Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
England und Frankreich am Nil

und auszubauen, den Handelsverkehr in entfernten Gegenden nicht frucht¬
bringend zu gestalten, kurz, uicht zu kolonisiren. Gegenwärtig leidet Tonkin
an den Nachteilen eines Streites zwischen der dortigen Zivilgewalt und der
obersten Militärbehörde, die sich ihr unterordnen soll, aber sich dagegen sträubt,
und sein Handel wird behindert durch Beamtenscherereien und ein Netzwerk
unpraktischer Vorschriften. Es giebt dort wenig französische Ansiedler, nicht
bloß wegen des ungesunden Klimas, sondern auch und mehr noch, weil der
junge Franzose eine Stelle in Paris mit dreitausend Franken jährlich einer
überseeischen vorzuziehen Pflegt, die ihm in wenigen Jahren das zehnfache ein¬
zubringen verspricht, aber freilich eine Art Selbstverbannung bedeutet. Wenn
die Engländer vortreffliche Kolonisatoren sind, so liegt das nicht so sehr darin,
daß sie mehr Verstand besitzen als die Franzosen, sondern in ihrer großen?
Befähigung, ein Leben in der Einsamkeit, ohne Vergnügungen, ohne die Reize
geselligen Verkehrs, voll Mühe, Entsagung und Gefahr zu ertragen, wobei sie
sich mehr auf sich selbst zu verlassen haben als auf Fürsorge und Anleitung
der Behörden. Hätten sich die Engländer von dem Leben in Pakt Malt,
Piceadilly und Regentstreet so sehr angezogen gefühlt wie die Franzosen von
dem auf den Boulevards von Paris und andern ihrer Hauptstädte, so würden
sie nicht im Westen den Grund zu einem großen republikanischen Bundesstaate
gelegt haben, nicht im Osten ein riesenhaftes Kaisertum besitzen und uicht in
Australien blühende Kolonien haben, und so würde ihnen auch ihr jetziger Ein¬
fluß in Ägypten nur insofern nützen, als er ihnen für Kriegsfülle gestattet,
die Hand auf den Kanal zu legen, den die Franzosen in erster Reihe für sie
geschaffen haben.

Der Prinz von Wales hatte bei seiner Reise nach Kairo keinerlei politische
Zwecke vor Augen. Aber seine dortige Anwesenheit erinnerte in Paris wieder
einmal lebhafter an die Veränderung, die sich seit dem Aufstände Arabis in
Ägypten vollzogen hat -- sieben fette und immer fetter werdende Jahre nach
ebenso vielen dürren 1875--1882. Englische Verwaltungsbeamte im Dienste
des Khedive Tewfik, die Offiziere der englischen Besatzung und des englischen
Militärs, welche die umgebildete Armee Ägyptens befehligen, empfingen die
königliche Hoheit aus London. Die hervorragendsten unter den Persönlich¬
keiten, die von der Feierlichkeit fern blieben, waren der französische Konsul
und Mukhtar Pascha, der Vertreter des Sultaus. Auf sie lenkte die Erinnerung
der Welt auch die große Umgestaltung zurück, die Ägypten 1832 zu seinem
Heil erfahren hat. Die Dvppelkontrole, die in jenem Jahre plötzlich erlosch,
war ein ebenso verwickeltes als kostspieliges Stück politischer Maschinerie, die
zur Grundlage den Gedanken der Gleichberechtigung Frankreichs und Englands
in der Anssciugung der Ägypter hatte. Auf verschiednen Posten, wo am besten
ein Beamter diese Arbeit verrichtet hätte, wie eine Kuh am besten von einer
Person gemolken wird, waren zwei neben einander, jeder mit derselben Geltung


England und Frankreich am Nil

und auszubauen, den Handelsverkehr in entfernten Gegenden nicht frucht¬
bringend zu gestalten, kurz, uicht zu kolonisiren. Gegenwärtig leidet Tonkin
an den Nachteilen eines Streites zwischen der dortigen Zivilgewalt und der
obersten Militärbehörde, die sich ihr unterordnen soll, aber sich dagegen sträubt,
und sein Handel wird behindert durch Beamtenscherereien und ein Netzwerk
unpraktischer Vorschriften. Es giebt dort wenig französische Ansiedler, nicht
bloß wegen des ungesunden Klimas, sondern auch und mehr noch, weil der
junge Franzose eine Stelle in Paris mit dreitausend Franken jährlich einer
überseeischen vorzuziehen Pflegt, die ihm in wenigen Jahren das zehnfache ein¬
zubringen verspricht, aber freilich eine Art Selbstverbannung bedeutet. Wenn
die Engländer vortreffliche Kolonisatoren sind, so liegt das nicht so sehr darin,
daß sie mehr Verstand besitzen als die Franzosen, sondern in ihrer großen?
Befähigung, ein Leben in der Einsamkeit, ohne Vergnügungen, ohne die Reize
geselligen Verkehrs, voll Mühe, Entsagung und Gefahr zu ertragen, wobei sie
sich mehr auf sich selbst zu verlassen haben als auf Fürsorge und Anleitung
der Behörden. Hätten sich die Engländer von dem Leben in Pakt Malt,
Piceadilly und Regentstreet so sehr angezogen gefühlt wie die Franzosen von
dem auf den Boulevards von Paris und andern ihrer Hauptstädte, so würden
sie nicht im Westen den Grund zu einem großen republikanischen Bundesstaate
gelegt haben, nicht im Osten ein riesenhaftes Kaisertum besitzen und uicht in
Australien blühende Kolonien haben, und so würde ihnen auch ihr jetziger Ein¬
fluß in Ägypten nur insofern nützen, als er ihnen für Kriegsfülle gestattet,
die Hand auf den Kanal zu legen, den die Franzosen in erster Reihe für sie
geschaffen haben.

