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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

nicht kennt, auf Jean Paul raten würde. Da ist der Essigbrauer ans dein
dritten Teil des "Anton Reiser." Da sind überhaupt die Handwerkertyen,
vom philosophischen Schuster in Hannover bis zum Grvbschmied Kerstmg in
Ribbeckeuau -- jene Typen, die von den gelehrten Rezensenten einst so un¬
gnädig angesehen wurden. Überall zeigt sich ein warmer Sinn für das Volks¬
tümliche, ein Sinn für die rührenden Züge und eigentümlichen Lichtblicke im
Leben der niedern Stände. Von selbst führt dies zu jenein idyllischen Klein¬
malen, wie es -- im Anschluß an Jean Paul -- in unsern Tagen Gottfried
Keller besonders glücklich ausübt. Stellen wie der Abschied von Hartknopf
im zweiten Kapitel der "Predigerjahre" oder die ^-indem-ete ""f den lahmen,
einäugigen Pudel im fünften Abschnitt der "Allegorie" müssen vor hundert
Jahren einen sehr originellen Eindruck gemacht haben. Ans der andern Seite
neigt Moritz, indem er sich zu den Kreisen der Armen und Gedruckten herab¬
läßt, zum schwermütigen und Düstern. In der Kennzeichnung des Doktor
Sauer, die bereits in der ersten Hartkuopfgeschichte vorkommt und dann in den
vierten Teil des "Anton Reiser" herübergenommen wurde, steckt der ganze
Pessimistische Ernst, der gerade heute, wo mau Zola oder Dostojewskis liest,
so zeitgemäß erscheint. Aber es ist auch ein erhebendes Schauspiel, wie Moritz
und seine Nachfolger aus dem Stand und der Art der Erniedrigten und Unter¬
drückten die höchsten Bethätigungen des geistigen Lebens und Strebens empor¬
wachsen lassen. In diesem Sinne gab Moritz auch die Selbstbiographie Salomon
Maimvns heraus (Berlin, 17!)2), indem er im Vorbericht bemerkt: "Diese
Lebensbeschreibung wird für einen jeden anziehend sein, dem eS nicht gleich-
giltig ist, wie die Denkkraft auch unter den drückendsten Umständen sich in
einem menschlichen Geiste entwickeln kann, lind wie der echte Trieb nach Wissen¬
schaft sich durch Hindernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen!"
Und weiterhin: "Es ist gewiß merkwürdig, wie das geistige Bedürfnis bis zu
dem Grade steigen kann, daß Not und Mangel und das äußerste Elend, welches
der Körper erdulden kann, erträglich wird, wenn nur jenes Bedürfnis nicht
unbefriedigt bleibt. Dergleichen Beispiele aber sind lehrreich und wichtig, nicht
nur wegen der besondern Schicksale eines einzigen Menschen, sondern weil sie
die Würde der menschlichen Natur ans Licht stellen und der sich emporarbei¬
tenden Vernunft ein Zutrauen zu ihrer Kraft einflößen."

Wie hierbei unser Schriftsteller in seiner selbständigen philosophischen
Schreibart von der heutigen,, Belletristik äußerlich absticht, mag ein kurzes
Beispiel veranschaulichen. Es ist die Rede von dem Verhältnis Hartknopfs
zu dem alten, ehrwürdigen Herrn v. G..., der noch Hartknopfs Vater ge¬
kannt und jetzt den Sohn zum Prediger nach Ribbeckenan berufen hat. Da
heißt es:


Nichts konnte sich wohl mehr entgegengesetzt scheinen uls die Meinungen
Hnrtknvpfs und des Herrn v. G. . .

Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller

nicht kennt, auf Jean Paul raten würde. Da ist der Essigbrauer ans dein
dritten Teil des „Anton Reiser." Da sind überhaupt die Handwerkertyen,
vom philosophischen Schuster in Hannover bis zum Grvbschmied Kerstmg in
Ribbeckeuau — jene Typen, die von den gelehrten Rezensenten einst so un¬
gnädig angesehen wurden. Überall zeigt sich ein warmer Sinn für das Volks¬
tümliche, ein Sinn für die rührenden Züge und eigentümlichen Lichtblicke im
Leben der niedern Stände. Von selbst führt dies zu jenein idyllischen Klein¬
malen, wie es — im Anschluß an Jean Paul — in unsern Tagen Gottfried
Keller besonders glücklich ausübt. Stellen wie der Abschied von Hartknopf
im zweiten Kapitel der „Predigerjahre" oder die ^-indem-ete ""f den lahmen,
einäugigen Pudel im fünften Abschnitt der „Allegorie" müssen vor hundert
Jahren einen sehr originellen Eindruck gemacht haben. Ans der andern Seite
neigt Moritz, indem er sich zu den Kreisen der Armen und Gedruckten herab¬
läßt, zum schwermütigen und Düstern. In der Kennzeichnung des Doktor
Sauer, die bereits in der ersten Hartkuopfgeschichte vorkommt und dann in den
vierten Teil des „Anton Reiser" herübergenommen wurde, steckt der ganze
Pessimistische Ernst, der gerade heute, wo mau Zola oder Dostojewskis liest,
so zeitgemäß erscheint. Aber es ist auch ein erhebendes Schauspiel, wie Moritz
und seine Nachfolger aus dem Stand und der Art der Erniedrigten und Unter¬
drückten die höchsten Bethätigungen des geistigen Lebens und Strebens empor¬
wachsen lassen. In diesem Sinne gab Moritz auch die Selbstbiographie Salomon
Maimvns heraus (Berlin, 17!)2), indem er im Vorbericht bemerkt: „Diese
Lebensbeschreibung wird für einen jeden anziehend sein, dem eS nicht gleich-
giltig ist, wie die Denkkraft auch unter den drückendsten Umständen sich in
einem menschlichen Geiste entwickeln kann, lind wie der echte Trieb nach Wissen¬
schaft sich durch Hindernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen!"
Und weiterhin: „Es ist gewiß merkwürdig, wie das geistige Bedürfnis bis zu
dem Grade steigen kann, daß Not und Mangel und das äußerste Elend, welches
der Körper erdulden kann, erträglich wird, wenn nur jenes Bedürfnis nicht
unbefriedigt bleibt. Dergleichen Beispiele aber sind lehrreich und wichtig, nicht
nur wegen der besondern Schicksale eines einzigen Menschen, sondern weil sie
die Würde der menschlichen Natur ans Licht stellen und der sich emporarbei¬
tenden Vernunft ein Zutrauen zu ihrer Kraft einflößen."

