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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

nisse dienstbar zu machen, finden wir in seinein jüngst erschienenen Werke I.s
Lonuvur, ?oöuiö (Paris, A. Lemerre, 1888). Sully-Prildhvmme hat diese
Dichtung dein Romanisten Gaston Paris gewidmet, dem geistvollen Förderer
seiner Muse, der im Gegensatz zu jener Gruppe verbohrter französischer Ge¬
lehrten steht, die, wie z. B, Paul Meyer, jeder ästhetischen und philosophischen
Bildung bar, ihre geistlose Buchstabengelehrsantkeit hinter Anmaßung und
Dünkel zu verbergen suchen.

Wie der Dichter in ki,a ^u"t.ioo. die Gerechtigkeit suchte, so will er in I.e
Lmrlnzur ergründen, ob und wo das Gluck zu finden sei; aber er sagt selbst
in der Einleitung, was er entdeckt habe, sei nur ein Traum, ein stiller Wunsch,
den seiue Phantasie nicht mit vollem Einverständnis der Vernunft erhören
könne; er habe die Augen über viele UnWahrscheinlichkeiten und grausame
Ungewißheiten schließen müsse"; er habe seine Begeisterung zuweilen aus der
Philosophie und Wissenschaft geschöpft, denn die großen Entdeckungen erschienen
ihm so weltbewegend, daß man sie nicht ans dem Gebiete der Dichtkunst aus¬
schließen dürfe, solange die kalten Formeln in die dichterische Sprache um¬
gebildet werdeu könnten.

Der Plan des Gedichts ist in großartigen Zügen entworfen. Faustus
ist uach seinem Tode auf einen andern Weltkörper geführt worden; er erwacht
und staunt über die Herrlichkeit der Natur, die ihn umgiebt, über sein eignes
Aussehen, das er im klaren Wasserspiegel erblickt, über seine Wiedererweckung,
die er nicht zu fassen vermag. Ein Grauen faßt ihn bei dein Gedanken, daß
er vielleicht alles nur träume und in Wirklichkeit im düstern Grabe liege. Er
sieht eine Gestalt auf sich zukommen -- es ist stelln, seine Geliebte, von der
esu nuf der Erde ein Vorurteil der Menschen getrennt hatte. stelln befreit
ihn aus seiner Erstarrung. Warum, sagt sie, soll uur die düstere und kleine
Erde unter allen Weltkörpern den Vorzug haben, ein Gefäß zu tragen, worin
der Gedanke wohnt, worin der Odem zum Glücke lebt? Das Grab schließt
einen Himmel, um einen andern auf einem bessern Gestirn zu öffne". Befreit
von aller rohen Sinnlichkeit, wollen sie nun mit reinen, idealen Empfindungen
die Wunder des neuen Sternes genießen. Sie durchkosten "mit geläuterten
Sinnetl die Zauberwelt des ungetrübten Wohlgeschmacks und Wohlgeruchs
(8u,VMrs et yg,rkuni8). Die Poesie des Duftes hat wohl niemand' schöner be¬
sungen, als es unser Dichter hier thut. Sie ist ihm "Musik ohne Töne."
"Der Duft ist keusch wie die Scham uuter laugen und weichen Augenwimpern,
oder durchdringend, wie die Glut eines tötlichen Blickes, er ist leicht, wie die
aufkeimende Hoffnung jungfräulicher Freundschaft, oder mächtig, wie die Herr¬
schaft einer verhängnisvollen Liebe; er ist warnt, wie der Mund bei glühenden
Seufzern oder frisch, wie reine und furchtsame Lippen bei ihrem Geständnis;
er ist zart wie die Güte der melancholisch liebenden, aufreizend, wie das
ungezügelte Glutvcrlaugen der Bacchantin, quälend wie die Lumme einer gran-


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

nisse dienstbar zu machen, finden wir in seinein jüngst erschienenen Werke I.s
Lonuvur, ?oöuiö (Paris, A. Lemerre, 1888). Sully-Prildhvmme hat diese
Dichtung dein Romanisten Gaston Paris gewidmet, dem geistvollen Förderer
seiner Muse, der im Gegensatz zu jener Gruppe verbohrter französischer Ge¬
lehrten steht, die, wie z. B, Paul Meyer, jeder ästhetischen und philosophischen
Bildung bar, ihre geistlose Buchstabengelehrsantkeit hinter Anmaßung und
Dünkel zu verbergen suchen.

Wie der Dichter in ki,a ^u»t.ioo. die Gerechtigkeit suchte, so will er in I.e
Lmrlnzur ergründen, ob und wo das Gluck zu finden sei; aber er sagt selbst
in der Einleitung, was er entdeckt habe, sei nur ein Traum, ein stiller Wunsch,
den seiue Phantasie nicht mit vollem Einverständnis der Vernunft erhören
könne; er habe die Augen über viele UnWahrscheinlichkeiten und grausame
Ungewißheiten schließen müsse»; er habe seine Begeisterung zuweilen aus der
Philosophie und Wissenschaft geschöpft, denn die großen Entdeckungen erschienen
ihm so weltbewegend, daß man sie nicht ans dem Gebiete der Dichtkunst aus¬
schließen dürfe, solange die kalten Formeln in die dichterische Sprache um¬
gebildet werdeu könnten.

Der Plan des Gedichts ist in großartigen Zügen entworfen. Faustus
ist uach seinem Tode auf einen andern Weltkörper geführt worden; er erwacht
und staunt über die Herrlichkeit der Natur, die ihn umgiebt, über sein eignes
Aussehen, das er im klaren Wasserspiegel erblickt, über seine Wiedererweckung,
die er nicht zu fassen vermag. Ein Grauen faßt ihn bei dein Gedanken, daß
er vielleicht alles nur träume und in Wirklichkeit im düstern Grabe liege. Er
sieht eine Gestalt auf sich zukommen — es ist stelln, seine Geliebte, von der
esu nuf der Erde ein Vorurteil der Menschen getrennt hatte. stelln befreit
ihn aus seiner Erstarrung. Warum, sagt sie, soll uur die düstere und kleine
Erde unter allen Weltkörpern den Vorzug haben, ein Gefäß zu tragen, worin
der Gedanke wohnt, worin der Odem zum Glücke lebt? Das Grab schließt
einen Himmel, um einen andern auf einem bessern Gestirn zu öffne». Befreit
von aller rohen Sinnlichkeit, wollen sie nun mit reinen, idealen Empfindungen
die Wunder des neuen Sternes genießen. Sie durchkosten "mit geläuterten
Sinnetl die Zauberwelt des ungetrübten Wohlgeschmacks und Wohlgeruchs
(8u,VMrs et yg,rkuni8). Die Poesie des Duftes hat wohl niemand' schöner be¬
sungen, als es unser Dichter hier thut. Sie ist ihm „Musik ohne Töne."
„Der Duft ist keusch wie die Scham uuter laugen und weichen Augenwimpern,
oder durchdringend, wie die Glut eines tötlichen Blickes, er ist leicht, wie die
aufkeimende Hoffnung jungfräulicher Freundschaft, oder mächtig, wie die Herr¬
schaft einer verhängnisvollen Liebe; er ist warnt, wie der Mund bei glühenden
Seufzern oder frisch, wie reine und furchtsame Lippen bei ihrem Geständnis;
er ist zart wie die Güte der melancholisch liebenden, aufreizend, wie das
ungezügelte Glutvcrlaugen der Bacchantin, quälend wie die Lumme einer gran-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/27>, abgerufen am 28.06.2024.