Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

Anders verhält es sich dagegen mit den Defektzuständen auf geistigem
Gebiet, mögen sie nun angeboren oder erworben sein. Hier findet die An¬
wendung des Gesetzes wesentliche, in der Sache begründete Schwierigkeiten.
Ist ein Mann, der ein Vellt verloren hat oder dem von Geburt an ein
Glied, ein Sinnesorgan fehlt, ohne daß sonst seine Gesundheit Schaden gelitten
hat, krank zu nennen oder nicht? Darüber kann man verschiedner Meinung sein.
Dieselbe Schwierigkeit bietet sich der Beurteilung im Falle geistiger Mängel,
wo also nicht eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im eigentlichen
Sinne des Wortes vorliegt, sondern eine Verminderung, ein Maugel, mit einem
Wort: bei deu nach medizinischem Sprachgebrauche schwachsinnigen. So viel
sagt uns freilich der gesunde Menschenverstand, daß nach der Absicht des Ge¬
setzgebers die hohen' und höchsten Grade des Schwachsinns ohne Zweifel als
Zustünde krankhafter Störung der Geistesthütigkeit betrachtet werden sollen.
Wenn auch nicht die Krankheit nach ärztlichem Begriffe, so ist doch das von
der Regel abweichende in diesen Fällen schon für jeden Laien augenfällig.
Wie aber steht es mit den geringeren Graden von Schwachsinn, die ohne scharfe
Grenzen in die landläufigen Begriffe der Thorheit und der handgreifliche"
Dummheit übergehen? In medizinischem Sinne ist es nicht zweifelhaft, daß
auch der anerkannte Dummkopf zu deu Schwachsinnigen gehört, und jedenfalls
ist eine Grenze, die die geringern Grade des ärztlich so bezeichneten Schwach
sinus von der Dummheit scheidet, auf keine Weise aufzufinden. Soll nun,
wenn man den Schwachsinn an sich als Zustand krankhafter Störung der
Geistesthätigkeit betrachtet, jeder anerkanntermaßen Dumme bei Verbrechen straf¬
frei ausgehen? Daß das Gesetz unmöglich diesen Sinn haben könne, liegt auf
der Hand, ebenso wie auch der Wortlaut des 51. Paragraphen nur sehr ge¬
zwungen so gedentet werden könnte. Es ist eben unbestreitbar, daß hier eine
Art von Lücke im Gesetz besteht, und daß es notwendig sein wird, hohe Grade
des Schwachsinns und niedrige Grade davon im Sinne des Gesetzes zu unter¬
scheiden. Diese Unterscheidung selbst aber wird nach gesetzlicher Vorschrift
ebensowohl Aufgabe des Richters als des ärztlichen Sachverständigen sein;
sie zu erleichtern und zu zeigen, wie sie gelöst werden kann, ohne daß man
den schwankenden Boden von Rechtsanschauungen einer ungewissen Zukunft
betritt, sind die folgenden Zeilen bestimmt.

Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist schon zur Zeit der Entstehung
des deutschen Strafgesetzbuches der hohen medizinischen Instanz nicht entgangen,
die an der endgiltigen Fassung des Paragraphen beteiligt war. In den Mo¬
tiven zu dem Gesetzentwurfe, die dem Reichstage seiner Zeit vorgelegt wurden,
befand sich (Anlage 3, S. 23) auch ein Gutachten der tgi. preußischen wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen. Dort heißt es: "Was die
mangelhafte geistige Entwicklung betrifft, so truü sie mir dann die Zurechnungs¬
fähigkeit ganz ausschließen, wenn sie aus einer krankhaften Störung zu erklären


Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht

Anders verhält es sich dagegen mit den Defektzuständen auf geistigem
Gebiet, mögen sie nun angeboren oder erworben sein. Hier findet die An¬
wendung des Gesetzes wesentliche, in der Sache begründete Schwierigkeiten.
Ist ein Mann, der ein Vellt verloren hat oder dem von Geburt an ein
Glied, ein Sinnesorgan fehlt, ohne daß sonst seine Gesundheit Schaden gelitten
hat, krank zu nennen oder nicht? Darüber kann man verschiedner Meinung sein.
Dieselbe Schwierigkeit bietet sich der Beurteilung im Falle geistiger Mängel,
wo also nicht eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im eigentlichen
Sinne des Wortes vorliegt, sondern eine Verminderung, ein Maugel, mit einem
Wort: bei deu nach medizinischem Sprachgebrauche schwachsinnigen. So viel
sagt uns freilich der gesunde Menschenverstand, daß nach der Absicht des Ge¬
setzgebers die hohen' und höchsten Grade des Schwachsinns ohne Zweifel als
Zustünde krankhafter Störung der Geistesthütigkeit betrachtet werden sollen.
Wenn auch nicht die Krankheit nach ärztlichem Begriffe, so ist doch das von
der Regel abweichende in diesen Fällen schon für jeden Laien augenfällig.
Wie aber steht es mit den geringeren Graden von Schwachsinn, die ohne scharfe
Grenzen in die landläufigen Begriffe der Thorheit und der handgreifliche»
Dummheit übergehen? In medizinischem Sinne ist es nicht zweifelhaft, daß
auch der anerkannte Dummkopf zu deu Schwachsinnigen gehört, und jedenfalls
ist eine Grenze, die die geringern Grade des ärztlich so bezeichneten Schwach
sinus von der Dummheit scheidet, auf keine Weise aufzufinden. Soll nun,
wenn man den Schwachsinn an sich als Zustand krankhafter Störung der
Geistesthätigkeit betrachtet, jeder anerkanntermaßen Dumme bei Verbrechen straf¬
frei ausgehen? Daß das Gesetz unmöglich diesen Sinn haben könne, liegt auf
der Hand, ebenso wie auch der Wortlaut des 51. Paragraphen nur sehr ge¬
zwungen so gedentet werden könnte. Es ist eben unbestreitbar, daß hier eine
Art von Lücke im Gesetz besteht, und daß es notwendig sein wird, hohe Grade
des Schwachsinns und niedrige Grade davon im Sinne des Gesetzes zu unter¬
scheiden. Diese Unterscheidung selbst aber wird nach gesetzlicher Vorschrift
ebensowohl Aufgabe des Richters als des ärztlichen Sachverständigen sein;
sie zu erleichtern und zu zeigen, wie sie gelöst werden kann, ohne daß man
den schwankenden Boden von Rechtsanschauungen einer ungewissen Zukunft
betritt, sind die folgenden Zeilen bestimmt.

Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist schon zur Zeit der Entstehung
des deutschen Strafgesetzbuches der hohen medizinischen Instanz nicht entgangen,
die an der endgiltigen Fassung des Paragraphen beteiligt war. In den Mo¬
tiven zu dem Gesetzentwurfe, die dem Reichstage seiner Zeit vorgelegt wurden,
befand sich (Anlage 3, S. 23) auch ein Gutachten der tgi. preußischen wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen. Dort heißt es: „Was die
mangelhafte geistige Entwicklung betrifft, so truü sie mir dann die Zurechnungs¬
fähigkeit ganz ausschließen, wenn sie aus einer krankhaften Störung zu erklären


