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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Bedeutung des Sedantages

Mittelalter entzweite; hieß es damals: Hie Wels, hie Waldung, hie Papst,
hie Kaiser, so galt es jetzt, den Dualismus zwischen dem aufstrebenden Preußen¬
staat, dem immer bewußten? Vorkämpfer der nationalen Zukunft, und dem ab¬
sterbenden kosmopolitischen Kaisertum zu lösen. In diese Entwicklung schob
sich daS furchtbare Zwischenspiel der napoleonischen Kriege, die unser Vater¬
land noch einmal wie zur Zeit des dreißigjährigen Krieges an den Rand des
Unterganges stellten. Aber so zahllos und schmerzlich die Wunden waren, die
der gewaltige Korse ihm beibrachte, in der Hand der gnädigen Vorsehung ward
er im letzten Grunde ihm nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse
will und stets das Gute schafft. Hatten schon unsre Denker und Dichter im
achtzehnte?? Jahrhundert durch unvergleichliche Großthaten des Geistes der
schwergeprüften Nation neues Selbstvertrauen? und Gemeingefühl eingeflößt, so
bedürfte?? doch beide Eigenschaften noch durchaus der Verstärkung und Er¬
gänzung auf politischem Gebiete; und dazu hat Napoleon unfreiwillig in außer¬
ordentlichen? Maße beigetragen, sowohl unmittelbar d??res die Vereinfachung
der farbenbunten deutsche?? Läuderkarte als besonders mittelbar durch deu heiligen
Zorn und Schmerz, den sein unerträgliches Tyraunenjoch ii? aller Herzen ent¬
flammte und der da???? furchtbar ausbrechend sich in gemeinsamen Siegesjubel
verkehrte. Wein im dreißigjährigen Kriege das Nationalgefühl unsers Volkes
fast erlosch, so brach es jetzt in dein weitaus größern Teile desselben mit
stürmisch gesteigerter Kraft hervor, gepflegt durch die Weisheit großer Staats¬
männer nud durch den hinreißenden Patriotismus seiner geistigen Führer.
Kenuzeichuet dieser Unterschied den bedeutenden Fortschritt, den es in Ansehung
seiner moralischen, wirtschaftlichen nud auch politischen Gemeinschaft seit andert¬
halb Jahrhunderten bereits gemacht hatte, so lernte der Einzelne doch eigentlich
jetzt erst sein Vaterland recht kennen und lieben, wo er Gefahr lief, es zu ver¬
lieren. Wenn er jetzt darnach strebte, sich fortzubilden und zu veredeln,
so that er es nicht bloß um seiner selbst willen, sondern um zugleich als
Bürger dein Staate besser zu dienen. Der Sturz der Fremdherrschaft und
eine tiefgehende sittliche Selbsterneuerung wäre?? die herrlichen Früchte dieser
sturmvollen Jahre.

Um so unbefriedigender waren ihre politischen Ergebnisse. Hatte das
alte heilige römische Reich deutscher Nation unter den Gewaltstreichen Napoleons
sei?? unseliges, aber wohlverdientes Ende gefunden, so ward jetzt an die leer¬
gewordene Stelle eine Verfassung gesetzt, die nicht weniger schlecht war als
die frühere und besonders dein Zwiespalt zwischen den beiden Großstaaten
Österreich und Preußen von neuem Thür und Thor öffnete. Dazu kam vieler¬
orts?? Unzufriedenheit der Unterthanen über die vorenthaltenen freier?? Ver¬
fassungsformen, die von den meisten Regierungen wieder mit verschärften ab¬
solutistischen Maßregeln beantwortet wurden. Etwas versöhnen mit diesen
unerquicklichen Jahrzehnten die staunenswerten Fortschritte unsers Wissenschaft-


Die geschichtliche Bedeutung des Sedantages

Mittelalter entzweite; hieß es damals: Hie Wels, hie Waldung, hie Papst,
hie Kaiser, so galt es jetzt, den Dualismus zwischen dem aufstrebenden Preußen¬
staat, dem immer bewußten? Vorkämpfer der nationalen Zukunft, und dem ab¬
sterbenden kosmopolitischen Kaisertum zu lösen. In diese Entwicklung schob
sich daS furchtbare Zwischenspiel der napoleonischen Kriege, die unser Vater¬
land noch einmal wie zur Zeit des dreißigjährigen Krieges an den Rand des
Unterganges stellten. Aber so zahllos und schmerzlich die Wunden waren, die
der gewaltige Korse ihm beibrachte, in der Hand der gnädigen Vorsehung ward
er im letzten Grunde ihm nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse
will und stets das Gute schafft. Hatten schon unsre Denker und Dichter im
achtzehnte?? Jahrhundert durch unvergleichliche Großthaten des Geistes der
schwergeprüften Nation neues Selbstvertrauen? und Gemeingefühl eingeflößt, so
bedürfte?? doch beide Eigenschaften noch durchaus der Verstärkung und Er¬
gänzung auf politischem Gebiete; und dazu hat Napoleon unfreiwillig in außer¬
ordentlichen? Maße beigetragen, sowohl unmittelbar d??res die Vereinfachung
der farbenbunten deutsche?? Läuderkarte als besonders mittelbar durch deu heiligen
Zorn und Schmerz, den sein unerträgliches Tyraunenjoch ii? aller Herzen ent¬
flammte und der da???? furchtbar ausbrechend sich in gemeinsamen Siegesjubel
verkehrte. Wein im dreißigjährigen Kriege das Nationalgefühl unsers Volkes
fast erlosch, so brach es jetzt in dein weitaus größern Teile desselben mit
stürmisch gesteigerter Kraft hervor, gepflegt durch die Weisheit großer Staats¬
männer nud durch den hinreißenden Patriotismus seiner geistigen Führer.
Kenuzeichuet dieser Unterschied den bedeutenden Fortschritt, den es in Ansehung
seiner moralischen, wirtschaftlichen nud auch politischen Gemeinschaft seit andert¬
halb Jahrhunderten bereits gemacht hatte, so lernte der Einzelne doch eigentlich
jetzt erst sein Vaterland recht kennen und lieben, wo er Gefahr lief, es zu ver¬
lieren. Wenn er jetzt darnach strebte, sich fortzubilden und zu veredeln,
so that er es nicht bloß um seiner selbst willen, sondern um zugleich als
Bürger dein Staate besser zu dienen. Der Sturz der Fremdherrschaft und
eine tiefgehende sittliche Selbsterneuerung wäre?? die herrlichen Früchte dieser
sturmvollen Jahre.

