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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Bedeutmig des Sedcmwges

internationale Eigenart des Kaisertums eine etwas nationalere Färbung; aber
dafür verlor es daheim fast alle Kraft nud Haltung und erwies sich immer
unfähiger, der heillose" moralischen Verwilderung des Adels und der Geistlich¬
keit sowie der zunehmenden körperschaftlichen und kleinstaatlichen Zersetzung des
Reiches entgegenzuwirken. Die Sisvphusanstrengungen des Kaisers nud der
Stände am Eude des Mittelalters, wieder zu größerer Einheit durchzudringen,
hatten in der Einsetzung des Ncichskmnmergerichts und andern wesentlich stän¬
dischen Einrichtungen uur durstige Ergebnisse und kamen vollends nicht uns
vor den neuen großen Hindernissen, die Luther mit seiner Reformation, deren
Notwendigkeit und Heilsamkeit ans höherm Standpunkt gesehen keinem Zweifel
unterliegt, der einheitsstaatlichen Entwicklung unsers Volkes in den Weg legte.
Freilich uicht so sehr Luther selbst, als viel mehr sei" kaiserlicher Gegenspieler
Karl V. Man hat es oft gesagt und sehr wohl glaubhaft gemacht, daß ein
deutscher Herrscher, der der Reformation aufrichtig beigetreten wäre, in dieser
großen Angelegenheit die ganze Ratio" hätte mitreißen nud daraus ähnlich
den Nachbarstaaten zugleich neue und wesentliche Mittel ihrer politischen
Einigung hätte schöpfen können. Statt dessen brach über sie der hundertjährige
Jammer der wildesten Religions- und Bürgerkriege herein, der ihre Kraft auf
allen Lebensgebieteu, in Sprache und Sitte, in wirtschaftlicher und geistiger
Thätigkeit fast erschöpfte. Noch schlimmer war ein andrer Verlust. An allen
Gliedern zerschlagen, dem Hohn und der Mißhandlung des lauernden Aus¬
landes preisgegeben, mußte sie notwendig auch an jener Selbstachtung die
schwerste Einbuße leiden, die immer ein sicheres Kennzeichen gesunder und
blühender Nationen gewesen ist. Sie begnügte sich nicht, von spärlichen Aus¬
nahmefällen abgesehen, die rohen Übergriffe besonders unsrer westlichen Nach¬
barn mit ohnmächtiger Geduld hinzunehmen, ihre kläglichste Zeit war gekommen,
wo sie sich zu ehren meinte, wenn sie mit knechtischer Bewunderung in Politik
und Litteratur wie im täglichen Leben die Sitten und mehr noch die Unsitten
ihrer Dränger nachahmte. Aber ein Rest von gesunder Kraft und gesundem
Selbstgefühl war ihr geblieben. Mußte sie auch ihre Geschichte fast von
vorn anfangen, so wuchsen ihr im weitern Kampf doch neue Schwingen. Es
ist bekannt, welchen Beitrag der brandenburgische Staat zur Rettung des Ganzen
geliefert hat. Wenn der Begriff des Reiches mit 5 dem Schluß des dreißig¬
jährigen Krieges so gut wie allen Inhalt verloren hatte, so war wenigstens
in den Kleinstaaten allmählich verwirklicht worden, was jenem fehlte, ein
straffes monarchisches Regiment, das gestützt-auf stehende nud zuverlässige
Truppen die ständischen Ansprüche mit durchgreifender Rücksichtslosigkeit dem
dynastischen oder in bessern Beispielen dem allgemeinen Interesse opferte. Allen
voran der junge Preußenstaat, den der große Kurfürst zur deutschen nud der
große König zur europäischen Großmacht erhob. Wir können- nun sagen: es
entbrennt innerhalb des Reiches ein ähnlicher Kampf, wie der, der es im


