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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

sich nach unsrer Lage der bürgerlichen Verfassung von der Kanzel aus am
besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen
bringen läßt, den wir Volk nennen,"") Bei Reiser ist es namentlich anziehend,
wie seine kindlich überschwängliche Verehrung der Pastoren und ihres Berufes
gelegentlich durch eine neue Leidenschaft, nämlich für das Schanspielwesen,
verdunkelt zu werden droht, sodaß der Jüngling zwischen dem Predigerideal
und dem Schauspielerideal schwankt.

Während der jugendliche Goethe, der waffeugeübte Klinger und mancher
.^rnftapostel jener Tage ans Körperschönheit und würdige äußere Erscheinung
hielten, bleiben derartige Dinge bei deu Moritzscheu Helden unberücksichtigt und
unerwähnt. Der kränkliche Abenteurer, dessen Phhsivgnvinie nichts Anziehendes
hatte, konnte hierin kein Schüler der Griechen werden. Man kann aber, wenn
Reiser gelegentlich in gänzlicher Verkommenheit umherstreift und sich dabei
wünscht, ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein, wiederum an Rousseau denken, der
bei der Beschreibung, wie er zu Lhon im Freien lampirt habe, in seligen
Erinnerungen aufgeht, und der, wenn er seinen simpeln Kopistendienst versah,
innerlich zufrieden und glücklich war. Und wie Rousseau bei der Wahl seiner
Lebensgefährtin zum Proletariat hinabstieg, so hatte Moritz eine Zeit lang den
merkwürdigen Gedanken, in den Waisenhäusern nach einem jungen Mädchen
suchen zu lassen, das er zu seinem Ideal, zur Dankbarkeit und Liebe, erziehen
wollte. Mit solcher Hinneigung zur untern Schicht der Gesellschaft -- einer
Hinneigung, die bei Rousseau zu einem umfassenden sozialen Programm führte --
vertrug sich viel Ehrgeiz und viel Streben nach aufwärts. Schon in Hamanns
Werken "schmeckte alles nach Eitelkeit," und seine Jünger fühlten sich als Über¬
menschen. Welchem Genie haftete schließlich nicht "Eitelkeit, Ichsucht" u. dergl.
an? Moritz war sicherlich nicht der Anspruchsvollste. Aber sein Drang, sich
zu zeigen und zu glänzen, war groß. Deshalb trieb es ihn in der Jngend
unwiderstehlich zur Bühne. Die Schilderung, wie die Theatermanie sich des
zurückgesetzten Primaners bemächtigt, ist der Höhepunkt im "Anton Reiser,"
und man wird, auch wenn man vorher Goethes "Wilhelm Meister" hat auf
sich wirken lassen, die Darlegung Moritzens unvergleichlich treffend finden.
Statt als Mime geehrt zu werden, fand unser Held Schriststellerlorberen und
brauchte diesen Tausch uicht einmal zu beklagen. Er lebte in einem Jahrhundert,
wo das litterarische Getriebe aller Augen auf sich zog und wo übrigens nicht
bloß Effekthascher und Modevirtuosen, sondern anch selbständige ernste Männer,
die zu keiner Koterie gehörten, Leser fanden.

Noch sei auf die Verehrung hingewiesen, die im Zeitalter des Sturmes
und Dranges gewissen Littera'turgrößen der Vergangenheit gezollt wurde.
Hartknopf und Reiser helfen vor allem den damaligen Shatespearelültus be-



Lebensbild I, 2, S. 300.
Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

sich nach unsrer Lage der bürgerlichen Verfassung von der Kanzel aus am
besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen
bringen läßt, den wir Volk nennen,"") Bei Reiser ist es namentlich anziehend,
wie seine kindlich überschwängliche Verehrung der Pastoren und ihres Berufes
gelegentlich durch eine neue Leidenschaft, nämlich für das Schanspielwesen,
verdunkelt zu werden droht, sodaß der Jüngling zwischen dem Predigerideal
und dem Schauspielerideal schwankt.