Der Prinz von Wales hatte bei seiner Reise nach Kairo keinerlei politische
Zwecke vor Augen. Aber seine dortige Anwesenheit erinnerte in Paris wieder
einmal lebhafter an die Veränderung, die sich seit dem Aufstände Arabis in
Ägypten vollzogen hat — sieben fette und immer fetter werdende Jahre nach
ebenso vielen dürren 1875—1882. Englische Verwaltungsbeamte im Dienste
des Khedive Tewfik, die Offiziere der englischen Besatzung und des englischen
Militärs, welche die umgebildete Armee Ägyptens befehligen, empfingen die
königliche Hoheit aus London. Die hervorragendsten unter den Persönlich¬
keiten, die von der Feierlichkeit fern blieben, waren der französische Konsul
und Mukhtar Pascha, der Vertreter des Sultaus. Auf sie lenkte die Erinnerung
der Welt auch die große Umgestaltung zurück, die Ägypten 1832 zu seinem
Heil erfahren hat. Die Dvppelkontrole, die in jenem Jahre plötzlich erlosch,
war ein ebenso verwickeltes als kostspieliges Stück politischer Maschinerie, die
zur Grundlage den Gedanken der Gleichberechtigung Frankreichs und Englands
in der Anssciugung der Ägypter hatte. Auf verschiednen Posten, wo am besten
ein Beamter diese Arbeit verrichtet hätte, wie eine Kuh am besten von einer
Person gemolken wird, waren zwei neben einander, jeder mit derselben Geltung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0357" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206356"/>
          <fw type="header" place="top"> England und Frankreich am Nil</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1239" prev="#ID_1238"> und auszubauen, den Handelsverkehr in entfernten Gegenden nicht frucht¬<lb/>
bringend zu gestalten, kurz, uicht zu kolonisiren. Gegenwärtig leidet Tonkin<lb/>
an den Nachteilen eines Streites zwischen der dortigen Zivilgewalt und der<lb/>
obersten Militärbehörde, die sich ihr unterordnen soll, aber sich dagegen sträubt,<lb/>
und sein Handel wird behindert durch Beamtenscherereien und ein Netzwerk<lb/>
unpraktischer Vorschriften. Es giebt dort wenig französische Ansiedler, nicht<lb/>
bloß wegen des ungesunden Klimas, sondern auch und mehr noch, weil der<lb/>
junge Franzose eine Stelle in Paris mit dreitausend Franken jährlich einer<lb/>
überseeischen vorzuziehen Pflegt, die ihm in wenigen Jahren das zehnfache ein¬<lb/>
zubringen verspricht, aber freilich eine Art Selbstverbannung bedeutet. Wenn<lb/>
die Engländer vortreffliche Kolonisatoren sind, so liegt das nicht so sehr darin,<lb/>
daß sie mehr Verstand besitzen als die Franzosen, sondern in ihrer großen?<lb/>
Befähigung, ein Leben in der Einsamkeit, ohne Vergnügungen, ohne die Reize<lb/>
geselligen Verkehrs, voll Mühe, Entsagung und Gefahr zu ertragen, wobei sie<lb/>
sich mehr auf sich selbst zu verlassen haben als auf Fürsorge und Anleitung<lb/>
der Behörden. Hätten sich die Engländer von dem Leben in Pakt Malt,<lb/>
Piceadilly und Regentstreet so sehr angezogen gefühlt wie die Franzosen von<lb/>
dem auf den Boulevards von Paris und andern ihrer Hauptstädte, so würden<lb/>
sie nicht im Westen den Grund zu einem großen republikanischen Bundesstaate<lb/>
gelegt haben, nicht im Osten ein riesenhaftes Kaisertum besitzen und uicht in<lb/>
Australien blühende Kolonien haben, und so würde ihnen auch ihr jetziger Ein¬<lb/>
fluß in Ägypten nur insofern nützen, als er ihnen für Kriegsfülle gestattet,<lb/>
die Hand auf den Kanal zu legen, den die Franzosen in erster Reihe für sie<lb/>
geschaffen haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1240" next="#ID_1241"> Der Prinz von Wales hatte bei seiner Reise nach Kairo keinerlei politische<lb/>
Zwecke vor Augen. Aber seine dortige Anwesenheit erinnerte in Paris wieder<lb/>
einmal lebhafter an die Veränderung, die sich seit dem Aufstände Arabis in<lb/>
Ägypten vollzogen hat &#x2014; sieben fette und immer fetter werdende Jahre nach<lb/>
ebenso vielen dürren 1875&#x2014;1882. Englische Verwaltungsbeamte im Dienste<lb/>
des Khedive Tewfik, die Offiziere der englischen Besatzung und des englischen<lb/>
Militärs, welche die umgebildete Armee Ägyptens befehligen, empfingen die<lb/>
