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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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zeugen, der eine in dein ergreifenden Gespräch unter dein Galgen von Gellen-
hansen, der andre hauptsächlich im dritten Teil der Erzählung, wo sein Hin¬
gang mit Philipp Reiser dargestellt wird. Auch Uonngs "Nachtgedanken"
finde" eine nachdrückliche Erwähnung. Die Schauspiele, die Reiser besuchte,
hatten meist furchtbare und gräßliche Gegenstände. Auf dem Gebiete der
poetischen Erzählung war u. a. Diderot mit seiner Geschichte I^s clsnx -uniu
<!>-! Uomvonnö zu Gunsten eines modernen Realismus aufgetreten. Neben
den neuzeitlichen Vorbildern wurden aber stets die Alten bewundert. Die
Würdigung Homers ist ein Hnuptverdienst jeuer Tage, und durch die Liebe
zum griechisch-römischen Altertum wurde Moritz schließlich für das Humanitäts¬
ideal gewonnen, das dein goldnen Zeitalter unsrer Litteratur eigentümlich
ist; wobei er übrigens, wie Goethe, Heinse und andre Zeitgenossen, mit
der Liebe zur Dichtkunst ein nicht minder starkes Interesse für die plastische
Kunst verband.

Eine Hauptrolle in Moritzens Bildungsgang spielten "Werthers Leiden."
Dieses Buch mußte auf den empfänglichen Jüngling, dem es bald nach seinem
Erscheinen in die Hände siel, ähnlich wirken, als läse er sein eignes Leben.
Denn wenn auch die Haupthandlung, die Entwicklung des Liebesverhältnisses,
den in solchen Dingen unerfahrenen Schüler kalt ließ, so war doch Werther,
dessen Inneres ja nach allen Richtungen hin dargestellt wird, ganz der Charakter
wie der junge Moritz selbst. Hier wie dort edle Schwärmerei, überquellendes
Gefühl, düstere Schivermut. Zwei ausgeprägte Idealisten, die dem praktischen
Leben abgewendet sind. Was Wunder, wenn Reiser in vielen Äußerlichkeiten
Werthern kopirt, wenn er und Iffland beispielsweise, von Lebensüberdruß
übermannt, ein frevles Pistolenspiel wagen, um ihr Dasein so zu enden, wie
es im Roman vorgezeichnet war! Diese Berührungspunkte und namentlich die
Empfindung der Gleichheit, die Reiser dem. Romanhelden gegenüber habe"
mußte, hat schon Erich Schmidt in seinem Buche "Nichardson, Rousseau,
Goethe") gebührend hervorgehoben. Auch in reifern Jahren kehrte Moritz
immer wieder zu der Lieblingsgestalt seiner Jugend zurück, und wenig fehlte,
se' hatte er ihr eine besondre Schrift gewidmet und das, was ihm so vertraut
war, zum Ausgangspunkte philosophischer und ästhetischer Erörterungen gemacht,
^vn Anton Reiser aber kann man behaupten, daß er Werthers bester Genosse
geblieben ist. Der große Unglückliche hat im Laufe der Zeit ein weiteres
Gefolge nach sich gezogen. Grillparzers armer Spielmann und Gottfried
Kellers grüner Heinrich sind solche Leidensgefährte,,. Aber niemand hat
Moritzen in jener Polhphonie des Seelenlebens übertroffen, die das Haupt¬
merkmal seines Genius ist und den Halbvergessenen noch immer "zeitgemäß"
erscheinen läßt.



Beilage II, S. 289,

zeugen, der eine in dein ergreifenden Gespräch unter dein Galgen von Gellen-
hansen, der andre hauptsächlich im dritten Teil der Erzählung, wo sein Hin¬
gang mit Philipp Reiser dargestellt wird. Auch Uonngs „Nachtgedanken"
finde» eine nachdrückliche Erwähnung. Die Schauspiele, die Reiser besuchte,
hatten meist furchtbare und gräßliche Gegenstände. Auf dem Gebiete der
poetischen Erzählung war u. a. Diderot mit seiner Geschichte I^s clsnx -uniu
<!>-! Uomvonnö zu Gunsten eines modernen Realismus aufgetreten. Neben
den neuzeitlichen Vorbildern wurden aber stets die Alten bewundert. Die
Würdigung Homers ist ein Hnuptverdienst jeuer Tage, und durch die Liebe
zum griechisch-römischen Altertum wurde Moritz schließlich für das Humanitäts¬
ideal gewonnen, das dein goldnen Zeitalter unsrer Litteratur eigentümlich
ist; wobei er übrigens, wie Goethe, Heinse und andre Zeitgenossen, mit
der Liebe zur Dichtkunst ein nicht minder starkes Interesse für die plastische
Kunst verband.