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0372" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206371"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1278"> Anders verhält es sich dagegen mit den Defektzuständen auf geistigem<lb/>
Gebiet, mögen sie nun angeboren oder erworben sein. Hier findet die An¬<lb/>
wendung des Gesetzes wesentliche, in der Sache begründete Schwierigkeiten.<lb/>
Ist ein Mann, der ein Vellt verloren hat oder dem von Geburt an ein<lb/>
Glied, ein Sinnesorgan fehlt, ohne daß sonst seine Gesundheit Schaden gelitten<lb/>
hat, krank zu nennen oder nicht? Darüber kann man verschiedner Meinung sein.<lb/>
Dieselbe Schwierigkeit bietet sich der Beurteilung im Falle geistiger Mängel,<lb/>
wo also nicht eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im eigentlichen<lb/>
Sinne des Wortes vorliegt, sondern eine Verminderung, ein Maugel, mit einem<lb/>
Wort: bei deu nach medizinischem Sprachgebrauche schwachsinnigen. So viel<lb/>
sagt uns freilich der gesunde Menschenverstand, daß nach der Absicht des Ge¬<lb/>
setzgebers die hohen' und höchsten Grade des Schwachsinns ohne Zweifel als<lb/>
Zustünde krankhafter Störung der Geistesthütigkeit betrachtet werden sollen.<lb/>
Wenn auch nicht die Krankheit nach ärztlichem Begriffe, so ist doch das von<lb/>
der Regel abweichende in diesen Fällen schon für jeden Laien augenfällig.<lb/>
Wie aber steht es mit den geringeren Graden von Schwachsinn, die ohne scharfe<lb/>
Grenzen in die landläufigen Begriffe der Thorheit und der handgreifliche»<lb/>
Dummheit übergehen? In medizinischem Sinne ist es nicht zweifelhaft, daß<lb/>
auch der anerkannte Dummkopf zu deu Schwachsinnigen gehört, und jedenfalls<lb/>
ist eine Grenze, die die geringern Grade des ärztlich so bezeichneten Schwach<lb/>
sinus von der Dummheit scheidet, auf keine Weise aufzufinden. Soll nun,<lb/>
wenn man den Schwachsinn an sich als Zustand krankhafter Störung der<lb/>
Geistesthätigkeit betrachtet, jeder anerkanntermaßen Dumme bei Verbrechen straf¬<lb/>
frei ausgehen? Daß das Gesetz unmöglich diesen Sinn haben könne, liegt auf<lb/>
der Hand, ebenso wie auch der Wortlaut des 51. Paragraphen nur sehr ge¬<lb/>
zwungen so gedentet werden könnte. Es ist eben unbestreitbar, daß hier eine<lb/>
Art von Lücke im Gesetz besteht, und daß es notwendig sein wird, hohe Grade<lb/>
des Schwachsinns und niedrige Grade davon im Sinne des Gesetzes zu unter¬<lb/>
scheiden. Diese Unterscheidung selbst aber wird nach gesetzlicher Vorschrift<lb/>
ebensowohl Aufgabe des Richters als des ärztlichen Sachverständigen sein;<lb/>
sie zu erleichtern und zu zeigen, wie sie gelöst werden kann, ohne daß man<lb/>
den schwankenden Boden von Rechtsanschauungen einer ungewissen Zukunft<lb/>
betritt, sind die folgenden Zeilen bestimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1279" next="#ID_1280"> Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist schon zur Zeit der Entstehung<lb/>
des deutschen Strafgesetzbuches der hohen medizinischen Instanz nicht entgangen,<lb/>
die an der endgiltigen Fassung des Paragraphen beteiligt war. In den Mo¬<lb/>
tiven zu dem Gesetzentwurfe, die dem Reichstage seiner Zeit vorgelegt wurden,<lb/>
befand sich (Anlage 3, S. 23) auch ein Gutachten der tgi. preußischen wissen¬<lb/>
schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen. Dort heißt es: &#x201E;Was die<lb/>
mangelhafte geistige Entwicklung betrifft, so truü sie mir dann die Zurechnungs¬<lb/>
fähigkeit ganz ausschließen, wenn sie aus einer krankhaften Störung zu erklären</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0372] Die Zurechnungsfähigkeit nach geltendem Recht Anders verhält es sich dagegen mit den Defektzuständen auf geistigem Gebiet, mögen sie nun angeboren oder erworben sein. Hier findet die An¬ wendung des Gesetzes wesentliche, in der Sache begründete Schwierigkeiten. Ist ein Mann, der ein Vellt verloren hat oder dem von Geburt an ein Glied, ein Sinnesorgan fehlt, ohne daß sonst seine Gesundheit Schaden gelitten hat, krank zu nennen oder nicht? Darüber kann man verschiedner Meinung sein. Dieselbe Schwierigkeit bietet sich der Beurteilung im Falle geistiger Mängel, wo also nicht eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes vorliegt, sondern eine Verminderung, ein Maugel, mit einem Wort: bei deu nach medizinischem Sprachgebrauche schwachsinnigen. So viel sagt uns freilich der gesunde Menschenverstand, daß nach der Absicht des Ge¬ setzgebers die hohen' und höchsten Grade des Schwachsinns ohne Zweifel als Zustünde krankhafter Störung der Geistesthütigkeit betrachtet werden sollen. Wenn auch nicht die Krankheit nach ärztlichem Begriffe, so ist doch das von der Regel abweichende in diesen Fällen schon für jeden Laien augenfällig. Wie aber steht es mit den geringeren Graden von Schwachsinn, die ohne scharfe Grenzen in die landläufigen Begriffe der Thorheit und der handgreifliche» Dummheit übergehen? In medizinischem Sinne ist es nicht zweifelhaft, daß auch der anerkannte Dummkopf zu deu Schwachsinnigen gehört, und jedenfalls ist eine Grenze, die die geringern Grade des ärztlich so bezeichneten Schwach sinus von der Dummheit scheidet, auf keine Weise aufzufinden. Soll nun, wenn man den Schwachsinn an sich als Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit betrachtet, jeder anerkanntermaßen Dumme bei Verbrechen straf¬ frei ausgehen? Daß das Gesetz unmöglich diesen Sinn haben könne, liegt auf der Hand, ebenso wie auch der Wortlaut des 51. Paragraphen nur sehr ge¬ zwungen so gedentet werden könnte. Es ist eben unbestreitbar, daß hier eine Art von Lücke im Gesetz besteht, und daß es notwendig sein wird, hohe Grade des Schwachsinns und niedrige Grade davon im Sinne des Gesetzes zu unter¬ scheiden. Diese Unterscheidung selbst aber wird nach gesetzlicher Vorschrift ebensowohl Aufgabe des Richters als des ärztlichen Sachverständigen sein; sie zu erleichtern und zu zeigen, wie sie gelöst werden kann, ohne daß man den schwankenden Boden von Rechtsanschauungen einer ungewissen Zukunft betritt, sind die folgenden Zeilen bestimmt. Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist schon zur Zeit der Entstehung des deutschen Strafgesetzbuches der hohen medizinischen Instanz nicht entgangen, die an der endgiltigen Fassung des Paragraphen beteiligt war. In den Mo¬ tiven zu dem Gesetzentwurfe, die dem Reichstage seiner Zeit vorgelegt wurden, befand sich (Anlage 3, S. 23) auch ein Gutachten der tgi. preußischen wissen¬ schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen. Dort heißt es: „Was die mangelhafte geistige Entwicklung betrifft, so truü sie mir dann die Zurechnungs¬ fähigkeit ganz ausschließen, wenn sie aus einer krankhaften Störung zu erklären

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/372
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/372>, abgerufen am 28.06.2024.