Die geschichtliche Bedeutmig des Sedcmwges

internationale Eigenart des Kaisertums eine etwas nationalere Färbung; aber
dafür verlor es daheim fast alle Kraft nud Haltung und erwies sich immer
unfähiger, der heillose» moralischen Verwilderung des Adels und der Geistlich¬
keit sowie der zunehmenden körperschaftlichen und kleinstaatlichen Zersetzung des
Reiches entgegenzuwirken. Die Sisvphusanstrengungen des Kaisers nud der
Stände am Eude des Mittelalters, wieder zu größerer Einheit durchzudringen,
hatten in der Einsetzung des Ncichskmnmergerichts und andern wesentlich stän¬
dischen Einrichtungen uur durstige Ergebnisse und kamen vollends nicht uns
vor den neuen großen Hindernissen, die Luther mit seiner Reformation, deren
Notwendigkeit und Heilsamkeit ans höherm Standpunkt gesehen keinem Zweifel
unterliegt, der einheitsstaatlichen Entwicklung unsers Volkes in den Weg legte.
Freilich uicht so sehr Luther selbst, als viel mehr sei» kaiserlicher Gegenspieler
Karl V. Man hat es oft gesagt und sehr wohl glaubhaft gemacht, daß ein
deutscher Herrscher, der der Reformation aufrichtig beigetreten wäre, in dieser
großen Angelegenheit die ganze Ratio» hätte mitreißen nud daraus ähnlich
den Nachbarstaaten zugleich neue und wesentliche Mittel ihrer politischen
Einigung hätte schöpfen können. Statt dessen brach über sie der hundertjährige
Jammer der wildesten Religions- und Bürgerkriege herein, der ihre Kraft auf
allen Lebensgebieteu, in Sprache und Sitte, in wirtschaftlicher und geistiger
Thätigkeit fast erschöpfte. Noch schlimmer war ein andrer Verlust. An allen
Gliedern zerschlagen, dem Hohn und der Mißhandlung des lauernden Aus¬
landes preisgegeben, mußte sie notwendig auch an jener Selbstachtung die
schwerste Einbuße leiden, die immer ein sicheres Kennzeichen gesunder und
blühender Nationen gewesen ist. Sie begnügte sich nicht, von spärlichen Aus¬
nahmefällen abgesehen, die rohen Übergriffe besonders unsrer westlichen Nach¬
barn mit ohnmächtiger Geduld hinzunehmen, ihre kläglichste Zeit war gekommen,
wo sie sich zu ehren meinte, wenn sie mit knechtischer Bewunderung in Politik
und Litteratur wie im täglichen Leben die Sitten und mehr noch die Unsitten
ihrer Dränger nachahmte. Aber ein Rest von gesunder Kraft und gesundem
Selbstgefühl war ihr geblieben. Mußte sie auch ihre Geschichte fast von
vorn anfangen, so wuchsen ihr im weitern Kampf doch neue Schwingen. Es
ist bekannt, welchen Beitrag der brandenburgische Staat zur Rettung des Ganzen
geliefert hat. Wenn der Begriff des Reiches mit 5 dem Schluß des dreißig¬
jährigen Krieges so gut wie allen Inhalt verloren hatte, so war wenigstens
in den Kleinstaaten allmählich verwirklicht worden, was jenem fehlte, ein
straffes monarchisches Regiment, das gestützt-auf stehende nud zuverlässige
Truppen die ständischen Ansprüche mit durchgreifender Rücksichtslosigkeit dem
dynastischen oder in bessern Beispielen dem allgemeinen Interesse opferte. Allen
voran der junge Preußenstaat, den der große Kurfürst zur deutschen nud der
große König zur europäischen Großmacht erhob. Wir können- nun sagen: es
entbrennt innerhalb des Reiches ein ähnlicher Kampf, wie der, der es im


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[0275] Die geschichtliche Bedeutmig des Sedcmwges internationale Eigenart des Kaisertums eine etwas nationalere Färbung; aber dafür verlor es daheim fast alle Kraft nud Haltung und erwies sich immer unfähiger, der heillose» moralischen Verwilderung des Adels und der Geistlich¬ keit sowie der zunehmenden körperschaftlichen und kleinstaatlichen Zersetzung des Reiches entgegenzuwirken. Die Sisvphusanstrengungen des Kaisers nud der Stände am Eude des Mittelalters, wieder zu größerer Einheit durchzudringen, hatten in der Einsetzung des Ncichskmnmergerichts und andern wesentlich stän¬ dischen Einrichtungen uur durstige Ergebnisse und kamen vollends nicht uns vor den neuen großen Hindernissen, die Luther mit seiner Reformation, deren Notwendigkeit und Heilsamkeit ans höherm Standpunkt gesehen keinem Zweifel unterliegt, der einheitsstaatlichen Entwicklung unsers Volkes in den Weg legte. Freilich uicht so sehr Luther selbst, als viel mehr sei» kaiserlicher Gegenspieler Karl V. Man hat es oft gesagt und sehr wohl glaubhaft gemacht, daß ein deutscher Herrscher, der der Reformation aufrichtig beigetreten wäre, in dieser großen Angelegenheit die ganze Ratio» hätte mitreißen nud daraus ähnlich den Nachbarstaaten zugleich neue und wesentliche Mittel ihrer politischen Einigung hätte schöpfen können. Statt dessen brach über sie der hundertjährige Jammer der wildesten Religions- und Bürgerkriege herein, der ihre Kraft auf allen Lebensgebieteu, in Sprache und Sitte, in wirtschaftlicher und geistiger Thätigkeit fast erschöpfte. Noch schlimmer war ein andrer Verlust. An allen Gliedern zerschlagen, dem Hohn und der Mißhandlung des lauernden Aus¬ landes preisgegeben, mußte sie notwendig auch an jener Selbstachtung die schwerste Einbuße leiden, die immer ein sicheres Kennzeichen gesunder und blühender Nationen gewesen ist. Sie begnügte sich nicht, von spärlichen Aus¬ nahmefällen abgesehen, die rohen Übergriffe besonders unsrer westlichen Nach¬ barn mit ohnmächtiger Geduld hinzunehmen, ihre kläglichste Zeit war gekommen, wo sie sich zu ehren meinte, wenn sie mit knechtischer Bewunderung in Politik und Litteratur wie im täglichen Leben die Sitten und mehr noch die Unsitten ihrer Dränger nachahmte. Aber ein Rest von gesunder Kraft und gesundem Selbstgefühl war ihr geblieben. Mußte sie auch ihre Geschichte fast von vorn anfangen, so wuchsen ihr im weitern Kampf doch neue Schwingen. Es ist bekannt, welchen Beitrag der brandenburgische Staat zur Rettung des Ganzen geliefert hat. Wenn der Begriff des Reiches mit 5 dem Schluß des dreißig¬ jährigen Krieges so gut wie allen Inhalt verloren hatte, so war wenigstens in den Kleinstaaten allmählich verwirklicht worden, was jenem fehlte, ein straffes monarchisches Regiment, das gestützt-auf stehende nud zuverlässige Truppen die ständischen Ansprüche mit durchgreifender Rücksichtslosigkeit dem dynastischen oder in bessern Beispielen dem allgemeinen Interesse opferte. Allen voran der junge Preußenstaat, den der große Kurfürst zur deutschen nud der große König zur europäischen Großmacht erhob. Wir können- nun sagen: es entbrennt innerhalb des Reiches ein ähnlicher Kampf, wie der, der es im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/275>, abgerufen am 02.07.2024.