Während der jugendliche Goethe, der waffeugeübte Klinger und mancher
.^rnftapostel jener Tage ans Körperschönheit und würdige äußere Erscheinung
hielten, bleiben derartige Dinge bei deu Moritzscheu Helden unberücksichtigt und
unerwähnt. Der kränkliche Abenteurer, dessen Phhsivgnvinie nichts Anziehendes
hatte, konnte hierin kein Schüler der Griechen werden. Man kann aber, wenn
Reiser gelegentlich in gänzlicher Verkommenheit umherstreift und sich dabei
wünscht, ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein, wiederum an Rousseau denken, der
bei der Beschreibung, wie er zu Lhon im Freien lampirt habe, in seligen
Erinnerungen aufgeht, und der, wenn er seinen simpeln Kopistendienst versah,
innerlich zufrieden und glücklich war. Und wie Rousseau bei der Wahl seiner
Lebensgefährtin zum Proletariat hinabstieg, so hatte Moritz eine Zeit lang den
merkwürdigen Gedanken, in den Waisenhäusern nach einem jungen Mädchen
suchen zu lassen, das er zu seinem Ideal, zur Dankbarkeit und Liebe, erziehen
wollte. Mit solcher Hinneigung zur untern Schicht der Gesellschaft — einer
Hinneigung, die bei Rousseau zu einem umfassenden sozialen Programm führte —
vertrug sich viel Ehrgeiz und viel Streben nach aufwärts. Schon in Hamanns
Werken „schmeckte alles nach Eitelkeit," und seine Jünger fühlten sich als Über¬
menschen. Welchem Genie haftete schließlich nicht „Eitelkeit, Ichsucht" u. dergl.
an? Moritz war sicherlich nicht der Anspruchsvollste. Aber sein Drang, sich
zu zeigen und zu glänzen, war groß. Deshalb trieb es ihn in der Jngend
unwiderstehlich zur Bühne. Die Schilderung, wie die Theatermanie sich des
zurückgesetzten Primaners bemächtigt, ist der Höhepunkt im „Anton Reiser,"
und man wird, auch wenn man vorher Goethes „Wilhelm Meister" hat auf
sich wirken lassen, die Darlegung Moritzens unvergleichlich treffend finden.
Statt als Mime geehrt zu werden, fand unser Held Schriststellerlorberen und
brauchte diesen Tausch uicht einmal zu beklagen. Er lebte in einem Jahrhundert,
wo das litterarische Getriebe aller Augen auf sich zog und wo übrigens nicht
bloß Effekthascher und Modevirtuosen, sondern anch selbständige ernste Männer,
die zu keiner Koterie gehörten, Leser fanden.

Noch sei auf die Verehrung hingewiesen, die im Zeitalter des Sturmes
und Dranges gewissen Littera'turgrößen der Vergangenheit gezollt wurde.
Hartknopf und Reiser helfen vor allem den damaligen Shatespearelültus be-



Lebensbild I, 2, S. 300.
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[0286] Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller sich nach unsrer Lage der bürgerlichen Verfassung von der Kanzel aus am besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen bringen läßt, den wir Volk nennen,"") Bei Reiser ist es namentlich anziehend, wie seine kindlich überschwängliche Verehrung der Pastoren und ihres Berufes gelegentlich durch eine neue Leidenschaft, nämlich für das Schanspielwesen, verdunkelt zu werden droht, sodaß der Jüngling zwischen dem Predigerideal und dem Schauspielerideal schwankt. Während der jugendliche Goethe, der waffeugeübte Klinger und mancher .^rnftapostel jener Tage ans Körperschönheit und würdige äußere Erscheinung hielten, bleiben derartige Dinge bei deu Moritzscheu Helden unberücksichtigt und unerwähnt. Der kränkliche Abenteurer, dessen Phhsivgnvinie nichts Anziehendes hatte, konnte hierin kein Schüler der Griechen werden. Man kann aber, wenn Reiser gelegentlich in gänzlicher Verkommenheit umherstreift und sich dabei wünscht, ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein, wiederum an Rousseau denken, der bei der Beschreibung, wie er zu Lhon im Freien lampirt habe, in seligen Erinnerungen aufgeht, und der, wenn er seinen simpeln Kopistendienst versah, innerlich zufrieden und glücklich war. Und wie Rousseau bei der Wahl seiner Lebensgefährtin zum Proletariat hinabstieg, so hatte Moritz eine Zeit lang den merkwürdigen Gedanken, in den Waisenhäusern nach einem jungen Mädchen suchen zu lassen, das er zu seinem Ideal, zur Dankbarkeit und Liebe, erziehen wollte. Mit solcher Hinneigung zur untern Schicht der Gesellschaft — einer Hinneigung, die bei Rousseau zu einem umfassenden sozialen Programm führte — vertrug sich viel Ehrgeiz und viel Streben nach aufwärts. Schon in Hamanns Werken „schmeckte alles nach Eitelkeit," und seine Jünger fühlten sich als Über¬ menschen. Welchem Genie haftete schließlich nicht „Eitelkeit, Ichsucht" u. dergl. an? Moritz war sicherlich nicht der Anspruchsvollste. Aber sein Drang, sich zu zeigen und zu glänzen, war groß. Deshalb trieb es ihn in der Jngend unwiderstehlich zur Bühne. Die Schilderung, wie die Theatermanie sich des zurückgesetzten Primaners bemächtigt, ist der Höhepunkt im „Anton Reiser," und man wird, auch wenn man vorher Goethes „Wilhelm Meister" hat auf sich wirken lassen, die Darlegung Moritzens unvergleichlich treffend finden. Statt als Mime geehrt zu werden, fand unser Held Schriststellerlorberen und brauchte diesen Tausch uicht einmal zu beklagen. Er lebte in einem Jahrhundert, wo das litterarische Getriebe aller Augen auf sich zog und wo übrigens nicht bloß Effekthascher und Modevirtuosen, sondern anch selbständige ernste Männer, die zu keiner Koterie gehörten, Leser fanden. Noch sei auf die Verehrung hingewiesen, die im Zeitalter des Sturmes und Dranges gewissen Littera'turgrößen der Vergangenheit gezollt wurde. Hartknopf und Reiser helfen vor allem den damaligen Shatespearelültus be- Lebensbild I, 2, S. 300.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/286>, abgerufen am 02.07.2024.