigt sein, denn die Erfahrung lehrt, daß ein Teil der von Geburt an schwach¬
sinnigen auch mit andern Gebrechen behaftet ist, die auf eine krankhafte Gehirn¬
entwicklung hinweisen. So sind viele auch gelähmt, mit Unregelmäßigkeit der
Sinne behaftet, epileptisch, oder sie zeigen Abweichungen des Schädelskeletts,
oder sonstige Mißbildungen und „Degenerationszeichen." Wenn die genannten
Fälle immer zugleich die besonders hohen Grade des Schwachsinns aus¬
machten, dann wären solche objektiv auffindbare Merkmale gewiß von schwer¬
wiegender Bedeutung, Aber leider ist dies nicht der Fall, sondern diese Be¬
gleiterscheinungen, die die „krankhafte Störung" im Sinne der wissenschaftlichen
Deputation begründe» würden, sind ebenso oft den Fällen eines geringen als
denen eines hohen Grades von Schwachsinn eigen. Deshalb ist die an die
Hand gegebene Norm juristisch schlechterdings unbrauchbar, und es bleibt die
Schwierigkeit bestehn, eine unserm Rechtsgefühl entsprechende Grenze nach dem
Grade des Schwachsinus festzusetzen.

Die Mehrzahl meiner Fachgenvsseii kann es nicht genng beklagen, daß
ihnen dieser Schwierigkeit gegenüber ein Ausweg verschlossen wird, den sie
für besonders glücklich und geeignet halten, nämlich die Möglichkeit, sich für
eine Verminderung der Znrechnungssühigkeit auszusprechen. Wie schon ange¬
deutet, erkennt das geltende Recht diesen Begriff nicht an und stellt Richter
und Sachverständige mir vor die Wahl: zurechnungsfähig oder nicht- Wir
kommen darauf noch zurück, betonen aber schon hier, daß wir gerade diese


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/373>, abgerufen am 30.06.2024.