Um so unbefriedigender waren ihre politischen Ergebnisse. Hatte das
alte heilige römische Reich deutscher Nation unter den Gewaltstreichen Napoleons
sei?? unseliges, aber wohlverdientes Ende gefunden, so ward jetzt an die leer¬
gewordene Stelle eine Verfassung gesetzt, die nicht weniger schlecht war als
die frühere und besonders dein Zwiespalt zwischen den beiden Großstaaten
Österreich und Preußen von neuem Thür und Thor öffnete. Dazu kam vieler¬
orts?? Unzufriedenheit der Unterthanen über die vorenthaltenen freier?? Ver¬
fassungsformen, die von den meisten Regierungen wieder mit verschärften ab¬
solutistischen Maßregeln beantwortet wurden. Etwas versöhnen mit diesen
unerquicklichen Jahrzehnten die staunenswerten Fortschritte unsers Wissenschaft-


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[0276] Die geschichtliche Bedeutung des Sedantages Mittelalter entzweite; hieß es damals: Hie Wels, hie Waldung, hie Papst, hie Kaiser, so galt es jetzt, den Dualismus zwischen dem aufstrebenden Preußen¬ staat, dem immer bewußten? Vorkämpfer der nationalen Zukunft, und dem ab¬ sterbenden kosmopolitischen Kaisertum zu lösen. In diese Entwicklung schob sich daS furchtbare Zwischenspiel der napoleonischen Kriege, die unser Vater¬ land noch einmal wie zur Zeit des dreißigjährigen Krieges an den Rand des Unterganges stellten. Aber so zahllos und schmerzlich die Wunden waren, die der gewaltige Korse ihm beibrachte, in der Hand der gnädigen Vorsehung ward er im letzten Grunde ihm nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Hatten schon unsre Denker und Dichter im achtzehnte?? Jahrhundert durch unvergleichliche Großthaten des Geistes der schwergeprüften Nation neues Selbstvertrauen? und Gemeingefühl eingeflößt, so bedürfte?? doch beide Eigenschaften noch durchaus der Verstärkung und Er¬ gänzung auf politischem Gebiete; und dazu hat Napoleon unfreiwillig in außer¬ ordentlichen? Maße beigetragen, sowohl unmittelbar d??res die Vereinfachung der farbenbunten deutsche?? Läuderkarte als besonders mittelbar durch deu heiligen Zorn und Schmerz, den sein unerträgliches Tyraunenjoch ii? aller Herzen ent¬ flammte und der da???? furchtbar ausbrechend sich in gemeinsamen Siegesjubel verkehrte. Wein im dreißigjährigen Kriege das Nationalgefühl unsers Volkes fast erlosch, so brach es jetzt in dein weitaus größern Teile desselben mit stürmisch gesteigerter Kraft hervor, gepflegt durch die Weisheit großer Staats¬ männer nud durch den hinreißenden Patriotismus seiner geistigen Führer. Kenuzeichuet dieser Unterschied den bedeutenden Fortschritt, den es in Ansehung seiner moralischen, wirtschaftlichen nud auch politischen Gemeinschaft seit andert¬ halb Jahrhunderten bereits gemacht hatte, so lernte der Einzelne doch eigentlich jetzt erst sein Vaterland recht kennen und lieben, wo er Gefahr lief, es zu ver¬ lieren. Wenn er jetzt darnach strebte, sich fortzubilden und zu veredeln, so that er es nicht bloß um seiner selbst willen, sondern um zugleich als Bürger dein Staate besser zu dienen. Der Sturz der Fremdherrschaft und eine tiefgehende sittliche Selbsterneuerung wäre?? die herrlichen Früchte dieser sturmvollen Jahre. Um so unbefriedigender waren ihre politischen Ergebnisse. Hatte das alte heilige römische Reich deutscher Nation unter den Gewaltstreichen Napoleons sei?? unseliges, aber wohlverdientes Ende gefunden, so ward jetzt an die leer¬ gewordene Stelle eine Verfassung gesetzt, die nicht weniger schlecht war als die frühere und besonders dein Zwiespalt zwischen den beiden Großstaaten Österreich und Preußen von neuem Thür und Thor öffnete. Dazu kam vieler¬ orts?? Unzufriedenheit der Unterthanen über die vorenthaltenen freier?? Ver¬ fassungsformen, die von den meisten Regierungen wieder mit verschärften ab¬ solutistischen Maßregeln beantwortet wurden. Etwas versöhnen mit diesen unerquicklichen Jahrzehnten die staunenswerten Fortschritte unsers Wissenschaft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/276>, abgerufen am 02.07.2024.