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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Aarl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

gebornen, ruhelosen deutschen Litteraten an die stolzen Memoiren des vielver-
kannten Jean Jacques, der ebenso klein angefangen, ebenso unstet gelebt
und -- ebenso grausam uuter den Leiden der Einbildungskraft gelitten hat.

Der Ruf nach Rückkehr zur unverdorbenen Natur lenkte in jener denk¬
würdigen Zeit die Aufmerksamkeit auf manches, was vorher keine sonderliche
Schätzung gefunden hatte. Man entdeckte von neuem die Reize des Landlebens.
Man erfreute sich an den tüchtigen Sitten und an der gesunden Lebensweise
der Dorfbewohner. Das Patriarchalische in der "Neuen Heloise" klingt nament¬
lich in Mercks Schriften wieder an, lind jeder kennt ja die Vorliebe Werthers
für das Ländliche, die sich oft bis zum erhabensten Natursinn steigert. So
gewinnt denn mich Reiser der Umgegend von Hannover viel ab. Er entflieht
dem städtischen Getriebe, führt an einem schonen Fleckchen sein Stillleben oder
schweift, in Gedanken verloren, rastlos von Flur zu Flur. Moritz ist ein
ähnlicher leidenschaftlicher Fußwandrer gewesen wie Seume. Seine frugalen,
aber dabei romantischen Gewohnheiten werden nicht bloß im "Anton Reiser,"
sondern z. B. auch in den "Reisen eiues Deutschen in England" l Berlin, 1783)
viel erwähnt. Es paßt dazu, wenn er in Berlin als Junggeselle ein entlegenes
Gartenhäuschen bewohnt und allmorgentlich nach seinem geliebten Stralau
Pilgert.

Ein weiteres Merkmal der Sturm- und Drangzeit ist der gefühlsmäßige
Ausdruck, zu dein die "Genies" überall griffen. "Nicht kritisches Erfassen und
Erkennen: Austaunen, Genießen, Verstummen -- Andacht, Gebet, Liturgie"--
das war ihre Art. Auch Reiser und Hartknvpf sind solche Gefühlsmenschen.
Aber sie vermeiden dabei viele Ausschreitungen, zu denen Fettergeister wie
Hamann, Lavater, Kaufmann u. a. verleiten konnten. Es ist wahr, sie neigen
zur Mystik. Moritz war ja unter lauter pietistischen Eindrücken ausgewachsen
und hatte diese mit der größten Empfänglichkeit auf sich wirken lassen. Die
frommen Vorbilder jedoch, auf die er zur Zeit seiner jugendlichen Seelenkämpfe
verehrungsvoll hinschaute, lehrten im Grnnde genommen eine persönliche Un-
gebundenheit, eine Entfesselung des Individuums, wie sie alle Stürmer und
Dränger, wenn auch auf verschiednen Wegen, erstrebten. In reifern Jahren
huldigte Moritz in maßvoller Weise dem Freimaurertum, dessen Symbole er
vielfach schätzte. Für das Predigertnm hegte er stets Sympathie. In Deutsch¬
land teilte man überhaupt die Abneigung der Aufklärer gegen die Priester
nicht sehr, sondern sorgte dasür, daß der modisch gewordene Krieg gegen die
kirchlichen Rückständigkeiten nicht zu Angriffen gegen die Religion selbst führte.
Man schwärmte für eine freie, rein menschliche Stellung des Predigers; wie
z. B. Herder den theologischen Beruf ergriff, weil er immer mehr einsah, "daß



*) seiner in sei "er Abhandlung "Die Stimm- und Drangperiode" in Kürschners Deutscher
Nationallitteratur, Bd. 79.
Aarl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

gebornen, ruhelosen deutschen Litteraten an die stolzen Memoiren des vielver-
kannten Jean Jacques, der ebenso klein angefangen, ebenso unstet gelebt
und — ebenso grausam uuter den Leiden der Einbildungskraft gelitten hat.

Der Ruf nach Rückkehr zur unverdorbenen Natur lenkte in jener denk¬
würdigen Zeit die Aufmerksamkeit auf manches, was vorher keine sonderliche
Schätzung gefunden hatte. Man entdeckte von neuem die Reize des Landlebens.
Man erfreute sich an den tüchtigen Sitten und an der gesunden Lebensweise
der Dorfbewohner. Das Patriarchalische in der „Neuen Heloise" klingt nament¬
lich in Mercks Schriften wieder an, lind jeder kennt ja die Vorliebe Werthers
für das Ländliche, die sich oft bis zum erhabensten Natursinn steigert. So
gewinnt denn mich Reiser der Umgegend von Hannover viel ab. Er entflieht
dem städtischen Getriebe, führt an einem schonen Fleckchen sein Stillleben oder
schweift, in Gedanken verloren, rastlos von Flur zu Flur. Moritz ist ein
ähnlicher leidenschaftlicher Fußwandrer gewesen wie Seume. Seine frugalen,
aber dabei romantischen Gewohnheiten werden nicht bloß im „Anton Reiser,"
sondern z. B. auch in den „Reisen eiues Deutschen in England" l Berlin, 1783)
viel erwähnt. Es paßt dazu, wenn er in Berlin als Junggeselle ein entlegenes
Gartenhäuschen bewohnt und allmorgentlich nach seinem geliebten Stralau
Pilgert.

Ein weiteres Merkmal der Sturm- und Drangzeit ist der gefühlsmäßige
Ausdruck, zu dein die „Genies" überall griffen. „Nicht kritisches Erfassen und
Erkennen: Austaunen, Genießen, Verstummen — Andacht, Gebet, Liturgie"—
das war ihre Art. Auch Reiser und Hartknvpf sind solche Gefühlsmenschen.
Aber sie vermeiden dabei viele Ausschreitungen, zu denen Fettergeister wie
Hamann, Lavater, Kaufmann u. a. verleiten konnten. Es ist wahr, sie neigen
zur Mystik. Moritz war ja unter lauter pietistischen Eindrücken ausgewachsen
und hatte diese mit der größten Empfänglichkeit auf sich wirken lassen. Die
frommen Vorbilder jedoch, auf die er zur Zeit seiner jugendlichen Seelenkämpfe
verehrungsvoll hinschaute, lehrten im Grnnde genommen eine persönliche Un-
gebundenheit, eine Entfesselung des Individuums, wie sie alle Stürmer und
Dränger, wenn auch auf verschiednen Wegen, erstrebten. In reifern Jahren
huldigte Moritz in maßvoller Weise dem Freimaurertum, dessen Symbole er
vielfach schätzte. Für das Predigertnm hegte er stets Sympathie. In Deutsch¬
land teilte man überhaupt die Abneigung der Aufklärer gegen die Priester
nicht sehr, sondern sorgte dasür, daß der modisch gewordene Krieg gegen die
kirchlichen Rückständigkeiten nicht zu Angriffen gegen die Religion selbst führte.
Man schwärmte für eine freie, rein menschliche Stellung des Predigers; wie
z. B. Herder den theologischen Beruf ergriff, weil er immer mehr einsah, „daß



*) seiner in sei »er Abhandlung „Die Stimm- und Drangperiode" in Kürschners Deutscher
Nationallitteratur, Bd. 79.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/285>, abgerufen am 02.07.2024.