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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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In der Art, wie Moritz Jugendeindrücke beschreibt und analhsirt, wird er
stets anziehen. Kein andrer Schriftsteller dürfte dieses Gebiet mit größerer
Liebe betreten, keiner es mit feineren Verständnis behandelt haben. Wie treffend
wird die "Süßigkeit des Unrechtleidens," die Seelenlähmung bei entehrenden
Anschuldigungen, der Zustand der Beschämung, das Gefühl, lächerlich zu er-
scheinen, und vieles ähnliche geschildert! Reiche Phantasie ist Antons Haupt-
gabc. Schon als Kind stellt er sich vor, daß das Leben ein bloßes Träumen
sein könne. Die Wirklichkeit kommt ihm kahl und armselig vor. Die Schule
bietet ihm mehr als das Elternhaus. Aber Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten
führen den armen und doch zugleich eiteln Ghmnasiasten in einen Abgrund
von Leiden. Das glänzende Elend der Freitische, die demütigende Empfindung,
der Letzte zu sein, das trostlose Zusammenleben mit den Mitschülern, alles das
vergißt Reiser nur, indem, er sich dem Opiumrausch eiuer exzentrischen Lesewut,
der Wonne des einsamen Studireus dahiugiebt, und ergreifend ist es, wie ans
diesem Sonderleben immer wieder das heiße Verlangen nach Mitteilung und
der Ehrgeiz, auf die Außenwelt zu wirken, hervorbricht. Diesen Mitteilungs¬
trieb zeigt auch Hartknvpf, der wie Anton einen ungewöhnlichen Lebensweg
wandert und verständnisvolle Zuneigung in einem. Maße erwartet, wie er sie
doch nicht finden kann.

Man kann Moritz den Vater derjenigen Rvmanlitterntur nennen, die durch
Jean Paul um die Wende des Jahrhunderts zur vollen Ausbildung gebracht
und durch die stattliche Reihe seiner Werke erfolgreich vertreten wurde. Alle
künstlich metrische Form - hatte Herder über Jean Paul geurteilt -- sei
wertlos im Vergleich mit seiner lebendigen Welt, seinein fühlenden Herzen,
seinem immer schaffenden Genius. Dasselbe gilt von Moritz als Erzähler.
Es ist bezeichnend, daß auch ein persönliches Band Jean Paul und Moritz
vereinigte. Letzterer lernte ein Jahr vor seinem Tode die "Unsichtbare Loge"
kennen. Er begeisterte sich für den Verfasser und bestimmte seinen Schwager
Matzdorff, das Werk in Verlag zu nehmen. "Der Wuz' Geschichte verfaßt
hat, ist nicht sterblich" schrieb er am. 17. Juli 1792. Und in der That
konnte sich damals wohl niemand für das, was in Jean Paul lag, mehr inter-
essiren als Moritz. stilistische Eigentümlichkeiten des "Hartknopf" bereiten
gleichsam auf den jüngern Genius vor, der daS ausbauen sollte, was der ältere
nur nebenbei und unvollständig geschaffen hatte. Man beachte z. B. die ver¬
zückten Reflexionen, die langen Apostrophen, bei denen die Handlung zu zer¬
fließen droht. Die ganze Szenerie der "Predigerjahrc" mutet jcanpaulisch
an. Und vollends jene köstlichen Stellen voll echten, tiefen Humors, wo Hart-
kuopfs Unfall bei der Antrittspredigt -- er rennt gegen einen Taubeuflügel
an, sodaß der heilige Geist herunterfällt -- und das verunglückte Halleluja
der Jubelpredigt geschildert wird!

Moritz hat mehr als eine Gestalt gezeichnet, bei der jeder, der den Schöpfer


In der Art, wie Moritz Jugendeindrücke beschreibt und analhsirt, wird er
stets anziehen. Kein andrer Schriftsteller dürfte dieses Gebiet mit größerer
Liebe betreten, keiner es mit feineren Verständnis behandelt haben. Wie treffend
wird die „Süßigkeit des Unrechtleidens," die Seelenlähmung bei entehrenden
Anschuldigungen, der Zustand der Beschämung, das Gefühl, lächerlich zu er-
scheinen, und vieles ähnliche geschildert! Reiche Phantasie ist Antons Haupt-
gabc. Schon als Kind stellt er sich vor, daß das Leben ein bloßes Träumen
sein könne. Die Wirklichkeit kommt ihm kahl und armselig vor. Die Schule
bietet ihm mehr als das Elternhaus. Aber Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten
führen den armen und doch zugleich eiteln Ghmnasiasten in einen Abgrund
von Leiden. Das glänzende Elend der Freitische, die demütigende Empfindung,
der Letzte zu sein, das trostlose Zusammenleben mit den Mitschülern, alles das
vergißt Reiser nur, indem, er sich dem Opiumrausch eiuer exzentrischen Lesewut,
der Wonne des einsamen Studireus dahiugiebt, und ergreifend ist es, wie ans
diesem Sonderleben immer wieder das heiße Verlangen nach Mitteilung und
der Ehrgeiz, auf die Außenwelt zu wirken, hervorbricht. Diesen Mitteilungs¬
trieb zeigt auch Hartknvpf, der wie Anton einen ungewöhnlichen Lebensweg
wandert und verständnisvolle Zuneigung in einem. Maße erwartet, wie er sie
doch nicht finden kann.