Eine Hauptrolle in Moritzens Bildungsgang spielten „Werthers Leiden."
Dieses Buch mußte auf den empfänglichen Jüngling, dem es bald nach seinem
Erscheinen in die Hände siel, ähnlich wirken, als läse er sein eignes Leben.
Denn wenn auch die Haupthandlung, die Entwicklung des Liebesverhältnisses,
den in solchen Dingen unerfahrenen Schüler kalt ließ, so war doch Werther,
dessen Inneres ja nach allen Richtungen hin dargestellt wird, ganz der Charakter
wie der junge Moritz selbst. Hier wie dort edle Schwärmerei, überquellendes
Gefühl, düstere Schivermut. Zwei ausgeprägte Idealisten, die dem praktischen
Leben abgewendet sind. Was Wunder, wenn Reiser in vielen Äußerlichkeiten
Werthern kopirt, wenn er und Iffland beispielsweise, von Lebensüberdruß
übermannt, ein frevles Pistolenspiel wagen, um ihr Dasein so zu enden, wie
es im Roman vorgezeichnet war! Diese Berührungspunkte und namentlich die
Empfindung der Gleichheit, die Reiser dem. Romanhelden gegenüber habe»
mußte, hat schon Erich Schmidt in seinem Buche „Nichardson, Rousseau,
Goethe") gebührend hervorgehoben. Auch in reifern Jahren kehrte Moritz
immer wieder zu der Lieblingsgestalt seiner Jugend zurück, und wenig fehlte,
se' hatte er ihr eine besondre Schrift gewidmet und das, was ihm so vertraut
war, zum Ausgangspunkte philosophischer und ästhetischer Erörterungen gemacht,
^vn Anton Reiser aber kann man behaupten, daß er Werthers bester Genosse
geblieben ist. Der große Unglückliche hat im Laufe der Zeit ein weiteres
Gefolge nach sich gezogen. Grillparzers armer Spielmann und Gottfried
Kellers grüner Heinrich sind solche Leidensgefährte,,. Aber niemand hat
Moritzen in jener Polhphonie des Seelenlebens übertroffen, die das Haupt¬
merkmal seines Genius ist und den Halbvergessenen noch immer „zeitgemäß"
erscheinen läßt.



Beilage II, S. 289,
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[0287] zeugen, der eine in dein ergreifenden Gespräch unter dein Galgen von Gellen- hansen, der andre hauptsächlich im dritten Teil der Erzählung, wo sein Hin¬ gang mit Philipp Reiser dargestellt wird. Auch Uonngs „Nachtgedanken" finde» eine nachdrückliche Erwähnung. Die Schauspiele, die Reiser besuchte, hatten meist furchtbare und gräßliche Gegenstände. Auf dem Gebiete der poetischen Erzählung war u. a. Diderot mit seiner Geschichte I^s clsnx -uniu <!>-! Uomvonnö zu Gunsten eines modernen Realismus aufgetreten. Neben den neuzeitlichen Vorbildern wurden aber stets die Alten bewundert. Die Würdigung Homers ist ein Hnuptverdienst jeuer Tage, und durch die Liebe zum griechisch-römischen Altertum wurde Moritz schließlich für das Humanitäts¬ ideal gewonnen, das dein goldnen Zeitalter unsrer Litteratur eigentümlich ist; wobei er übrigens, wie Goethe, Heinse und andre Zeitgenossen, mit der Liebe zur Dichtkunst ein nicht minder starkes Interesse für die plastische Kunst verband. Eine Hauptrolle in Moritzens Bildungsgang spielten „Werthers Leiden." Dieses Buch mußte auf den empfänglichen Jüngling, dem es bald nach seinem Erscheinen in die Hände siel, ähnlich wirken, als läse er sein eignes Leben. Denn wenn auch die Haupthandlung, die Entwicklung des Liebesverhältnisses, den in solchen Dingen unerfahrenen Schüler kalt ließ, so war doch Werther, dessen Inneres ja nach allen Richtungen hin dargestellt wird, ganz der Charakter wie der junge Moritz selbst. Hier wie dort edle Schwärmerei, überquellendes Gefühl, düstere Schivermut. Zwei ausgeprägte Idealisten, die dem praktischen Leben abgewendet sind. Was Wunder, wenn Reiser in vielen Äußerlichkeiten Werthern kopirt, wenn er und Iffland beispielsweise, von Lebensüberdruß übermannt, ein frevles Pistolenspiel wagen, um ihr Dasein so zu enden, wie es im Roman vorgezeichnet war! Diese Berührungspunkte und namentlich die Empfindung der Gleichheit, die Reiser dem. Romanhelden gegenüber habe» mußte, hat schon Erich Schmidt in seinem Buche „Nichardson, Rousseau, Goethe") gebührend hervorgehoben. Auch in reifern Jahren kehrte Moritz immer wieder zu der Lieblingsgestalt seiner Jugend zurück, und wenig fehlte, se' hatte er ihr eine besondre Schrift gewidmet und das, was ihm so vertraut war, zum Ausgangspunkte philosophischer und ästhetischer Erörterungen gemacht, ^vn Anton Reiser aber kann man behaupten, daß er Werthers bester Genosse geblieben ist. Der große Unglückliche hat im Laufe der Zeit ein weiteres Gefolge nach sich gezogen. Grillparzers armer Spielmann und Gottfried Kellers grüner Heinrich sind solche Leidensgefährte,,. Aber niemand hat Moritzen in jener Polhphonie des Seelenlebens übertroffen, die das Haupt¬ merkmal seines Genius ist und den Halbvergessenen noch immer „zeitgemäß" erscheinen läßt. Beilage II, S. 289,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/287>, abgerufen am 02.07.2024.