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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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dauernden und innigen Gemeinschaft, die in der staatsrechtlichen Schöpfung
des Reiches nur noch zu ihrem äußerlichen Ausdruck und Abschluß gebracht
zu werden brauchte und ahne sonderliche Schwierigkeiten gebracht wurde.

Allem das rechte Verständnis dieses Tages und des Grundes, warum er
als Nationalfest fort und fort gefeiert werden soll, gewinnen wir noch nicht
durch diese einfache und leichte Betrachtung. Giebt er einer großen Entwick¬
lung einen gewissen Abschluß, so müssen wir eben diese selbst, wir müssen seine
Vorgeschichte kennen. Die genauere Auskunft hole man sich aus einem in die
Tiefe dringendem Studium der Geschichte, für das patriotische Bediirfnis genügt
es, die Hauptstatioueu und Richtungen des weiten Weges zu überblicken. Auf
einige sollen die nachfolgenden Ausführungen hindeuten.

Wollen wir die Ausbildung unsers Einheitsstaates hinsichtlich ihrer
Schwierigkeit würdigen, so unterstützt uns darin ein Vergleich mit den ent¬
sprechenden Bildungen andrer Kulturvölker. Und da sehen wir denu, daß es
nur noch zwei große" Völkern der Geschichte ebenso schwer geworden ist, sich
einheitlich zusammenzuschließen, den Griechen und später den Italienern. Die
alten Römer hatten schon um die Mitte des dritte" Jahrhrhnnderts v. Chr.
alle italischen Völkerschaften um sich gesammelt, die Franzosen und Engländer,
die etwa gleichzeitig mit uns die Arbeit ihres politischen Znfannneuschlusfes
begannen, haben schon am Ende des Mittelalters bleibende und durchschlagende
Erfolge in dieser Richtung zu verzeichnen. Wie kommt es, daß wir so weit
dahinten blieben? Die Frage drängt sich umsomehr auf, als wir schon eimual
einen immerhin erfolgreichen Anlauf zu staatlicher Einheit genommen hatten.
Es gehört eben zu unsrer Eigenart, daß wir als Volk gleichsam ein zwiefaches
Leben haben, daß wir, wie Treitschke sagt, so alt sind und so jung zugleich. Kein
Volk der Geschichte hat eine solche doppelte Höhe seines Lebensweges aufzuweisen.
England und Frankreich ebenso wie Rußland zeigen vergleichsweise im großen
und ganzen eine regelmäßig aufsteigende Entwicklnngsbahn. Deutschland dagegen
hat schon geblüht in den Tagen der Ottonen und Staufer, um dann - aus
dem Gesichtspunkt seiner Einheit betrachtet -- plötzlich und für ein halbes
Jahrtausend einem schweren Siechtum zu verfallen, das in den Zeiten des
dreißigjährigen Krieges beinahe in politische Vernichtung anstieß Nun ist ihm
"ach langsamer Erholung in unsern Tagen eine Auferstehung, eine neue Blüte
gegönnt. Wie erklärt sich dieser seltsam gewundne, wechselvolle Gaug?

Als unsre Vorfahren den deutschen Boden betraten, zerfielen sie in eine
große Anzahl kleinerer und größerer Stämme, die in Sprache, Sinn und Sitte
aufs nächste verwandt, doch jedes nachhaltige" politischen Zusammenhanges
entbehrten. Gleichwohl kosten sie die großartige Aufgabe, vor die sie die Vor¬
sehung stellte, nämlich die alte Welt in ihren staatlichen Formen zu zertrümmern
und in ihrem Kulturleben gänzlich umzugestalten, eine Umwälzn "g, der die
Weltgeschichte keine gleiche an räumlicher Ausdehnung und innerer Bedeutung


dauernden und innigen Gemeinschaft, die in der staatsrechtlichen Schöpfung
des Reiches nur noch zu ihrem äußerlichen Ausdruck und Abschluß gebracht
zu werden brauchte und ahne sonderliche Schwierigkeiten gebracht wurde.

Allem das rechte Verständnis dieses Tages und des Grundes, warum er
als Nationalfest fort und fort gefeiert werden soll, gewinnen wir noch nicht
durch diese einfache und leichte Betrachtung. Giebt er einer großen Entwick¬
lung einen gewissen Abschluß, so müssen wir eben diese selbst, wir müssen seine
Vorgeschichte kennen. Die genauere Auskunft hole man sich aus einem in die
Tiefe dringendem Studium der Geschichte, für das patriotische Bediirfnis genügt
es, die Hauptstatioueu und Richtungen des weiten Weges zu überblicken. Auf
einige sollen die nachfolgenden Ausführungen hindeuten.

Wollen wir die Ausbildung unsers Einheitsstaates hinsichtlich ihrer
Schwierigkeit würdigen, so unterstützt uns darin ein Vergleich mit den ent¬
sprechenden Bildungen andrer Kulturvölker. Und da sehen wir denu, daß es
nur noch zwei große« Völkern der Geschichte ebenso schwer geworden ist, sich
einheitlich zusammenzuschließen, den Griechen und später den Italienern. Die
alten Römer hatten schon um die Mitte des dritte» Jahrhrhnnderts v. Chr.
alle italischen Völkerschaften um sich gesammelt, die Franzosen und Engländer,
die etwa gleichzeitig mit uns die Arbeit ihres politischen Znfannneuschlusfes
begannen, haben schon am Ende des Mittelalters bleibende und durchschlagende
Erfolge in dieser Richtung zu verzeichnen. Wie kommt es, daß wir so weit
dahinten blieben? Die Frage drängt sich umsomehr auf, als wir schon eimual
einen immerhin erfolgreichen Anlauf zu staatlicher Einheit genommen hatten.
Es gehört eben zu unsrer Eigenart, daß wir als Volk gleichsam ein zwiefaches
Leben haben, daß wir, wie Treitschke sagt, so alt sind und so jung zugleich. Kein
Volk der Geschichte hat eine solche doppelte Höhe seines Lebensweges aufzuweisen.
England und Frankreich ebenso wie Rußland zeigen vergleichsweise im großen
und ganzen eine regelmäßig aufsteigende Entwicklnngsbahn. Deutschland dagegen
hat schon geblüht in den Tagen der Ottonen und Staufer, um dann - aus
dem Gesichtspunkt seiner Einheit betrachtet — plötzlich und für ein halbes
Jahrtausend einem schweren Siechtum zu verfallen, das in den Zeiten des
dreißigjährigen Krieges beinahe in politische Vernichtung anstieß Nun ist ihm
»ach langsamer Erholung in unsern Tagen eine Auferstehung, eine neue Blüte
gegönnt. Wie erklärt sich dieser seltsam gewundne, wechselvolle Gaug?

Als unsre Vorfahren den deutschen Boden betraten, zerfielen sie in eine
große Anzahl kleinerer und größerer Stämme, die in Sprache, Sinn und Sitte
aufs nächste verwandt, doch jedes nachhaltige» politischen Zusammenhanges
entbehrten. Gleichwohl kosten sie die großartige Aufgabe, vor die sie die Vor¬
sehung stellte, nämlich die alte Welt in ihren staatlichen Formen zu zertrümmern
und in ihrem Kulturleben gänzlich umzugestalten, eine Umwälzn »g, der die
Weltgeschichte keine gleiche an räumlicher Ausdehnung und innerer Bedeutung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/272>, abgerufen am 02.07.2024.