Man kann Moritz den Vater derjenigen Rvmanlitterntur nennen, die durch
Jean Paul um die Wende des Jahrhunderts zur vollen Ausbildung gebracht
und durch die stattliche Reihe seiner Werke erfolgreich vertreten wurde. Alle
künstlich metrische Form - hatte Herder über Jean Paul geurteilt — sei
wertlos im Vergleich mit seiner lebendigen Welt, seinein fühlenden Herzen,
seinem immer schaffenden Genius. Dasselbe gilt von Moritz als Erzähler.
Es ist bezeichnend, daß auch ein persönliches Band Jean Paul und Moritz
vereinigte. Letzterer lernte ein Jahr vor seinem Tode die „Unsichtbare Loge"
kennen. Er begeisterte sich für den Verfasser und bestimmte seinen Schwager
Matzdorff, das Werk in Verlag zu nehmen. „Der Wuz' Geschichte verfaßt
hat, ist nicht sterblich" schrieb er am. 17. Juli 1792. Und in der That
konnte sich damals wohl niemand für das, was in Jean Paul lag, mehr inter-
essiren als Moritz. stilistische Eigentümlichkeiten des „Hartknopf" bereiten
gleichsam auf den jüngern Genius vor, der daS ausbauen sollte, was der ältere
nur nebenbei und unvollständig geschaffen hatte. Man beachte z. B. die ver¬
zückten Reflexionen, die langen Apostrophen, bei denen die Handlung zu zer¬
fließen droht. Die ganze Szenerie der „Predigerjahrc" mutet jcanpaulisch
an. Und vollends jene köstlichen Stellen voll echten, tiefen Humors, wo Hart-
kuopfs Unfall bei der Antrittspredigt — er rennt gegen einen Taubeuflügel
an, sodaß der heilige Geist herunterfällt — und das verunglückte Halleluja
der Jubelpredigt geschildert wird!

Moritz hat mehr als eine Gestalt gezeichnet, bei der jeder, der den Schöpfer


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[0282] In der Art, wie Moritz Jugendeindrücke beschreibt und analhsirt, wird er stets anziehen. Kein andrer Schriftsteller dürfte dieses Gebiet mit größerer Liebe betreten, keiner es mit feineren Verständnis behandelt haben. Wie treffend wird die „Süßigkeit des Unrechtleidens," die Seelenlähmung bei entehrenden Anschuldigungen, der Zustand der Beschämung, das Gefühl, lächerlich zu er- scheinen, und vieles ähnliche geschildert! Reiche Phantasie ist Antons Haupt- gabc. Schon als Kind stellt er sich vor, daß das Leben ein bloßes Träumen sein könne. Die Wirklichkeit kommt ihm kahl und armselig vor. Die Schule bietet ihm mehr als das Elternhaus. Aber Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten führen den armen und doch zugleich eiteln Ghmnasiasten in einen Abgrund von Leiden. Das glänzende Elend der Freitische, die demütigende Empfindung, der Letzte zu sein, das trostlose Zusammenleben mit den Mitschülern, alles das vergißt Reiser nur, indem, er sich dem Opiumrausch eiuer exzentrischen Lesewut, der Wonne des einsamen Studireus dahiugiebt, und ergreifend ist es, wie ans diesem Sonderleben immer wieder das heiße Verlangen nach Mitteilung und der Ehrgeiz, auf die Außenwelt zu wirken, hervorbricht. Diesen Mitteilungs¬ trieb zeigt auch Hartknvpf, der wie Anton einen ungewöhnlichen Lebensweg wandert und verständnisvolle Zuneigung in einem. Maße erwartet, wie er sie doch nicht finden kann. Man kann Moritz den Vater derjenigen Rvmanlitterntur nennen, die durch Jean Paul um die Wende des Jahrhunderts zur vollen Ausbildung gebracht und durch die stattliche Reihe seiner Werke erfolgreich vertreten wurde. Alle künstlich metrische Form - hatte Herder über Jean Paul geurteilt — sei wertlos im Vergleich mit seiner lebendigen Welt, seinein fühlenden Herzen, seinem immer schaffenden Genius. Dasselbe gilt von Moritz als Erzähler. Es ist bezeichnend, daß auch ein persönliches Band Jean Paul und Moritz vereinigte. Letzterer lernte ein Jahr vor seinem Tode die „Unsichtbare Loge" kennen. Er begeisterte sich für den Verfasser und bestimmte seinen Schwager Matzdorff, das Werk in Verlag zu nehmen. „Der Wuz' Geschichte verfaßt hat, ist nicht sterblich" schrieb er am. 17. Juli 1792. Und in der That konnte sich damals wohl niemand für das, was in Jean Paul lag, mehr inter- essiren als Moritz. stilistische Eigentümlichkeiten des „Hartknopf" bereiten gleichsam auf den jüngern Genius vor, der daS ausbauen sollte, was der ältere nur nebenbei und unvollständig geschaffen hatte. Man beachte z. B. die ver¬ zückten Reflexionen, die langen Apostrophen, bei denen die Handlung zu zer¬ fließen droht. Die ganze Szenerie der „Predigerjahrc" mutet jcanpaulisch an. Und vollends jene köstlichen Stellen voll echten, tiefen Humors, wo Hart- kuopfs Unfall bei der Antrittspredigt — er rennt gegen einen Taubeuflügel an, sodaß der heilige Geist herunterfällt — und das verunglückte Halleluja der Jubelpredigt geschildert wird! Moritz hat mehr als eine Gestalt gezeichnet, bei der jeder, der den Schöpfer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/282>, abgerufen am 22.12.2024.