Wie hierbei unser Schriftsteller in seiner selbständigen philosophischen
Schreibart von der heutigen,, Belletristik äußerlich absticht, mag ein kurzes
Beispiel veranschaulichen. Es ist die Rede von dem Verhältnis Hartknopfs
zu dem alten, ehrwürdigen Herrn v. G..., der noch Hartknopfs Vater ge¬
kannt und jetzt den Sohn zum Prediger nach Ribbeckenan berufen hat. Da
heißt es:


Nichts konnte sich wohl mehr entgegengesetzt scheinen uls die Meinungen
Hnrtknvpfs und des Herrn v. G. . .

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[0283] Karl Philipp Moritz als Romanschriftsteller nicht kennt, auf Jean Paul raten würde. Da ist der Essigbrauer ans dein dritten Teil des „Anton Reiser." Da sind überhaupt die Handwerkertyen, vom philosophischen Schuster in Hannover bis zum Grvbschmied Kerstmg in Ribbeckeuau — jene Typen, die von den gelehrten Rezensenten einst so un¬ gnädig angesehen wurden. Überall zeigt sich ein warmer Sinn für das Volks¬ tümliche, ein Sinn für die rührenden Züge und eigentümlichen Lichtblicke im Leben der niedern Stände. Von selbst führt dies zu jenein idyllischen Klein¬ malen, wie es — im Anschluß an Jean Paul — in unsern Tagen Gottfried Keller besonders glücklich ausübt. Stellen wie der Abschied von Hartknopf im zweiten Kapitel der „Predigerjahre" oder die ^-indem-ete ""f den lahmen, einäugigen Pudel im fünften Abschnitt der „Allegorie" müssen vor hundert Jahren einen sehr originellen Eindruck gemacht haben. Ans der andern Seite neigt Moritz, indem er sich zu den Kreisen der Armen und Gedruckten herab¬ läßt, zum schwermütigen und Düstern. In der Kennzeichnung des Doktor Sauer, die bereits in der ersten Hartkuopfgeschichte vorkommt und dann in den vierten Teil des „Anton Reiser" herübergenommen wurde, steckt der ganze Pessimistische Ernst, der gerade heute, wo mau Zola oder Dostojewskis liest, so zeitgemäß erscheint. Aber es ist auch ein erhebendes Schauspiel, wie Moritz und seine Nachfolger aus dem Stand und der Art der Erniedrigten und Unter¬ drückten die höchsten Bethätigungen des geistigen Lebens und Strebens empor¬ wachsen lassen. In diesem Sinne gab Moritz auch die Selbstbiographie Salomon Maimvns heraus (Berlin, 17!)2), indem er im Vorbericht bemerkt: „Diese Lebensbeschreibung wird für einen jeden anziehend sein, dem eS nicht gleich- giltig ist, wie die Denkkraft auch unter den drückendsten Umständen sich in einem menschlichen Geiste entwickeln kann, lind wie der echte Trieb nach Wissen¬ schaft sich durch Hindernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen!" Und weiterhin: „Es ist gewiß merkwürdig, wie das geistige Bedürfnis bis zu dem Grade steigen kann, daß Not und Mangel und das äußerste Elend, welches der Körper erdulden kann, erträglich wird, wenn nur jenes Bedürfnis nicht unbefriedigt bleibt. Dergleichen Beispiele aber sind lehrreich und wichtig, nicht nur wegen der besondern Schicksale eines einzigen Menschen, sondern weil sie die Würde der menschlichen Natur ans Licht stellen und der sich emporarbei¬ tenden Vernunft ein Zutrauen zu ihrer Kraft einflößen." Wie hierbei unser Schriftsteller in seiner selbständigen philosophischen Schreibart von der heutigen,, Belletristik äußerlich absticht, mag ein kurzes Beispiel veranschaulichen. Es ist die Rede von dem Verhältnis Hartknopfs zu dem alten, ehrwürdigen Herrn v. G..., der noch Hartknopfs Vater ge¬ kannt und jetzt den Sohn zum Prediger nach Ribbeckenan berufen hat. Da heißt es: Nichts konnte sich wohl mehr entgegengesetzt scheinen uls die Meinungen Hnrtknvpfs und des Herrn v. G. . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/283>, abgerufen am 02.07.2024.