königliche Hoheit aus London. Die hervorragendsten unter den Persönlich¬<lb/>
keiten, die von der Feierlichkeit fern blieben, waren der französische Konsul<lb/>
und Mukhtar Pascha, der Vertreter des Sultaus. Auf sie lenkte die Erinnerung<lb/>
der Welt auch die große Umgestaltung zurück, die Ägypten 1832 zu seinem<lb/>
Heil erfahren hat. Die Dvppelkontrole, die in jenem Jahre plötzlich erlosch,<lb/>
war ein ebenso verwickeltes als kostspieliges Stück politischer Maschinerie, die<lb/>
zur Grundlage den Gedanken der Gleichberechtigung Frankreichs und Englands<lb/>
in der Anssciugung der Ägypter hatte. Auf verschiednen Posten, wo am besten<lb/>
ein Beamter diese Arbeit verrichtet hätte, wie eine Kuh am besten von einer<lb/>
Person gemolken wird, waren zwei neben einander, jeder mit derselben Geltung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0357] England und Frankreich am Nil und auszubauen, den Handelsverkehr in entfernten Gegenden nicht frucht¬ bringend zu gestalten, kurz, uicht zu kolonisiren. Gegenwärtig leidet Tonkin an den Nachteilen eines Streites zwischen der dortigen Zivilgewalt und der obersten Militärbehörde, die sich ihr unterordnen soll, aber sich dagegen sträubt, und sein Handel wird behindert durch Beamtenscherereien und ein Netzwerk unpraktischer Vorschriften. Es giebt dort wenig französische Ansiedler, nicht bloß wegen des ungesunden Klimas, sondern auch und mehr noch, weil der junge Franzose eine Stelle in Paris mit dreitausend Franken jährlich einer überseeischen vorzuziehen Pflegt, die ihm in wenigen Jahren das zehnfache ein¬ zubringen verspricht, aber freilich eine Art Selbstverbannung bedeutet. Wenn die Engländer vortreffliche Kolonisatoren sind, so liegt das nicht so sehr darin, daß sie mehr Verstand besitzen als die Franzosen, sondern in ihrer großen? Befähigung, ein Leben in der Einsamkeit, ohne Vergnügungen, ohne die Reize geselligen Verkehrs, voll Mühe, Entsagung und Gefahr zu ertragen, wobei sie sich mehr auf sich selbst zu verlassen haben als auf Fürsorge und Anleitung der Behörden. Hätten sich die Engländer von dem Leben in Pakt Malt, Piceadilly und Regentstreet so sehr angezogen gefühlt wie die Franzosen von dem auf den Boulevards von Paris und andern ihrer Hauptstädte, so würden sie nicht im Westen den Grund zu einem großen republikanischen Bundesstaate gelegt haben, nicht im Osten ein riesenhaftes Kaisertum besitzen und uicht in Australien blühende Kolonien haben, und so würde ihnen auch ihr jetziger Ein¬ fluß in Ägypten nur insofern nützen, als er ihnen für Kriegsfülle gestattet, die Hand auf den Kanal zu legen, den die Franzosen in erster Reihe für sie geschaffen haben. Der Prinz von Wales hatte bei seiner Reise nach Kairo keinerlei politische Zwecke vor Augen. Aber seine dortige Anwesenheit erinnerte in Paris wieder einmal lebhafter an die Veränderung, die sich seit dem Aufstände Arabis in Ägypten vollzogen hat — sieben fette und immer fetter werdende Jahre nach ebenso vielen dürren 1875—1882. Englische Verwaltungsbeamte im Dienste des Khedive Tewfik, die Offiziere der englischen Besatzung und des englischen Militärs, welche die umgebildete Armee Ägyptens befehligen, empfingen die königliche Hoheit aus London. Die hervorragendsten unter den Persönlich¬ keiten, die von der Feierlichkeit fern blieben, waren der französische Konsul und Mukhtar Pascha, der Vertreter des Sultaus. Auf sie lenkte die Erinnerung der Welt auch die große Umgestaltung zurück, die Ägypten 1832 zu seinem Heil erfahren hat. Die Dvppelkontrole, die in jenem Jahre plötzlich erlosch, war ein ebenso verwickeltes als kostspieliges Stück politischer Maschinerie, die zur Grundlage den Gedanken der Gleichberechtigung Frankreichs und Englands in der Anssciugung der Ägypter hatte. Auf verschiednen Posten, wo am besten ein Beamter diese Arbeit verrichtet hätte, wie eine Kuh am besten von einer Person gemolken wird, waren zwei neben einander, jeder mit derselben Geltung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/357
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/357>, abgerufen am 22.12.2024.